Rudolf Hilferding

 

Die Anfänge des Merkantilismus in England

(1. April 1911)


Der Kampf, Jg. 4 7. Heft, 1. April 1911, S. 301–304.
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Die Zeit der ursprünglichen Akkumulation, die Entstehungszeit des Kapitalismus, ist zugleich auch der Beginn moderner nationalökonomischer Forschung. Das Mittelalter hatte die Wirtschaftserscheinungen hauptsächlich unter ethischem Gesichtspunkt betrachtet. Im Mittelpunkt der auch für das Wirtschaftsleben massgebenden kanonischen Lehre stand die Frage nach dem „justum pretium“, dem „gerechten Preis“. Die Kirchenrechtslehre, die von Thomas von Aquino zusammengefasst wurde, verwarf das Zinsnehmen, da das Geld, wie schon Aristoteles gelehrt habe, unfruchtbar sei. Auch dem Handel, der nur nach Gewinn strebe und alte überlieferte Bande des Herkommens und der Sitte aufzulösen trachte, standen die Kanonisten ablehnend gegenüber. Ihr Ideal war aus der mittelalterlichen Stadtwirtschaft geschöpft, wo der Handwerker allein oder mit ein oder zwei Gesellen und Lehrlingen durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt erwarb. Ihm sollte der „gerechte Preis“ seiner Arbeit werden, das heisst ein Preis, der ihm den Ertrag seiner Arbeit erstattete, aber auch nicht mehr. Die strengen Zunftvorschriften sollten die Konsumenten vor Uebervorteilungen durch unangemessene Preise schützen, zugleich dem Handwerker allzu scharfe Konkurrenz fernhalten, ihm bei Einkauf seines Rohmaterials und bei Verkauf seiner Ware die Gleichheit der Bedingungen mit allen andern Zunftgenossen garantieren und Nachfrage und Angebot stets in das entsprechende Verhältnis setzen, das den Preis des Produkts dem Arbeitsaufwand entsprechen liess.

Schon im späteren Mittelalter ersteht der kanonistischen Lehre wachsender Widerspruch. Mit der zunehmenden Bedeutung des Handels wächst auch die Möglichkeit der Anlage von Geld in den grösseren Handelsunternehmungen. Das Geld erscheint nicht mehr unfruchtbar, sobald der Handel über Krämerei und Hausierhandel hinauswächst und selbst zu einer Quelle der Bereicherung wird. Das Zinsverbot erscheint ungerecht und nur ein Hindernis, um den sich allmählich bildenden und vermehrenden Geldreichtum dem wachsenden Handel, namentlich dem grösseres Kapital fordernden Handel mit fremden Ländern, zur Verfügung zu stellen. So erwächst aus den geänderten ökonomischen Interessen der alten Lehre eine steigende Opposition, die die Lehre von der Unfruchtbarkeit des Geldes und das Zinsverbot bekämpft und den Handel als eine Quelle der Reichtumsvermehrung preist.

Aber auch diese Literatur bleibt durchaus in ethischer Betrachtung stecken. Gegenüber der Behauptung von der Ungerechtigkeit des Zinses sucht sie seine „Rechtfertigung“, indem sie darauf hinweist, wie dem Geldverleiher durch das Fortleihen des Geldes Schaden erwächst oder doch Gewinn entgeht. Als Ersatz für Schaden oder Gewinnentgang suchen die Vertreter des Handels- und Geldkapitals in der Zeit des Ausgangs des Mittelalters das Zinsnehmen zu rechtfertigen.

Die wirtschaftliche Revolution, die infolge der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien eintritt, lässt eine völlig anders geartete Betrachtungsweise entstehen. Aus den neu entdeckten Ländern ergoss sich ein Strom von Gold und Silber über Europa. Und die Produktionskosten der neuen Minen waren bedeutend geringer als die Gestehungskosten des Edelmetalls in Europa. Der Wert der Edelmetalle sank und damit stieg der Preis aller Waren. Eine allgemeine Teuerung war die Folge. Und die ökonomische Wirkung wurde noch verschärft durch staatliche Eingriffe. Die vielen Kriege jener Epoche, durch den Kampf um den Kolonialerwerb vor allem verursacht, stürzten die Fürsten in steigende Geldverlegenheit. Und da war das Münzrecht des Staates ein gern gebrauchtes Notmittel. Die Münzverschlechterung griff rapid um sich, die Münzen enthielten immer weniger wertvolles Metall und wieder stiegen die Warenpreise entsprechend der Wertverminderung des Geldes.

Der Zustrom aber des neuen Reichtums in seiner gold- und silberglänzenden Gestalt war abhängig von dem Besitz der Kolonien. Und gleichzeitig lieferten die Kolonien auch jene viel begehrten Luxusartikel, Gewürze und Spezereien, die in Europa so teuer bezahlt wurden. Der Handel, der bisher so beschränkt und schwerfällig war, sah jetzt plötzlich ein ungeheures Feld offen und es war klar, dass seiner Tätigkeit der neue Reichtum Europas zu danken war. Waren ja die grossen monopolistischen Handelsgesellschaften vornehmlich Hollands und Englands nicht nur Kaufleute, sondern zugleich die Eroberer der neuen Märchenländer. Die Lehren von der „Unfruchtbarkeit des Geldes“, von der „Schädlichkeit des Handels“ waren damit überlebte Ideologien geworden. Vor der Gier nach den neu eröffneten Schätzen dieser Welt schwand jeder Zweifel, ob Wucher und Raubhandel dem Seelenheil förderlich seien, und der neuen reformierten Lehre schienen die katholischen Ermahnungen eitel Ketzerei. Galt der Handel im Mittelalter als etwas Geduldetes, etwas Geringerwertiges als die eigentlich allein sittlich zu rechtfertigende bäuerliche und handwerkliche Produktion, so erscheint er jetzt seinen Trägern und bald dem ganzen Zeitalter als einzige Quelle des Reichtums.

In England findet zugleich die grosse agrarische Revolution statt. Die steigende Nachfrage nach englischer Wolle und englischem Tuch lässt es den Grundbesitzern profitabel erscheinen, vom Getreidebau zur Schafzucht überzugehen. Die Grossgrundbesitzer eignen sich das Gemeindeland an und beginnen in immer reicherem Masse die Bauern zu legen; das ehemalige Getreideland wird zur Weide eingehegt, die Bauern vertrieben und als besitzlose Proletarier auf die Landstrasse gejagt, wo sie mit Bettel und Diebereien ein elendes Dasein fristen, bis sie allmählich von den aufkommenden Manufakturen aufgenommen werden. Es ist die Zeit, von der Thomas More berichtet, in der die Schafe die Menschen fressen.

Die wirtschaftliche Revolution lässt aber bei den volkswirtschaftlichen Betrachtern die Frage nach den Ursachen dieser Erscheinungen entstehen und damit ist der Fortschritt von der ethischen Beurteilung zur kausalen, wissenschaftlichen Forschung gemacht. Es wird nicht mehr untersucht, ob wirtschaftliche Tatsachen christlichen oder anderen Morallehren entsprechen, das Problem des „gerechten Preises“, der „Unfruchtbarkeit des Geldes“ schwindet aus ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Untersuchungen. Man sucht jetzt vielmehr nach den Ursachen, die so merkwürdige Wirkungen hervorgebracht haben und erst nach Ergründung der Ursachen will man darangehen, Abhilfe zu finden. Die Wirtschaftspolitik beginnt sich auf die Wirtschaftstheorie zu stützen. Es ist dieser neue Geist, der mit besonderer Deutlichkeit in einer Schrift zum Durchbruch kommt, die in London zum erstenmal im Jahre 1581 erschienen ist unter dem Titel Drei Gespräche über die in der Bevölkerung verbreiteten Klagen vom Edelmann W. S.. Als Verfasser wurde lange Zeit hindurch William Stafford betrachtet. Neuere Untersuchungen machen es aber fast sicher, dass die Schrift bereits 1549 von einem gewissen John Hales verfasst ist. [1] Deutlich tritt hier die neue Betrachtungsweise zutage. „Aber lasst uns kurz die Uebelstände und dann ihre Ursachen rekapitulieren und darauf drittens an die Untersuchung der Hilfsmittel dagegen gehen. Erstens diese allgemeine Teuerung im Vergleich mit früherer Zeit, ist der Hauptübelstand, über den sich alle Leute am meisten beklagen. Dann kommen zweitens die Einhegungen und die Umwandlung des Ackergrundes in Weideland; drittens der Verfall der Städte, der Flecken und Dörfer; und endlich die Spaltung und Verschiedenheit der Meinungen in religiösen Fragen.“

Stafford erkennt die Hauptursache der Teuerung im geänderten Geldwert. Er zeigt die Verderblichkeit der Münzfälschungen, indem er wichtige Einsichten in das Wesen des Geldes entwickelt, und er kommt von da aus zu seinem wichtigsten Heilmittel, der Erneuerung der englischen Währung und Ausmünzung vollwertigen Geldes.

Während Stafford auf diesem Gebiete einen wichtigen theoretischen Fortschritt anbahnt, lässt er die überkommenen wirtschaftspolitischen Massnahmen in ihrer Grundlage noch unberührt. Dieser Umsturz gelingt erst fast ein Jahrhundert später in der Schrift Thomas Muns Englands Schatz durch den Aussenhandel, die jüngst in deutscher Uebersetzung erschienen ist. [2] Mun gilt mit Recht als Vater des Merkantilismus und die Neuherausgabe dieser wichtigen Schrift in deutscher Sprache ist daher sehr zu begrüssen. Die Schrift ist um 1630 verfasst, aber erst 1664, 23 Jahre nach dem Tode des Verfassers, von dessen Sohn herausgegeben. Mun ist 1571 geboren, er war ein angesehener Londoner Grosskaufmann und seit 1615 einer der 24 Direktoren der Ostindischen Handelskompagnie. Er starb 1641.

Wir haben gesehen, dass die mittelalterliche Theorie die „Unfruchtbarkeit“ des Geldes verfocht. Die mittelalterliche Praxis aber legte immer mehr Wert auf den Besitz des Goldes. Denn nur das Gold gab den Grossen die Möglichkeit, sich jene begehrten Luxusgüter zu verschaffen, die die fremden Kaufleute ins Land brachten und für die diese nicht immer geneigt waren, die Erzeugnisse der ländlichen Hintersassen der Grundherren in Tausch zu nehmen. Vor allem aber war der Besitz von Geld entscheidend für die Macht der Fürsten. Wollten die englischen Könige sich von den Grundherren unabhängig machen, so brauchten sie ein eigenes Heer und eigene Beamte. Und diese konnten sie nur bezahlen, wenn sie beständig fliessende Geldquellen besassen. Und erst recht bedurften sie des Goldes, um Krieg führen zu können, namentlich mit fremden Ländern. Die englischen Könige strebten schon früh nach der Schaffung einer zentralisierten Staatsmacht. Und so sehen wir sie sich gegen die Grundherren auf das Handwerk und den Handel der Städter stützen und zugleich durch eine ausgebildete staatliche Wirtschaftspolitik den Handel zu ihrer wichtigsten Steuerquelle — soweit es sich um Geldsteuern handelte — zu machen. War doch der Handel, und zwar der Handel mit fremden Ländern das einzige Mittel, um den Geldschatz eines Landes, das selbst keine Gold- und Silberminen besass, zu vermehren. So entwickelte sich ein System von Massregeln, die bezweckten, den Handel so zu leiten, dass er Gold ins Land bringen musste, und das so gewonnene Geld im Lande festzuhalten. Die wichtigsten Ausfuhrwaren durften nur an bestimmten Plätzen des Auslandes, dem Stapel, verkauft werden. Von jeder Ware wurde Ausfuhrzoll erhoben und verordnet, dass ein bestimmter Teil des Erlöses in Münze oder Barren in die Heimat gebracht und in der königlichen Münze ausgeprägt werden müsse. Dagegen ward die Ausfuhr des Goldes aufs strengste verboten. Den fremden Kaufleuten wurde durch die sogenannten „Statuten über die Verwendung“ der Nachweis auferlegt, dass sie für denselben Betrag, in dem sie in England Waren verkauft hatten, englische Waren und nicht etwa englisches Geld ins Ausland ausführten, und ein genaues Ueberwachungssystem sorgte für die Durchführung. Kurz, der Staat ordnete und beaufsichtigte durch eigene Beamte jedes einzelne Waren- und Geldgeschäft, um den Handel zu zwingen, mehr ins Ausland zu verkaufen als vom Ausland zu kaufen, um so beständig eine Vermehrung des heimischen Geldschatzes zu erzwingen.

Der Merkantilismus als Vertreter des Kaufmannskapitals, das im Begriff ist, sich, des Gewerbes zu bemächtigen und es kapitalistisch umzuwälzen, übernimmt aus der mittelalterlichen Praxis die hohe Wertschätzung des Geldes und verkündet auch theoretisch, dass Gold der einzig wahre Reichtum sei. Nur der Aussenhandel könne aber der Schöpfer dieses Reichtums sein. Er müsse daher so geleitet werden, dass er eine günstige Handelsbilanz ergebe; günstig aber sei die Bilanz zu nennen, wenn die Ausfuhr die Einfuhr übertreffe; denn dann müssten die anderen Völker mit Gold bezahlen, was sie mehr von England bezogen als die Engländer von ihnen. Aber der Merkantilismus verhält sich revolutionär gegenüber der überlieferten Wirtschaftspolitik. All diese Ueberwachungen der einzelnen Geschäfte, die Verbote der Geldausfuhr, der Verwendungszwang sind ihm nur lästige Verkehrshemmungen. Nicht das einzelne Geschäft allein darf betrachtet werden, sondern die Gesamtheit des Handels. An Stelle der Beaufsichtigung des Einzelgeschäfts muss eine nationale Handelspolitik treten. Mun verlangt die Aufhebung dieser Beschränkungen, der Handel muss frei sein, wenn auch in gewissen Grenzen. Ausländische Fabrikate und besonders Luxusartikel freilich müssten mit Zöllen belegt werden, dagegen muss die Ausfuhr einheimischer Fabrikate begünstigt, die einheimische Schiffahrt gefördert und der Transithandel von allen Beschränkungen befreit werden. Das Geldausfuhrverbot müsse fallen, denn das Geld sei eine Ware im Welthandel und in Indien könne man den Handel gar nicht anders anfangen, als indem man mit Geld jene Waren einkaufe, die dann in Europa so hoch bezahlt würden, so dass das ausgeführte Geld schliesslich mit grossem Gewinn nach England zurückkehre. Die Wucherverbote aber seien unsinnig, denn sie schädigen nur den Aussenhandel und damit die Quelle allen Reichtums. Der einheimische Handel aber ist nur eine Unterstützung des Aussenhandels; er selbst mache das Land weder reicher noch ärmer, da er weder Geld ein- noch ausführe.

Muns Ansichten hatten grosse Wirkung. „Der Titel des Munschen Werkes, Englands Schatz durch den Aussenhande, sagt Adam Smith, „wurde zu einem grundlegenden Satz der Volkswirtschaft, nicht nur in England, sondern auch in allen anderen handeltreibenden Ländern.“ Und das ist leicht verständlich. Entsprechen doch die Grundsätze, die Mun systematisch entwickelte, wenn sie auch in dem Bewusstsein seiner Zeit bereits enthalten waren, durchaus den Bedürfnissen des entstehenden Kapitalismus. Unterstützung des Aussenhandels, das hiess vor allem die staatliche Förderung der grossen kolonialen Monopolgesellschaften, hiess die Eroberung und Ausraubung der Kolonien und die Ueberführung der neu entdeckten Reichtümer in die Hand einer beschränkten Anzahl von Kapitalisten. Unterstützung der Schiffahrt, das war zugleich die wirksamste Vorbereitung zum Kampf um die Seeherrschaft, die zuletzt über den Besitz der Kolonien entschied. Unterstützung der heimischen Industrie durch Zölle auf ausländische Fabrikate, während das ausländische Rohmaterial zollfrei blieb, das war die Heranzüchtung eigener Manufakturen, die dem Kaufmannskapital die Waren lieferten, die es auf dem Weltmarkt absetzen konnte.

Muns Werk zeigt uns so die erste Phase kapitalistischer Wirtschaftspolitik. Seine Träger sind das Handels- und Geldkapital. Und ganz anders stehen diese neuen Mächte dem alten Staat gegenüber. Der mittelalterliche Handel war für den Staat die wichtigste Quelle seiner Einnahmen, das Objekt fiskalischer Politik. Das neue Handelskapital stellt umgekehrt den Staat in den Dienst seiner Interessen und es währt nicht lange, bis die Unterwerfung vollendet ist, die staatliche Politik im Innern wie nach aussen, im Frieden wie im Kriege, nur mehr bestimmt wird durch die ökonomischen Interessen des Kapitals; die im Beginn der kapitalistischen Entwicklung noch vorherrschenden Interessen des Handelskapitals werden im Laufe des Jahrhunderts nach Erscheinen des Munschen Werkes immer mehr zurückgedrängt durch die des industriellen Kapitals, als dessen Vertreter in England dann Adam Smith und seine Schüler die merkantilistische Lehre siegreich niederringen.

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Anmerkungen

1. Die Schrift ist in der Sammlung älterer und neuerer staatswissenschaftlicher Schriften, herausgegeben von Brentano u. Leser, Leipzig 1895, Duncker u. Humblot, deutsch erschienen.

2. Sie ist übersetzt, herausgegeben und mit einer wirtschaftlich-historischen Einleitung versehen von Dr. Rudolf Biach. Verlegt bei F. Tempsky (Wien) und G. Freytag (Leipzig) 1911./p>


Zuletzt aktualisiert am 13. Dezember 2023