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Leipziger Volkszeitung, Nr. 77, 3. April 1911, ungezeichneter Leitartikel.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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[Einleitung der Redaktion: „Über das in der Leipziger Volkszeitung im Leitartikel vom letzten Freitag [A] angeschnittene Thema entwickelt sich eine Debatte. Als ersten Beitrag bringen wir heute die Zuschrift eines unserer Mitarbeiter, der den Standpunkt der Fraktion teilt:“]
In dem Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 31. März wird es in Frage gestellt, ob die von unserer Fraktion eingebrachte Resolution, in der die Regierung aufgefordert wird, „eine internationale Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen in Verbindung mit der Abschaffung des Seebeuterechts herbeizuführen“, praktische Politik bedeutet.
Nun, wenn agitatorische Politik treiben, praktische Politik bedeutet, dann war die vom Genossen Scheidemann begründete Resolution ein Stück eminent praktischer Politik.
Worauf es ankommt, ist dies:
Die Bourgeoisie, die ihre Herrschaft über die Welt nur noch durch rohe Gewalt aufrechterhalten kann, gelangt schließlich in eine Lage, die ihr unerträglich wird. Die Herrschaft der Bourgeoisie eines jeden einzelnen Landes, sowohl über das eigene Volk als über die Kolonien kann nur aufrecht erhalten werden durch eine immense Entfaltung der Militärmacht, und auf der anderen Seite sieht die Bourgeoisie des einen Landes sich bedroht durch die Eroberungsgelüste ihrer Klassengenossen in anderen Ländern. Das führt zu dem wahnsinnigen Wettrüsten. Es kommt indessen der Zeitpunkt, wo der Bourgeoisie dieses Wettrüsten schließlich doch unerträglich wird. Nämlich dann, wenn sie selbst die Kosten zu tragen hat. Solange es gelingt, diese Kosten den arbeitenden Massen aufzubürden, während alle Vorteile der Bourgeoisie zufließen, bleiben die bürgerlichen Friedensfreunde in hoffnungsloser Minorität. Es wird anders, wenn die Lasten der Rüstung auf die Bourgeoisie zu drücken beginnen. Dieser Punkt scheint erreicht. Die englische Regierung musste sich dazu entschließen, zur Deckung der Ausgaben Steuern zu fordern, die der herrschenden Klasse unbequem sind, und es besteht in England kein Zweifel darüber, dass auch in den nächsten Jahren eine weitere Steigerung der direkten Steuern notwendig werden wird, um die Panzerschiffe zu bezahlen. Ähnlich in Frankreich. Eine weitere Steigerung der indirekten Steuern ist hier kaum mehr möglich, es muss zu der direkten Besteuerung gegriffen werden, wenn die Ausgaben für Heer und Marine weiterhin steigen. Auch das bequeme Mittel neuer Staatsanleihen versagt. Die Bourgeoisie lässt sich freilich der Staatsschulden wegen keine grauen Haare wachsen, im Gegenteil: Staatsschulden sind ihr ein bequemes Mittel, einen fortwährend steigenden Teil der produzierten Werte auf dem Umwege über die Staatskasse aus den Taschen der Arbeiter in die eigenen Taschen zu lenken. Erst wenn Kapital und Perzentchen gefährdet sind, weil man befürchten muss, dass eben aus den Taschen der Arbeiter nichts mehr zu holen ist, um die immensen Summen an Zins und Amortisation aufzubringen, regt sich der „kritische Gedanke“ des Bourgeois gegen die Vergrößerung der Staatsschuld.
In den parlamentarisch regierten Ländern ist man also auf dem Punkte angelangt, wo es für die Regierungen gefährlich wird, den Wählermassen mit neuen Steuerforderungen und den Parlamenten mit neuen Anleiheprojekten zu kommen. In Deutschland freilich ist es anders. Allerdings ist es jedem Einsichtigen klar, dass gerade die Finanzen des Deutschen Reiches in viel hoffnungsloserer Lage sind als die Frankreichs und Englands. Aber die Bethmann-Hollweg und Wermuth rechnen immer noch darauf, die Rüstungen auf Kosten der großen steuerzahlenden Masse fortsetzen zu können und Junker und Pfaffen bauen darauf, dass ihre Handlanger dieses Kunststück auch wirklich fertig bringen. Daher die augenblickliche Situation: zunehmende Angst um den Profit der französischen und englischen Bourgeoisie, daher ernsthafte Bedenken gegen die Rüstungen, daher staatsmännische Erwägungen der Regierung, aus dem Dilemma einen Ausweg zu finden. Dagegen schnodderige, durch keine Sachkenntnis gestörte Überhebung bei der deutschen Regierung, die jede Gefahr leugnet.
Was ist in Anbetracht dessen Aufgabe der parlamentarischen Vertreter des Proletariats? Lassalles Diktum gilt auch heute: eine der politischen Aufgaben ist, auszusprechen was ist. Da man im Parlamente keine Leitartikel sprechen kann nach Belieben, sondern um die parlamentarische Form gebunden ist, so galt es, die Regierung zu zwingen, dass sie in der Frage des Wettrüstens Farbe bekennt, und das kann man nur, indem man sie zwingt, auf eine Resolution Rede und Antwort zu stehen. Dieser Zweck ist vollauf durch das Einbringen der sozialdemokratischen Resolution erreicht worden. Man hat den Reichskanzler gezwungen, mit aller Brutalität und aller Borniertheit einzugestehen, dass unter dem Regime der Junker nicht einmal an dem Versuch der Einschränkung der Rüstungen durch internationale Abmachungen zu denken ist.
Die Kernfrage ist indessen: ist eine Einschränkung der Rüstungen im kapitalistischen Staats überhaupt möglich? Der Verfasser des genannten Artikels bestreitet es und freut sich, seine Meinung in der Rede Bethmann-Hollwegs bestätigt zu sehen. Hier scheint indessen eine Begriffsverwirrung vorzuliegen, denn so einfach liegen die Dinge denn doch nicht. Sicher ist nur eines: die herrschende Klasse kann nicht auf den Militarismus verzichten, weil sie die Armee braucht gegen das Proletariat, weil sie nur noch durch rohe Gewalt herrschen kann. Dazu aber bedarf es keineswegs ungemessener Steigerung der Kriegsmacht. Diese Steigerung ist nur bedingt durch die Rivalität der nationalen Bourgeoisien Europas untereinander. Aber diese Rivalität wird abgeschwächt, je mehr die Tendenz zur Geltung kommt, gemeinsam die internationalen Interessen zu wahren. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass die Bourgeoisien sich über den „nationalen Staat“ hinwegsetzen, dass sie ihre Regierungen zwingen, immer weiter auf dem Wege internationaler Vereinbarungen zu Nutz und Frommen der Bourgeoisie weiter zu schreiten. Es ist z. B. durchaus möglich, dass die internationale Bourgeoisie sich verständigt, wo es den gemeinsamen Raub an Asien gilt, ja wir sehen, dass in dieser Richtung sogar schon erkleckliches geleistet wird. Kein Wunder daher, wenn die fortgeschrittene Bourgeoisie Englands und Frankreichs diesen Gedanken der internationalen Interessengemeinschaft, jetzt, wo es ihr auf den Finger brennt, auch in der Frage der Rüstungen ventiliert, einen Gedanken, der freilich dem in Deutschland herrschenden Junkertum über den Horizont geht.
Dem Proletariat kann diese kapitalistische Friedenspolitik weder ein Ziel sein noch auch widerspricht sie seinen Interessen. Eine solche Politik würde im Resultate dazu führen, den bestehenden Staat unter allen Umständen zu untergraben. Hört die Kriegshetze auf, so fällt eines der schwersten Hindernisse für unsere Propaganda fort, der nationalistische Koller. Eine Abschwächung der „nationalen“ Gegensätze kann nur dazu führen, die Stoßkraft des internationalen Proletariats zu vergrößern.
Wie man sieht, brauchen wir nicht im geringsten in die Kerbe der bürgerlichen Friedensapostel zu hauen, können die spezifisch kapitalistischen Interessen, die die Bourgeoisie zwingen, sein Haar in den Rüstungen zu finden, bloßlegen können diese Strömung, die zweifellos weiterhin an Boden gewinnen wird, für unsere Ziele auszunützen. Wenn wir dabei gelegentlich die bornierte Rückständigkeit des Junkertums und seiner Regierung an den Pranger stellen können, um so besser.
Deshalb ist die Frage, ob die sozialdemokratische Interpellation über die Abrüstung „praktische Arbeit“ bedeutet, zu bejahen. Es war ein Stück praktischer Arbeit im Sinne sozialdemokratischer Aufklärung.
A. Praktische Politik? Leipziger Volkszeitung, Nr. 75, 31. März 1911 (ungezeichneter Leitartikel).
Zuletzt aktualiziert am 25. Januar 2025