Julian Marchlewski
(Karski)

Krieg, Zusammenbruch und Revolution

(1911)


J. Karski: Krieg, Zusammenbruch und Revolution, Agitationsausgabe, Leipzig 1911.
Nach Julian Marchlewski-Karski, Imperialismus oder Sozialismus? Arbeiten über die Entwicklung des Imperialismus und den antimonopolistischen Kampf der Arbeiterklasse 1895 bis 1919, Frankfurt am Main 1978, S. 111–126.
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Einleitung

Mit unheimlicher Deutlichkeit wird es zur Zeit der Welt vor Augen geführt, dass bei den bestehenden Verhältnissen jeden Augenblick die Katastrophe eines europäischen Krieges über uns hereinbrechen kann.

Die kapitalistische Entwicklung hat als letzte Konsequenz den Imperialismus gezeitigt. Es wird den raffgierigen Profitjägern zu eng in der Heimat. Die Profite, die die Kapitalistenklasse den Arbeitern erpresst, häufen sich ins Unendliche, und es entsteht neues Kapital, das „Anlage sucht“. Das heißt: Die Kapitalisten wollen ihre Milliarden dazu verwenden, neue Profite einzuheimsen, indem sie neue Menschenmassen in ihrem Dienste fronen lassen. Zu diesem Zwecke dringen sie in Länder ein, die bisher noch nicht von dem kapitalistischen Getriebe erfasst wurden; dort wollen sie Unternehmungen gründen, wollen Millionen von Afrikanern und Asiaten in das Joch des Kapitals spannen.

So wird der koloniale Länderraub zum „Zeichen der Zeit“.

Aber bei diesem Raube geraten die „nationalen Interessen“ hart aneinander. Die Kapitalisten des einen Landes geraten in Konflikt mit denen anderer Länder. wie die Wölfe am Kadaver des niedergerissenen Tieres fletschen sie die Zähne gegeneinander. So entsteht die Gefahr, dass schließlich die ungeheuren Armeen Europas mit ihren unendlich vervollkommneten Mordwerkzeugen aufeinander geworfen werden, dass Europa zum Schauplatz grässlichen Völkermordes wird.

Eben erst sind wir ja der Gefahr eines Krieges Deutschlands gegen Frankreich und England wegen des niederträchtigen an Marokko begangenen Völkermordes entgangen. Dieser friedliche Ausgang des schmählichen Schachers versetzt aber weite Kreise der deutschen Kapitalistenklasse in grenzenlose Wut. Schäumenden Mundes schmähen sie, dass die Regierung nicht Frankreich den Krieg erklärt hat. Niemand kann uns die Gewähr bieten, dass nicht morgen auch in den Kreisen der Regierung die Stimmung umschlägt und die Raserei jener Tobsüchtigen bei der nächsten Gelegenheit die Katastrophe herbeiführt.

Der fluchwürdige Raubzug Italiens gegen die Türkei schwört die Gefahr herauf, dass neue internationale Konflikte entstehen, In China wird unter furchtbaren revolutionären Zuckungen eine neue Welt geboren, und niemand kann absehen, ob nicht auch hier die europäischen Raubstaaten sich über das Land stürzen und schließlich dabei einander an die Gurgel springen.

Was aber bedeutet ein europäischer Krieg unter den heutigen Verhältnissen?

Diese Frage aufwerfen heißt Bilder von entsetzlicher Zerstörung, von Massenmord, von Barbarei hervorrufen, bei denen das Blut in den Adern erstarrt.

Indessen soll es nicht unsere Aufgabe sein, diese Gräuel auszumalen, vielmehr beschränken wir uns darauf, auf vorliegenden Seiten die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines Krieges in Europa unter den bestehenden Verhältnissen zu erörtern.
 

Die Störung des wirtschaftlichen Lebens durch die Mobilmachung

Bekannt ist, dass bei einem Kriege in Europa die Staaten Heere von nie dagewesener Stärke mobil machen würden. Die genauen Zahlen über die Armeen auf Kriegsfuß werden geheim gehalten, wir sind also auf Schätzungen angewiesen. Diese lauten sehr verschieden, doch kommt man wohl der Wirklichkeit nahe, wenn man annimmt, dass Deutschland an 4 Millionen Soldaten aufbringen würde, ungerechnet den Landsturm und die Ersatzreserven. Die so genannte „Feldarmee“, die sofort dem Feinde entgegen geworfen werden soll, wird auf annähernd 2 Millionen Mann geschätzt. Sie besteht aus dem stehenden Heere, das zur Zeit über 600.000 Mann beträgt, und den Reserven. die bei der Mobilmachungsorder sofort einzurücken haben. Das bedeutet also, dass im Kriegsfalle sofort 1½ Millionen Menschen ihrem bürgerlichen Berufe entzogen werden und weitere 2 Millionen gleichfalls in kurzer Frist.

Nun zählt die gesamte männliche Zivilbevölkerung Deutschlands im Alter von 21 bis 50 Jahren noch keine 9 Millionen, davon sind noch abzuziehen die Arbeitsunfähigen (Krüppel, Blinde, Schwachsinnige, Strafgefangene usw.). Somit würde über ein Drittel der arbeitsfähigen erwachsenen Männer im Kriegsfalle der Erwerbstätigkeit entzogen.

Das aber bedeutet die sofortige Lahmlegung zahlreicher Produktionsstätten.

Das geschah in früheren Kriegen auch, wird man einwenden. Gewiss. nur hat es heute eine ganz andere Bedeutung. Die primitive Bauernwirtschaft wird gewiss geschädigt, wenn nur Greise, Frauen und Kinder auf dem Hofe bleiben, aber sie wird trotzdem nicht zum Stillstand gebracht: auch ein Handwerksbetrieb oder eine kleine Fabrik kann zur Not mit der Hälfte der Arbeiter weitergeführt werden. Was aber würde mit den modernen Großbetrieben geschehen? Sie sind aufgebaut auf ein kunstvolles System der Arbeitsteilung und der Kooperationen. Es müssen hier die Arbeiter einander „in die Hand arbeiten“, erfolgt eine Stockung an einer Stelle, so gerät der ganze Betrieb außer Rand und Band. Man denke sich doch einmal eine moderne Maschinenfabrik ein Stahlwerk, eine Spinnerei, eine Druckerei, denen auf einen Schlag die wichtigsten Arbeitskräfte, die Ingenieure, Techniker. Vorarbeiter, Monteure, Heizer, viele unersetzliche Qualitätsarbeiter entzogen werden! Es ist klar, dass diese Betriebe auf der Stelle aufhören müssen zu produzieren. Hier würde es eben nicht angehen, den Betrieb zu reduzieren, sondern es würde dieser Betrieb gänzlich eingestellt werden müssen. Das würde aber sofort weiter wirken. Muss z. B. eine Spinnerei plötzlich stillgelegt werden, so werden auch eine Anzahl Webereien, die ihr Garn aus dieser Spinnerei beziehen, ihren Betrieb einstellen, selbst wenn sie in der Lage wären, mit Frauen und Kindern und einem stark reduzierten Stabe von Männern weiterzuarbeiten. Es ist daher keine Übertreibung, wenn wir sagen: schon die Mobilmachung allein würde heute Tausende von Industriebetrieben in wenigen Tagen lahm legen.

Die unausbleibliche Folge ist, dass Millionen von Familien brotlos werden, nicht nur, weil ihnen die Ernährer genommen werden, sondern auch, weil die Produktion stockt, weil die Löhne ausfallen.

Aber die Mobilmachung würde auch den gesamten Eisenbahnverkehr lahm legen. Die Feldarmee soll auf den Kriegsschauplatz. Das sind an 2 Millionen Mann, nahezu eine halbe Million Pferde, 4.200 Geschütze, dazu der Train mit seinen Tausenden von Gepäckwagen, die Munition, die Kriegsgeräte, die Fourage. Aber gleichzeitig müssen die Reservisten zu ihren Regimentern, und bei der heutigen Lage, bei der die Menschen so nett durcheinander gewürfelt sind, haben diese Reservisten zum großen Teil ihren Wohnsitz recht weit von ihren Regimentern. Es würden z. B. aus Berlin die meisten Reservisten nach Ost- und Westpreußen eilen müssen, weil die Berliner gewöhnlich dort dienen, aber Tausende von Sachsen, Bayern, Württembergern, Rheinländern die erst später nach Berlin zogen, würden wieder ihre Regimenter in anderen Gegenden aufsuchen müssen.

Man sagt uns, dass alles für die Mobilmachung geregelt sei, dass sie sich wie am Schnürchen vollziehen muss. Sehr schön. Aber es ist klar, dass, wenn das gesamte Eisenbahnnetz in den Dienst der Armee gestellt wird, um diese Millionen Menschen, die Pferde, Geschütze und sonstiges Kriegsmaterial zu befördern, offenbar der gesamte Güterverkehr auf den Bahnen ins Stocken geraten muss. Die Aufschrift an den Waggons: „40 Mann – 6 Pferde“, hört dann auf, eine bloße Dekoration zu sein, die Waggons fehlen dann halt für andere Zwecke. und soweit sie frei oder mit Gütern beladen sind, bleiben sie irgendwo stecken, denn die Lokomotiven befördern Militärzüge, die Gleise müssen für die Züge freigehalten werden.

Das aber hätte zur Folge: die Großstädte können nicht verproviantiert werden!

Auch das war Anno dazumal anders. Wohl stockte der Eisenbahnverkehr, als die Armee 1870 nach Frankreich geworfen wurde, aber es genügte für die Städte, wenn auf den Chausseen die Wagen mit Lebensmitteln hereinkamen. Heute aber – versuche man doch einmal, die Milchtransporte, die Viehtransporte, die Transporte für die Markthallen, mit denen Berlin versorgt wird, aufzuhalten. Sie müssen aber aufgehalten werden; es ist ganz unmöglich, dass dieser Verkehr sich glatt vollzieht. Und noch mehr werden die Transporte an Kohlen, an Rohstoffen ins Stocken kommen. Es bedeutet daher die Mobilmachung allein einen sofortigen Mangel an Lebensmitteln, an Brennmaterial, an Rohstoffen.

Das würde nur wenige Tage dauern, meint man vielleicht, weil ja die Mobilmachung sofort beendet sein soll. Schon richtig, aber diese wenigen Tage würden vollkommen genügen, um in den Großstädten geradezu grauenhafte Zustände entstehen zu lassen.
 

Der internationale Warenaustausch und der Krieg

Die unmittelbare Folge eines Krieges wäre ein enormes Steigen der Lebensmittelpreise.

Man beachte, dass sämtliche westeuropäischen Staaten heute auf die Zufuhr von Lebensmitteln angewiesen sind und dass der auswärtige Handel im Kriegsfall unter allen Umständen der schwersten Erschütterung ausgesetzt ist.

Die braven Leutchen, die zwar den Krieg nicht abschaffen, aber „reformieren“ wollen, vertrösten uns auf das Völkerrecht: man muss – so sagen sie – das Völkerrecht dahin ausbauen, dass im Kriegsfalle der Handel möglichst wenig gestört, dass der Begriff der Kriegskonterbande aufs Notwendigste eingeschränkt wird. Das sind Narreteien. Wir erleben es ja, wie das viel gelobte Völkerrecht jetzt wieder von den Italienern mit Füßen getreten wird. Wir sehen, dass wehrlose Küstenstädte bombardiert werden. Wir sehen, dass die Schifffahrt im Schwarzen Meer ins Stocken gerät. weil die Schiffer befürchten müssen, dass die Schiffe mit Getreide, trotzdem sie unter neutraler Flagge segeln, gekapert werden, oder dass sie auf Minen, die die Türken legen, stoßen könnten.

Nein: wir müssen damit rechnen, dass im Krieg unter allen Umständen die Kriegführenden alle nur denkbaren Mittel anwenden, um den Gegner zu vernichten, dass alle schön paragraphierten Gesetze des Völkerrechts sich als Makulatur erweisen. Auf jeden Fall aber würde die Kriegführung auch darin bestehen, dem Gegner die Zufuhr von Lebensmitteln nach Möglichkeit zu unterbinden.

Halten wir uns dies vor Augen und fragen wir, welche Folgen hieraus für Deutschland entstehen.

Deutschland ist heute unter allen Umständen darauf angewiesen, einen bedeutenden Bedarf seiner Lebensmittel durch Einfuhr aus fremden Ländern zu decken. Die Einfuhr an Lebensmitteln und Vieh übersteigt die Ausfuhr dem Werte nach um rund 1.723 Millionen Mark, Deutschland verbraucht rund 6 Millionen Tonnen Weizen, wovon es 2½ Millionen einführen muss; 6 Millionen Tonnen Gerste, wovon die Hälfte eingeführt wird, ½ Million Tonnen Mais, die ganz aus der Einfuhr gedeckt wird. An Roggen übersteigt die Ausfuhr in den letzten Jahren die Einfuhr, bei Hafer halten sich Einfuhr und Ausfuhr die Waage. Es kommt hinzu, dass infolge des famosen Systems der Ausfuhrprämien in Deutschland niemals Vorräte von Belang lagern. Fällt der Beginn des Krieges in die Zeit gleich nach der Ernte, so wäre nur das ungedroschene Getreide im Lande; ein paar Wochen später ist es zum erheblichen Teil ausgeführt und die Bevölkerung lebt von der Zufuhr fremden Getreides. Die lagernden Vorräte würden nicht für einen Monat zur Ernährung von Menschen und Vieh ausreichen.

An anderen Lebensmitteln wurden 1910 eingeführt: 421.000 Doppelzentner Butter, 1.509.000 Doppelzentner Eier, 86.000 Doppelzentner geschlachtetes Federvieh, über 8 Millionen Stück Gänse. 1½ Millionen Doppelzentner Fische, außer den 1¼ Millionen Fass Heringen, über 200.000 Doppelzentner frisches Fleisch, rund 225.000 Stück Rindvieh und 102.000 Stück Schweine. Der Jahresverbrauch von Kaffee wird auf 1,6 Millionen Doppelzentner berechnet, der Verbrauch an Reis auf 1,7 Millionen Doppelzentner, an Gewürzen auf 1 Million, an Südfrüchten auf 3½ Millionen. an Kakao auf 414.000 Doppelzentner.

Außer den Lebensmitteln kommen in Betracht die enormen Mengen von Rohstoffen, die die Industrie aus dem Auslande beziehen muss: Baumwolle, Wolle, Flachs, Hanf, Jute, Häute, Metalle (Blei, Kupfer, Zinn werden im Inlande nur in geringen Mengen gewonnen), Erze, Tabak, Petroleum, Kautschuk.

Wie steht es nun mit dieser Zufuhr im Kriegsfalle? Zum weitaus größten Teile geschieht die Einfuhr zur See, dieser Weg aber ist im Kriegsfall aufs äußerste gefährdet. Die deutschen Häfen können blockiert werden. Allerdings müsste vorher die deutsche Kriegsflotte vernichtet werden. Indessen auch ohne Blockade droht Gefahr: Die feindlichen Kriegsschiffe werden Jagd auf die Handelsschiffe machen, sie vernichten, wo irgend sie können. Dabei genügt das kleinste Torpedoboot, um eine ganze Flottille von wehrlosen Handelsschiffen in den Grund zu bohren. Schutz dagegen gibt es aber nicht. In England hat man sich vielfach den Kopf zerbrochen über die Frage, ob wohl der Schutz des Seehandels möglich sei, Man kam zu dem Resultat, dass es kein Mittel hierfür gibt. Weder kann man Handelsschiffe durch Kriegsschiffe eskortieren lassen, noch ist es möglich, auf den Hauptrouten der Schifffahrt Kriegsschiffe zu postieren. Im ersten Falle wären die Eskorteschiffe nicht in der Lage, einen viel schwächeren Gegner abzuwehren, weil sie durch die Handelsschiffe in ihren Bewegungen gehindert wären, im zweiten Falle würden die Kräfte verzettelt, es würde die Gefahr eines Überfalles durch einen überlegenen Gegner zu groß. Deshalb sind die englischen Fachleute zu dem Schlusse gekommen: im Kriegsfalle besteht die einzige Rettung darin, dass die Handelsschiffe unter Abweichung von den normalen Routen sich durch zu stehlen suchen. um in die Häfen zu gelangen, denn immerhin sei ja eine Jagd auf dem Ozean recht schwierig.

Man muss daher sagen: die Verproviantierung Deutschlands aus überseeischen Ländern wäre im Kriegsfalle fast unmöglich. Es würden vielleicht tollkühne Kapitäne versuchen, Hamburg zu erreichen; es kann die Zufuhr über die belgischen und holländischen Häfen erfolgen; man kann schließlich Weizen oder Baumwolle selbst über italienische Häfen beziehen, aber es fragt sich – zu welchen Kosten? Der kühne Seefahrer, der sich nach Hamburg durchschlägt. wird eine Risikorechnung aufstellen, die sich gewaschen hat, der Transport über fremde Häfen würde nicht minder teuer zu stehen kommen, und die Eisenbahnfracht würde die Ware noch weiter verteuern.

Soweit die Landgrenzen offen bleiben, würden die Lieferanten sich natürlich auch nicht blöde zeigen und Preise diktieren nach ihrem Belieben.

Soweit die Grenze offen bleibt, sagen wir. Es ist aber leicht möglich, dass z. B. für das wichtigste Produkt. für Getreide, der wichtigste Lieferant, Russland, im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich die Grenze unter irgendeinem Vorwande sperrt. Die Grenze des verbündeten Österreich würde freilich offen bleiben. Aber Österreich hat heute bereits aufgehört, ein Exportland für Lebensmittel zu sein; es könnte sich also nur um die Zufuhr von Getreide aus den Balkanländern im Transitverkehr über Österreich handeln. Doch selbst wenn diese Wege offen bleiben. so würde doch Getreide. das per Eisenbahn aus dem Innern Russlands, aus Ungarn oder den Balkanländern herbeigeschafft werden muss, unerschwinglich teuer werden. Es kostet z. B. die Fracht einer Tonne Roggen von Odessa nach Hamburg zur See annähernd 10 Mark, und von Hamburg nach Berlin etwa 2½ Mark auf dem Wasserwege. Würde das Getreide per Bahn aus dem Innern Russlands nach Berlin befördert. so wären die Kosten unerschwinglich.

Deshalb ist todsicher: Im Kriegsfall ist die Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln aufs äußerste gefährdet. Auf alle Fälle würden die Preise der Lebensmittel ins Ungeheuerliche steigen.

Die Industrie wird, wie wir gesehen, schon durch die Einberufung der wehrpflichtigen Männer zu den Waffen aufs schwerste geschädigt. Nach Ausbruch des Krieges droht ihr der Mangel an Rohstoffen. Man mag über die Möglichkeit der Zufuhr streiten, aber darüber kann kein Zweifel bestehen, dass, wenn sie überhaupt möglich wird, dies ganz unerschwingliche Kosten verursacht. Es ist deshalb gänzlich ausgeschlossen, dass die Industriebetriebe die auf diese Zufuhr angewiesen sind, weiterarbeiten könnten, selbst wenn sie über den Mangel an Arbeitskräften hinwegkommen.

Doch damit nicht genug: Die Industrie Deutschlands, wie eines jeden kapitalistischen Staates, ist heute auf den Export angewiesen. Dieser Export aber würde gleichfalls unterbunden. Das aber bedeutet folgendes: Im Jahre 1910 führte Deutschland Fabrikate im Werte von 4.795 Millionen Mark aus. Mit diesen Waren werden die eingeführten Rohstoffe und Lebensmittel bezahlt. Unterbleibt die Ausfuhr, so kann auch die fremde Ware nicht bezahlt werden.

Nun könnte man einwenden: Wenn die Dinge so liegen, dass im Kriege der Außenhandel Deutschlands gefährdet ist, so wird man sich zu helfen wissen, indem man die Produktion für den Export fallen lässt und die Produktion für den Eigenbedarf forciert, Das scheint auf den ersten Blick plausibel. Die Industrie kann die Menschen nicht beschäftigen, dagegen fehlt es dringend an Lebensmitteln, folglich führt man der Landwirtschaft Arbeitskräfte zu und verzichtet auf den Außenhandel.

In Wirklichkeit setzt indessen diese einfache Lösung nicht mehr und nicht weniger voraus, als die gänzliche Aufhebung des Privateigentums, die soziale Revolution. Nehmen wir an, es wäre möglich, dass ein Volk vorübergehend auf alle jene Produkte verzichtet, die es nicht in der eigenen Wirtschaft erzeugen kann (auf längere Zeit ginge es in Deutschland ohne die vorher erwähnten Rohstoffe überhaupt nicht, weil ohne die Zufuhr von Baumwolle und Wolle keine Kleidung vorhanden ist). Notwendig wäre dann eine Verteilung der verfügbaren Rohstoffe, Maschinen und Menschen zum Zwecke der Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse nach einem bestimmten Plane. Die Voraussetzung für eine solche Wirtschaft wäre also vor allem die Konfiskation des Bodens, die Proklamierung des Nationaleigentums am Boden. Die weitere Voraussetzung wäre, dass die Menschen, die auf diesem Boden Nahrungsmittel erzeugen, auch ihren Unterhalt finden Das gleiche gilt für die Gruben und die Fabriken. Kurz, wir hätten dann die sozialistische Wirtschaft. Solange dagegen die Eigentümer über den Boden und die Produktionsmittel verfügen, ist eine solche auf den Eigenbedarf eines Volkes berechnete Wirtschaft überhaupt undenkbar.

Vorläufig aber haben wir es mit der Tatsache des Privateigentums und der Geldwirtschaft zu tun. Die letzte aber würde im Kriegsfall außer Rand und Band gebracht, und das ist ein Faktor, der besondere Beachtung verdient.
 

Geld- und Kreditwirtschaft im Kriege

Geld regiert die Welt. Trotzdem hat scheinbar die kapitalistische Welt die Rolle des baren Geldes fast entbehrlich gemacht. Der Großhandel ist heute Kredithandel, das Geld wird durch Kreditpapiere ersetzt. Nun ist Kredit Sache des Vertrauens. Der Warenverkäufer nimmt Wechsel in Zahlung, weil er das Vertrauen hat, der Käufer werde zahlen, wenn der Wechsel fällig wird. Dieses Vertrauen ist nebenbei darauf gegründet, dass der Staat dem Wechselschuldner rigoros auf die Bude rückt: Wird nicht gezahlt, erscheint sofort der Exekutor. Aber – wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren! Kann der Schuldner nicht zahlen, hat er nichts, dann kann nichts exekutiert werden. Und, wenn „die Zeiten unruhig werden“, dann besteht eben die Gefahr, dass die Schuldner ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. In solchen Zeiten wird den kapitalistischen Unternehmern der Marxsche Satz recht klar: „Geld ist Dreck, aber Dreck ist kein Geld.“ Jetzt haben sie kein Vertrauen, jetzt wollen sie Geld, bares, klingendes Goldgeld. Deshalb geht der ganze ingeniöse Kreditapparat kaputt. Mit dem vorhandenen Gold sind keine großen Sprünge zu machen. Vertrauen ist nicht mehr da, das Papier, die Kreditmittel gelten nicht.

Auf den Kredit ist aber auch die Wirtschaft des Staates basiert. Das Deutsche Reich, die Bundesstaaten und die Gemeinden haben eine Schuldenlast von 24 Milliarden Mark. Die Schuldverschreibungen sind in Händen privater Kapitalisten. Diese Leute bleiben ruhig, solange sie wissen, dass die Zinsen prompt gezahlt werden, dass am Fälligkeitstermin bei Vorzeigung der Zinscoupons die betreffenden Kassen sofort bares Geld auszahlen. Außerdem sind diese Schuldverschreibungen selbst so gut wie bares Geld, jedermann nimmt sie in Zahlung. Wie aber, wenn das Vertrauen schwindet, wenn man sieht, der Staat kann nicht zahlen, weil er seine Einnahmen zum Kriegführen braucht? Dann werden die Schuldverschreibungen zu wertlosem Papier, die Staatsgläubiger sind ruiniert.

Dass aber der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann während des Krieges, ist vollständig klar. Der Marschall Montecuculi behält recht: zum Kriegführen gehören auch heute drei Dinge – Geld, Geld und nochmals Geld. Bares Geld ist nicht vorhanden, denn die 120 Millionen Mark Kriegsschatz, die das Reich im Juliusturm liegen hat, reichen kaum für ein paar Tage. Es muss aber die Armee ernährt werden, es muss, auf Teufel heraus, Kriegsmaterial aller Art produziert werden, Waffen, Geschosse, Kleidung, Stiefel für die Soldaten usw. Das kostet Geld, enormes Geld. Dutzende von Millionen pro Tag. Die Strategen werden bemüht sein, auch heute den Landsknechtssatz zur Geltung zu bringen, wonach der Krieg den Krieg ernähren muss. Sie hoffen, die Armee in Feindesland zu werfen; dort wird diese Armee auf Kosten des Landes leben. Zwar gilt heute nicht mehr der Raub am Privatgut der Bevölkerung des feindlichen Landes, es soll bezahlt werden, was für die Armee requiriert wird. Aber es gilt als erlaubt, nicht bar zu zahlen, sondern mit Zahlungsanweisungen, die später einmal beglichen werden; folglich kann man im Feindesland die Armee auf Pump ernähren. Indessen entscheidet das die Lage nicht. Eine Armee von Millionen Soldaten frisst eine besetzte Provinz in wenigen Tagen kahl. Wo nichts ist, hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Korporal der Fouragierungskompanie das Recht verloren. Es muss also doch im Wesentlichen die Armee durch Zufuhren aus der Heimat versorgt werden, und die Regierung muss schließlich doch die eigene Bevölkerung zwingen, die Bedarfsartikel für die Armee auf Pump zu liefern. Das Zauberwort, das den Regierungen die wirtschaftliche Möglichkeit geben soll, lautet also abermals: Kredit.

Die einfachste Form des Kredits für den Staat ist die Anleihe, und wir sehen denn auch bei den modernen Kriegen, dass die Kosten durch Anleihen bestritten wurden. Der Krieg gegen Transvaal kostete England 4.000 Millionen Mark. Davon wurde ein Teil durch Steuern aufgebracht.

1.200 Millionen mussten durch eine Anleihe gedeckt werden. Der Russisch-Japanische Krieg verursachte für Russland Ausgaben von rund 4.000 Millionen Mark, für Japan 2.850 Millionen Mark, und in beiden Ländern mussten diese Summen fast ganz durch Anleihen aufgebracht werden. England konnte seine Kriegsanleihe im Inlande decken, da der Lauf der kapitalistischen Wirtschaft während des Krieges im fernen Afrika überhaupt nicht gestört wurde; Russland musste die Anleihe im Auslande aufnehmen und bekam sie nur, weil die französischen Kapitalisten wussten, dass unfehlbar der Staatsbankrott eintreten muss, wenn sie nicht von neuem Geld hergeben: sie bewilligten neue Anleihen, um nicht das früher ausgeliehene Geld zu verlieren. Natürlich ließen sie sich dafür Wucherzinsen zahlen, Ob aber in einem europäischen Kriege Anleihen der kriegführenden Staaten möglich wären, scheint mehr als zweifelhaft.

Nehmen wir Deutschland in der Situation, in die es der Marokkorummel zu stürzen drohte: Krieg gegen Frankreich und England. Dass bei der Katastrophe, die über die kapitalistische Wirtschaft hereinbrechen muss, keine Anleihe im Inlande aufzubringen wäre, ist klar. Wir sahen in den Tagen, wo die Kriegsgefahr besonders drohend schien, an der Börse die Tendenz zum Verkauf der Schuldscheine des Reiches, wir sahen die kleinen Sparer die Kassen stürmen, als die Kriegsgefahr nur als eine Möglichkeit erschien. Das beweist, dass die großen und kleinen Kapitalisten nicht gesonnen waren, ihr Bargeld der Regierung anzuvertrauen, sondern dass sie im Gegenteil bestrebt waren, Papiere los zu werden. Gold in die Hände zu bekommen. Bei tatsächlichem Ausbruch des Krieges würde das in noch viel höherem Maße stattfinden, Wer Gold in Händen hat, würde es unter keinen Umständen dem Staate herleihen, dessen Zahlungsfähigkeit durchaus gefährdet ist. Auswärtige Anleihen aber wären gleichfalls unmöglich. In den feindlichen Staaten ist natürlich nichts zu holen, die Verbündeten brauchen selbst Anleihen, die neutralen Staaten würden rüsten für alle Fälle und brauchten also auch Anleihen, Ja, es würden wahrscheinlich die Kriegführenden erklären: wer unserem Gegner Geld leiht, begeht gegen uns einen „unfreundlichen Akt". Es würden also z. B. die Regierungen von Belgien, Holland, der skandinavischen Staaten ihren Banken untersagen, Anleihen der Kriegführenden zu emittieren. Bliebe vielleicht Amerika.

Aber abgesehen davon, dass es recht fraglich ist, ob die amerikanischen Kapitalisten Lust hätten, ihr Spiel auf das Kriegsglück der deutschen Armee zu setzen, würde die Anleihe doch nur Zweck haben, wenn die deutsche Regierung bares Gold in die Hände bekäme. Der Transport dieses Goldes zu Schiff aber wäre eine ganz unmögliche Sache, weil auf ein solches Goldschiff alsbald die Hetzjagd der Kriegsschiffe beginnen würde.

Sind also Anleihen unmöglich, dann bleibt nur eine Möglichkeit: Papiergeld mit Zwangskurs. Es würde die Regierung Papiergeld herausgeben, die Reichsbank würde ermächtigt, die Barzahlungen einzustellen, d. h. gegen Vorweisung von Banknoten kein Gold mehr auszuzahlen, wozu sie jetzt verpflichtet ist. Das Mittel ist nicht neu. Es wurde unter anderem auch in Preußen 1866 und 1870 angewendet und bewährte sich. Aber hier blieb eben das Vertrauen bestehen. Die ersten Siege der Armee erzeugten die Zuversicht, dass der Krieg den Staat nicht ruinieren werde. Daher fiel zwar der Kurs dieses Papiergeldes, man musste zeitweise für einen Taler Silbergeld ⅕ Taler Papiergeld hergeben, aber man rechnete darauf, dass schließlich normale Zustände eintreten, das Papiergeld vollgültig in Metallgeld eingelöst werden würde. So schnelle Siege sind aber heute nach Ansicht der Fachleute so gut wie ausgeschlossen, ein europäischer Krieg wird ein langes verzweifeltes Ringen werden. Bei der Ungewissheit muss aber das Vertrauen schwinden, und was dann eintritt, das lehrt uns die Geschichte der Assignaten während der Französischen Revolution, Die revolutionäre Regierung hatte Papiergeld herausgegeben: als aber die Kriege gegen die Koalition der Monarchien begannen, das Vertrauen schwand, da wurden die Assignaten derart entwertet, dass man für ein Paar Stiefel im Preise von 10 Franc Silbergeld 300 Franc und mehr in Assignaten zahlen musste. Dabei waren diese Assignaten immerhin ein Papiergeld mit Sicherstellung, denn den Inhabern dieses Papieres waren die konfiszierten Landgüter des Adels und der Kirche verpfändet. Heute aber ist das Staatseigentum längst verpfändet (Eisenbahnobligationen usw.), das Papiergeld würde keine Sicherstellung haben.

Es ist daher sicher zu erwarten, dass, wenn dieser einzige Ausweg eingeschlagen wird, das Papiergeld mit Zwangskurs zu einem heillosen Wirrwarr in den wirtschaftlichen Verhältnissen führen muss.
 

Folgen der Störung des Geldumlaufes

Die Einführung von Papiergeld mit Zwangskurs und die Sistierung der Barzahlungen der Reichsbank würde bewirken, dass nun das Bargeld ein rarer Artikel wird. Was an Goldreserven in den Kassen der Reichsbank vorhanden ist, würde gesperrt. Das ist rund eine Milliarde. Auch die Privatbanken würden suchen, ihr Metallgeld zu behalten als Sicherstellung, Es würde aber trotzdem das Publikum keineswegs durch das Lagern von Gold größeres Vertrauen zu dem Papiergelde gewinnen, weil eben volle Deckung nicht vorhanden ist, Um so mehr würden die Privaten, die im Besitz größerer Barsummen sind, ihr Gold einsperren „für alle Fälle“. Es würde somit das Goldgeld fast ganz aus dem Verkehr schwinden. Das Papiergeld aber wäre entwertet im Verhältnis zum Goldgeld, und das würde zu einer Preisrevolution führen.

Wenn eine Ware 10 Mark in Gold kostet, so würden, sobald der Kurs des Papiergeldes auf die Hälfte gefallen ist, für diese Ware fortan 20 Mark in Papiergeld gefordert werden Scheinbar hätte das nur eine nebensächliche Bedeutung, weil nur die nominellen Preise sich ändern, Wenn jede Ware doppelt soviel kostet wie früher, so bleibt im Grunde alles beim alten. Es werden nach wie vor Waren gegen Waren getauscht, für einen Zentner Weizen bekommt man ein Paar Stiefel. Dass in Geld ausgedrückt sowohl der Weizen als die Stiefel doppelt hohe Preise haben, bedeutet nicht viel.

Aber es tritt noch etwas anderes ein. Es werden nämlich auch die Schuldverschreibungen entwertet. Zum Beispiel: Ein Fabrikant hat 100.000 Mark „Außenstände“, man schuldet ihm diese Summe; wird nun das Geld zur Hälfte entwertet, so erhält er, selbst wenn seine Schuldner prompt zahlen, wohl 100.000 Mark, aber diese Summe hat jetzt nur die halbe Kaufkraft, Nehmen wir an, es sei ein Stiefelfabrikant und die Forderungen, die er an seine Gläubiger hat, erstanden aus Lieferung von Schuhwaren. Diese Summe enthält also den Wert des Leders, aus dem die Schuhwaren hergestellt waren, die Produktionskosten und den Profit. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen, das Papiergeld eingeführt: unser Fabrikant hat Glück, seine Schuldner zahlen, und er hat 100.000 Mark in Papier. Will er aber jetzt Leder kaufen, so erhält er für diese Summe nur halb soviel Leder als früher. Resultat: für seine verkauften Schuhwaren hat er jetzt weniger Leder als in diesen Schuhwaren enthalten war. Allerdings hat er nicht nur Forderungen sondern auch Schulden, und genau wie seine Gläubiger ihn mit entwertetem Papiergeld bezahlen, zahlt er seinen Schuldnern solches Geld. Es wird darauf ankommen, ob er mehr Forderungen oder mehr Schulden hat, je nachdem wird er bei dieser Umwälzung profitieren oder verlieren.

Nehmen wir die Gesamtheit der Kapitalisten, so zeigt sich, dass im Allgemeinen die Produzenten – Fabrikanten, Grubenbesitzer, Landwirte mehr Schulden als Guthaben besitzen. Denn alle diese Produzenten haben Kapital in Form von Boden und Produktionsmitteln, aber es lasten auf dem Boden und den Gebäuden Hypothekenschulden, das Betriebskapital ist zu einem großen Teil geliehen. Die größten Verluste bei der Entwertung des Geldes und damit der bestehenden Schuldverschreibungen würden also jene Kapitalisten erleiden, die Geld ausleihen, die Vertreter des Finanzkapitals. Das scheint auf den ersten Blick ein günstiger Umstand, denn es erscheinen ja diese Geldkapitalisten nicht mit Unrecht als Drohnen, die produzierenden Kapitalisten als der nützliche Teil. Nur haben jene Drohnen die Macht. Auf Grund ihrer Forderungen haben sie die Schuldner in der Hand und können die Hand auf den Boden, die Gebäude, die Produktionsmittel legen. Statt entwertetes Papiergeld ziehen sie es jetzt vor, Dinge zu besitzen, für die das Geld nur eine Ausdrucksform ist, Die Hypothekengläubiger sagen also: Her mit den verpfändeten Objekten, wir sind Besitzer.

Auch dagegen gibt es freilich ein Mittel: Es kann ein Moratorium eingeführt werden, das heißt, es wird die Exekution, die Eintreibung der Schulden aufgeschoben, es werden die Gläubiger gezwungen, zu warten. Damit wäre gewonnen, dass die produzierenden Unternehmer nicht sofort ans Messer geliefert werden. Aber es hätte auch zur Folge, dass neuer Kredit überhaupt nicht mehr zu haben wäre. Die Eigner des Leihkapitals wären zum Teil ruiniert, und die übrigen würden sich hüten, unter diesen Verhältnissen Kapital auszuleihen, Wie aber bei den heutigen Verhältnissen der Produktionsprozess und Warenumsatz bewerkstelligt werden soll, wenn auf einmal die Möglichkeit, Leihkapital zur Verfügung zu haben, schwindet oder doch auf ein Minimum reduziert wird, bleibt ein Rätsel. Oder vielmehr: es ist sehr einfach, die Sache geht nicht.

Zu bemerken ist dabei, dass gerade der verehrliche Mittelstand ganz besonders unter die Räder kommen würde. Da sind z. B. die Rentner, die viele Milliarden in Staatsanleihen angelegt haben, Ihrer harrt folgendes: Der Wert ihres Besitzes wird reduziert durch den Kurssturz und durch die verminderte Kaufkraft des Geldes. Der Kurs der dreiprozentigen Schuldverschreibungen des Reiches ist heute 82½ für 100. Wer also solche Schuldverschreibungen im Nominalwerte von 100.000 Mark besitzt, verfügt in Wirklichkeit über 82.500 Mark. Fällt aber der Kurs auf 40 für 100, was bei einem langwierigen Kriege leicht eintreten kann, so verfügt er nur noch über 40.000 Mark. Ist aber infolge der Einführung von Papiergeld die Kaufkraft des Geldes auf die Hälfte reduziert, so kann er für diese 40.000 Mark nur soviel Ware kaufen, wie früher für 20.000 Mark. Statt 82.500 Mark hat er also nur 20.000 Mark, ist ruiniert. Ferner würden bei dem Stocken des Kredits die Handwerker, die kleinen Kaufleute, die Bauern, die allesamt überschuldet sind, ans Messer geliefert, während die Großkapitalisten sich noch eher halten könnten.

Und die Arbeiter? Scheinbar werden sie von diesen Vorgängen auf dem Geldmarkt am allerwenigsten getroffen, denn sie haben keine Kapitalien, die entwertet werden. Aber sie werden um so schwerer getroffen von der Entwertung des Geldes, Denn es ist eine Tatsache, die immer wieder durch die Erfahrung bestätigt wird: Beim Steigen aller Warenpreise steigt der Preis der Ware Arbeitskraft am allerlangsamsten. Heute haben die Arbeiter mächtige Gewerkschaften, die ihren Lohnforderungen Nachdruck verleihen, aber trotzdem sehen wir in den letzten Jahren die Preise der Lebensmittel weit schneller steigen als die Löhne; die Arbeiter erhalten wohl mehr Geld als früher, aber für dieses Geld erhalten sie schließlich nicht einmal so viel wie früher von den Gütern aller Art, die sie zum Leben brauchen. Wird im Kriege das Papiergeld eingeführt und die Warenpreise steigen infolgedessen in raschen Zügen vielleicht auf das Doppelte, so steigen die Löhne sicher nicht im gleichen Tempo. War ein Lohn von sagen wir 4 Mark zwischen Arbeiter und Unternehmer vereinbart, so wird der Unternehmer zunächst bestrebt sein, den Arbeiter mit 4 Mark Papiergeld abzuspeisen Vielleicht gelingt es dem Arbeiter dann, einen Lohn von 6 Mark zu erzwingen, aber diese 6 Mark haben nur eine Kaufkraft von 3 Mark, der Arbeiter ist schlechter gestellt als früher. Doch bleibt es fraglich, ob eine Lohnsteigerung wirklich erzwungen werden kann. Denn es wird zwar die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen, wenn es gilt, die Wehrpflichtigen, die in den Krieg zogen, zu ersetzen, aber es wird auch das Angebot von Arbeitskraft viel mehr steigen, weil, wie wir gesehen, viele Tausende von Betrieben aus Mangel an Exportmöglichkeit aus Mangel an Kredit stillgelegt werden. Also auf der einen Seite enormes Steigen der Preise der wichtigsten Unterhaltsmittel insbesondere der Lebensmittel und der Kleidung, infolge der mangelnden Zufuhr von Getreide und Baumwolle, als auch infolge der verminderten Kaufkraft des Geldes; auf der anderen Seite keine Möglichkeit, höheren Lohn zu erzwingen, infolge der Arbeitslosigkeit. Die einen Arbeiter sind arbeitslos, und die anderen, die noch tätig sind, erhalten weniger an Unterhaltsmitteln für ihre Arbeit, weil sie den Unternehmern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind,

Nun kann man abermals einwenden: Alle jene Folgen der Entwertung des Geldes und der Krediterschwerung sind auch in früheren Kriegen eingetreten und wurden schließlich überstanden, Indessen gilt hier um so mehr, dass jene Erfahrungen gar nichts bedeuten für den jetzigen Zustand. Auch vor fünfzig Jahren bestand freilich das Kreditsystem, aber es hatte nicht entfernt die Bedeutung für den gesamten Wirtschaftsprozess wie heute. Damals wurde vielleicht ein Viertel des gesamten Warenumlaufs durch Kredit vermittelt, heute sind es drei Viertel; damals bestand eine Verschuldung der Produzenten aber sie war nicht das normale, während heute der nicht verschuldete Industrielle, Handwerker, Gutsbesitzer und Bauer anormal ist; damals war der eigene Kapitalbesitz der Unternehmer die Regel, heute ist Regel die Abhängigkeit des Betriebes vom Leihkapital. Deshalb würden heute die Wirren, die der Krieg auf dem Gebiete des Kredit- und Geldwesens verursacht, nicht nur größere Störungen des wirtschaftlichen Getriebes herbeiführen, sondern sie würden dieses Getriebe gänzlich lahm legen.
 

Krieg und Revolution

Fassen wir zusammen, welche Folgen für die kapitalistische Wirtschaft Deutschlands im Fall eines europäischen Krieges sich ergeben würden.

Schon die Mobilmachung bringt die Produktion ins Stocken. Die Einberufung der Wehrpflichtigen entzieht den Betrieben Arbeitskräfte, die nicht ersetzt werden können, der Eisenbahnverkehr versagt, in den Großstädten entsteht Mangel an Lebensmitteln, Kohlen und Rohstoffen. Diese Hemmungen würden furchtbaren Schaden zufügen, obwohl die Störung des Eisenbahnverkehrs bald aufhören würde und die Produktionsbetriebe zum Teil nach einiger Zeit den Verlust an qualifizierten männlichen Arbeitern überwinden können. Kurze Zeit nach Ausbruch des Krieges würde der überseeische Verkehr unterbunden, was zur Folge haben müsste, dass die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen, wenn nicht gänzlich unmöglich gemacht, so doch ganz ungeheuerlich verteuert würde, während gleichzeitig der Export von Industriewaren gehemmt würde. Das würde, wenn nicht zur sofortigen Aushungerung des Volkes, so doch zu einer furchtbaren Teuerung führen, gleichzeitig aber zur Lahmlegung zahlreicher Produktionsbetriebe, was für die Arbeitermassen die Arbeitslosigkeit bedeutet. Gleichzeitig würde die Störung des Geld- und Kreditverkehrs ihrerseits einen unheimlichen Wirrwarr anstiften, es würden zahllose Unternehmer, Rentner, Bankiers ruiniert werden, wodurch der Produktionsprozess und der Warenumlauf noch mehr gestört würden.

Nun male man sich die Lage der Arbeitermassen aus: enorme Arbeitslosigkeit, sprunghaftes Steigen der Preise, besonders der Lebensmittelpreise, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, bei dieser Lage für diejenigen, die Arbeit haben, entsprechende Löhne zu erlangen. Selbst wenn die Menschen Fischblut im Leibe hätten, müsste die Verzweiflung sie zum Aufruhr treiben, auch dann, wenn sie keine Ahnung vom Klassenkampf hätten.

Wir zweifeln nicht einen Augenblick, dass die Regierung im Kriege gewillt wäre, jeden Aufruhr mit „unbeugsamer Energie niederzuwerfen, dass sie bereit wäre, ein furchtbares Blutbad anzurichten, um „Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten“, Wir zweifeln auch nicht, dass sofort bei Ausbruch eines Krieges die bekannten „Führer“ der Sozialdemokratie unter irgendeinem Vorwand hinter Schloss und Riegel gebracht würden. Woran wir aber zweifeln, ist, ob bei einer solchen Situation die Unterdrückung des Aufruhrs auch gelingen würde. Das Heer ist auf dem Kriegsschauplatz, im Lande bleiben die Reserven, deren Mannschaften aus reifen Männern bestehen, Männer, bei denen der Kasernendrill nicht mehr wirkt, die den Ernst des Lebens kennen. Ob diese Männer wohl bereit wären, auf „Vater und Mutter“ zu schießen, wenn das Kommando erschallt? Man bedenke: Diese Männer wissen, dass das Volk im Aufruhr ist, weil der Hunger in den Eingeweiden wühlt, sie wissen, was vorgeht, sind Zeugen all des Elends. Und diese Männer sollten sich zu Henkern ihrer Volksgenossen hergeben? Wohl kaum. Aber vielleicht würde sich der Klassengegensatz in den Regimentern selbst geltend machen, und dann könnte es zu mörderischem Kampfe der Bewaffneten untereinander kommen.

Aus diesem entsetzlichen Chaos gäbe es nur ein Entrinnen: die soziale Revolution, die Diktatur des Proletariats.

Diese Diktatur würde den Frieden herstellen, würde alle verfügbaren Kräfte mobilisieren, nicht für die Menschenschlächterei, sondern für das soziale Wohl. Eine andere Frage ist, ob sie von Dauer sein könnte. Das hängt davon ab, ob die Katastrophe eintritt zu einem Zeitpunkt, wo die soziale Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass der Kapitalismus tatsächlich beseitigt werden kann. Ist es nicht der Fall, dann ist es wohl möglich, dass eine konterrevolutionäre Bewegung von neuem der Bourgeoisie die Herrschaft verschafft. Aber in welcher Form der Klassenstaat wieder aufleben würde, ob in Form der demokratischen Republik, die eine ruhige Weiterentwicklung ermöglicht, oder in Form einer urreaktionären Gewaltherrschaft, die neue furchtbare Zusammenstöße hervorrufen würde, das kann zur Zeit niemand voraussehen. Aber so oder so wäre das Ende der Klassenherrschaft beschleunigt.

Nun muss man sich fragen, ob denn die herrschende Klasse und ihre Staatsmänner alle diese Folgen eines Krieges nicht voraussehen, ob sie nicht wissen, welche Gefahr für die Besitzenden damit heraufbeschworen wird? Sicher wissen sie es, denn für so einfältig halten wir sie nicht, dass ihnen diese Dinge verborgen bleiben können. Wenn sie es aber wissen, warum tun sie nicht alles, um die Möglichkeit des Krieges zu bannen? Darauf ist nur zu antworten: Weil sie es nicht können!

Darin besteht eben der unlösbare Widerspruch der kapitalistischen Entwicklung in unserer Zeit: Nichts ist der Kapitalistenklasse gefährlicher als ein Krieg, und trotzdem wird diese Klasse auf politischem Gebiete zu dem imperialistischen Wahnwitz gedrängt, der jeden Augenblick einen europäischen Krieg heraufbeschwören kann. Der heutige Staat ist ein Raubstaat und kann seine Natur nicht verleugnen. Ein großer Teil der Bourgeoisie mag an dieser Raubpolitik nicht interessiert sein. Dieser Teil grollte in Russland, als die Clique der Bezobrasow und Konsorten durch ihr Treiben in Korea den Krieg gegen Japan provozierte, er grollt in Frankreich und in Deutschland, wenn die Schneider-Creuzot und Mannesmann in Marokko die Dinge auf die Spitze treiben, er grollt in Italien, wenn die Bande von Industrierittern in Tripolis die Okkupation erzwingt und den Handel stört. Aber es haben noch immer die bissigen Hunde die wiederkäuenden Rinder regiert, und im Staate, der auf Raub aufgebaut ist und durch den Militarismus zusammengehalten wird, erhalten die Beutepolitiker die Oberhand. Deshalb wird die imperialistische Politik fortgesetzt, die Gefahr missachtet. Man baut auf die Armee und die Flotte, die den Sieg verbürgen sollen, man baut auf die Schlauheit der Diplomaten, die es fertig bringen werden, den Länderraub in Asien und Afrika so zu leiten, dass der europäische Krieg vermieden wird, man baut auf das „gemeinsame Interesse der Mächte“, das jetzt bei dem Brigantenüberfall in Tripolis den Krieg „lokalisieren“ wird, Es ist ein Spiel mit Feuer auf dem Pulverfass, aber es ist nicht zu vermeiden; die Raubinstinkte sind mächtiger als die Vernunft. Das tolle Wort gilt noch immer bei den Herrschenden: Nach uns die Sintflut! Haben nicht viele denkende Männer gerade aus den Kreisen des Adels und des Klerus in den Jahren vor der Französischen Revolution immer wieder ihre warnende Stimme erhoben, weil sie den Zusammenbruch ahnten? Es hat nicht geholfen, die Dinge nahmen ihren Lauf, die Misswirtschaft der Adelsherrschaft musste zum bitteren Ende führen. Man verschmähte Reformen, man hörte nicht auf, mit dem Feuer zu spielen, bis der Funke zündete und das Donnerkrachen der Revolution die alte Welt in Trümmer fallen ließ. So ist es auch jetzt. Der Krieg muss den Untergang der bourgeoisen Welt beschleunigen. Der Warner gibt es viele, aber ihre Stimme verhallt, die Dinge nehmen ihren Lauf. Nach uns die Sintflut! Und urplötzlich kann die Katastrophe hereinbrechen.

Wir aber, die revolutionäre Sozialdemokratie, wie sollen wir uns zu diesem Spiel mit dem Feuer stellen? Wir wollen den Untergang der bourgeoisen Welt. Je schneller sie zugrunde geht, desto lieber ist es uns. Sollten wir daher nicht auch lieber heute als morgen den Kriegsbrand ausbrechen sehen? Trotzdem hören wir nicht auf, gegen den Krieg, gegen die Rüstungen, gegen den Imperialismus, gegen die Kolonialpolitik zu protestieren. Ist das nicht ein Widerspruch?

Keineswegs! Indem wir gegen den Krieg protestieren, lassen wir uns nicht nur von den Geboten der Humanität leiten, sondern handeln auch im Sinne unserer ganzen revolutionären Weltanschauung. Wir sind auf Grund unserer wissenschaftlichen Erkenntnis der sozialen Vorgänge der felsenfesten Überzeugung, dass die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft mit Naturnotwendigkeit zu der Umwälzung führen muss, die die sozialistische Weltordnung herbeiführt. Diese Umwälzung aber kann erst dann von Dauer sein, wenn die sozialen Zustände reif dafür sind. Weil wir keine Utopisten sind, weil wir wissen, dass die sozialistische Ordnung sich nicht willkürlich durchsetzen lässt, nach unserem Willen und Gutdünken, sind wir die unbedingten Gegner dessen, was man den „revolutionären Putschismus" nennt. Da aber eine Revolution, wie sie sich als Folge eines Krieges ergeben würde, zur Zeit keineswegs soziale Zustände schaffen kann, bei denen die sozialistische Weltordnung von Bestand wäre, so liegt eine solche Revolution keineswegs im Interesse des Proletariats, kann sie uns Sozialdemokraten nicht als erstrebenswertes Ziel erscheinen.

Doch mehr noch. Krieg bedeutet Barbarei. Ein europäischer Krieg würde eine unsägliche Verrohung der Menschen herbeiführen, er würde alle bestialischen Instinkte aufpeitschen, er würde die Menschheit um Jahrzehnte in der Kultur zurückwerfen, ganz abgesehen von dem materiellen Ruin, den er herbeiführt. Der Sozialismus aber kann nur das Ergebnis fortschreitender Kultur, nicht eines Kulturrückganges sein.

Wir Sozialdemokraten wollen die soziale Umwälzung, die die Menschheit vorwärts führt, hehren Idealen entgegen, wir wollen nicht wahnwitziges, unnötiges Blutvergießen, wir wollen nicht eine Katastrophe, die Hekatomben an Menschenleben hinrafft.

Deshalb handeln wir im Sinne der Interessen des Proletariats, die die Interessen der Menschheit sind, wenn wir den Völkermord verhindern wo irgend wir können. Treibt es die bourgeoise Welt zum Kriege, der ihren Ruin bedeutet, dann trifft die Schuld die Bourgeoisie und ihre Regierung, während wir bei dieser Katastrophe tun werden, was die Pflicht gegen die Menschheit gebietet.

Deshalb gilt die Losung der Proletarier aller Länder:

Krieg dem Kriege


Zuletzt aktualiziert am 25. Januar 2025