Chris Harman

Der Markt versagt


VII. Was kommt als Nächstes?

Mit der Krise der 1930er Jahre konfrontiert, griffen kapitalistische Politiker und Ökonomen auf größere oder kleinere Dosen von Staatskapitalismus zurück. Die Krise der 1970er und frühen 80er Jahre versuchten sie durch eine erneute Wendung hin zum ungezügelten freien Markt zu lösen. Keine der beiden Methoden war erfolgreich. Um die erste Krise zu überwinden, bedurfte es eines Kriegs, und es bedurfte eines enormen Schuldenbergs, um sich teilweise von der zweiten zu erholen. Im Verlauf des letzten Jahres haben sie zunächst eine Richtung eingeschlagen, dann eine andere, und dann wieder die erste in einem verzweifelten Versuch, die Krise nicht ganz ihrer Kontrolle entgleiten zu lassen. Am 7. September 2008 griffen sie auf die größte Verstaatlichung in der Weltgeschichte zurück, um den Zusammenbruch von Freddie Mac und Fannie Mae abzuwenden. Eine Woche später, am 14. September, versicherten sie, dass sie unter keinen Umständen Lehman Brothers aus der Patsche helfen und damit die größte Bankenpleite in der Geschichte Amerikas verhindern würden. Denn man müsse unter allen Umständen den „Sündenfall“ vermeiden, Finanziers im Glauben zu lassen, die Regierung würde sie schon vor ihrer eigenen Unvernunft retten – so ein Leitartikel der Financial Times. Am Abend des 15. September verstaatlichten sie dann den Versicherungsgiganten AIG, um die im Markt für Derivate involvierten Hedgefonds vor weiterem Schaden zu bewahren und einen Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems abzuwenden. Der Leitartikel der Financial Times am nächsten Tag begrüßte ausdrücklich ihr Einschreiten. Sie alle verhalten sich wie Gefangene in einem verschlossenen Raum, die mit verbundenen Augen nach dem Schlüssel suchen.

Sie haben überhaupt keine Ahnung, was als Nächstes kommen wird. Manche sagen eine ernsthafte Rezession voraus und ziehen Vergleiche mit den 1930er Jahren. Manche sehen Ähnlichkeiten mit der Entwicklung in Japan in den frühen 1990er Jahren, als eine Krise von einer langen Periode wirtschaftlicher Stagnation abgelöst wurde. Manche glauben, dass die 700 Milliarden oder mehr Dollar, die für die Rettung des Finanzsystems ausgegeben werden, einen Inflationsschub auslösen und damit den Wechselkurs des US-Dollars drücken und in der Folge die Kreditwürdigkeit des amerikanischen Staates beschädigen werden. Jedes dieser Szenarien kann die Turbulenzen der Weltwirtschaft im kommenden Jahr nur erhöhen.

Ihr Problem ist nicht, dass sie dumm sind – obwohl das sicherlich auf manche zutrifft. Es ist, dass sie sich mit einem System identifizieren, dessen Wesen eben Unvorhersehbarkeit ist. Es baut auf blinder Konkurrenz zwischen den Kapitalien, den großen und kleinen Eigentümern an den Mitteln zur Schaffung von Reichtum. Es gibt ein paar tausend große multinationale Konzerne, höchstens ein paar Dutzend bedeutende Staaten und Millionen von kleinen Firmen, die alle vollkommen planlos miteinander zusammenwirken. Es ist wie ein Verkehrssystem mit tausenden Autos, keinen Ampeln, keiner Geschwindigkeitsbegrenzung, keiner Vorgabe, ob rechts oder links gefahren wird, in das soeben eine Bombe eingeschlagen ist.
 

Wer zahlt?

Zwei Dinge drängen sich jedem auf, der kritisch das System von außen betrachtet, wie Marx das tat. Erstens birgt das System noch mehr Chaos und Zerstörung. Die US-Staatsausgaben zur Lösung der Krise lassen die Staatsverschuldung rapide ansteigen, und die amerikanischen Kapitalisten werden nur sehr ungern dafür gerade stehen wollen – besonders, da Banken in Europa und Asien von diesen Ausgaben mitprofitieren. Sie werden versuchen, die Kosten auf die Arbeiter des Landes abzuwälzen, entweder durch Inflation oder durch eine Rezession, wahrscheinlicher noch durch beide. Sie werden auch auf andere Staaten und Kapitalisten Druck ausüben, damit diese für ihre Irrtümer zahlen. Das Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert, das bereits in die Kriege in Afghanistan und im Irak mündete, hat das Ziel, dem amerikanischen Kapitalismus die Vorherrschaft über den Rest der Welt zu sichern. Die USA waren vor Ausbruch der Finanzkrise auf der Suche nach einem Ausweg, um die Rückschläge, die sie bei der Besatzung dieser Länder einstecken mussten, zu überwinden. Das ist der Grund, warum sie vor zwei Jahren Israel ermunterten, den Libanon anzugreifen, letztes Jahr Äthiopien grünes Licht gaben, in Somalia einzumarschieren, und Anfang August Georgien signalisierten, es könne ungestraft Südossetien direkt an der russischen Grenze überfallen. Sie werden noch eifriger versuchen, sich zu behaupten, nachdem die Kosten für die Lösung dieser Krise auf ihre Schultern abgewälzt wurden, worauf der deutsche Finanzminister Steinbrück die Dreistigkeit besaß zu behaupten, damit sei das Ende von Amerikas Rolle als „finanzielle Supermacht“ eingeläutet. Sie werden noch weniger als bisher geneigt sein, die notwendigen Ausgaben zur Abwendung des Klimawandels zu tätigen.

Zweitens kann diesem Chaos nicht mit halbherzigen Mitteln wie größerer Regulierung oder noch mehr Geldern, die in das Finanzsystem gepumpt werden sollen, begegnet werden. Die Financial Times hat eine faszinierende Debatte zwischen zwei Erzanhängern des Kapitalismus veröffentlicht, Martin Wolf und John Kay. Wolf argumentiert, dass der Kapitalismus nur durch mehr Regulierung vor sich selbst gerettet werden kann. Kay antwortet, dass die Banker, mit dem enormen Reichtum, der ihnen nach wie vor zur Verfügung steht, immer in der Lage sein werden, die cleversten Leute anzuheuern und die teuerste Technologie einzusetzen, um jede denkbare Regulierung zu umgehen. Dem muss man noch hinzufügen, dass, sobald ihre unmittelbaren Probleme überwunden sind, sie sofort wieder das tun werden, was sie schon immer getan haben: Sie werden damit drohen, ihren Reichtum in andere Länder zu verlagern und Volkswirtschaften durch „Investitionsstreiks“ zu sabotieren, sollten Regierungen mit der Regulierung ernst machen.

Das System braucht Regulierung, entzieht sich aber jeglicher Regulierung. Das ist sein Problem. Unser Problem ist, dass dieses System so oder so nicht den Interessen der Masse der Menschen dienen kann. Einige, die ihre Jobs in den Büros von Lehman Brothers in der City of London am 15. September verloren, müssen das, wie konfus auch immer, gespürt haben, auch viele der 75.000 Urlauber, die ihre Reise diesen Sommer nicht antreten durften, und vor allem die 180.000 Amerikaner, die allein im Juli ihre Häuser durch Enteignung verloren.

Die Krise ist die Folge davon, dass das System auf einem tiefen Widerspruch basiert. Die Menschen auf der ganzen Welt sind in erheblichem Maße voneinander abhängig – vermittelst des globalen Produktionssystems – für die Waren, die sie für ihren Lebensunterhalt brauchen. Die Kontrolle über das Produktionssystem liegt jedoch in der Hand privilegierter Gruppen, die miteinander in der Ausbeutung von unsereinem konkurrieren. Darauf gibt es eine einzige Antwort: Der Kampf um die Übertragung der Kontrolle über die Mittel zur Schaffung von Reichtum in die Hände der Masse der Menschen, so dass Kooperation in der Herstellung der benötigten Gebrauchsgüter an die Stelle des Wettrennens um Profite tritt. Nur dann werden Konsum und Investitionen im Einklang miteinander gehalten werden, damit es zu keinen Überproduktionskrisen mehr kommt. Nur dann werden wir der absurden Situation der Armut inmitten des Überflusses – des Gürtelengerschnallens, weil zu viel hergestellt wird – entkommen können. Nur dann kann demokratische Planung an die Stelle des rasenden Zockens mit den Häusern, Jobs und Schulden der Menschen treten. Mit anderen Worten: Um mit den kapitalistischen Krisen ein für alle Mal Schluss machen zu können, müssen wir mit dem Kapitalismus Schluss machen.
 

Ein erster Schritt

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Die mächtigsten Menschen dieser Welt, gewappnet mit den mächtigsten finanziellen, wirtschaftlichen, ideologischen und militärischen Waffen, werden sich jeder Veränderung widersetzen. Aber ein Verständnis dafür, was getan werden muss, ist ein erster wichtiger Schritt. Wir haben einfache aber überzeugende Argumente auf unserer Seite. Die Antwort auf die Bankenkrise ist nicht Regulierung oder Verstaatlichung der einen oder anderen Bank, sondern die Übernahme des gesamten Bankensystems. Und Ziel von Verstaatlichung muss sein, Zwangsenteignungen zu stoppen, mit der Drangsalierung der Armen dieser Welt mit unbezahlbaren Schulden aufzuhören, und nicht die stratosphärischen Bezüge, Ersparnisse und Pensionen der Bankmanager zu retten. Gleichermaßen ist die Antwort auf die weltweite Energiekrise und auf den schrecklichen, scheinbar unaufhaltsamen Klimawandel die Verstaatlichung der Öl-, Gas- und Kohleindustrien, um die Menschen mit der Wärme und dem Licht zu versorgen, die sie brauchen, und zugleich die dafür erforderliche Energiemenge drastisch zu reduzieren.

Diese Argumente zielen alle auf einen einfachen Punkt. George Bush hat (mit Unterstützung von Gordon Brown) das angeordnet, was Roubini „einen massiven Vorgang der Privatisierung von Profiten und Vergesellschaftung von Verlusten“, „Sozialismus und Wohlfahrtsleistungen für die Geld- und Beziehungsreichen und Wall Street“ nannte. Was die Masse der Menschen brauchen, die mit ihrer Arbeit die Gesellschaft am Laufen halten, ist einen Sozialismus für sich, für die Arbeiter, die Armen und die Zukunft der Menschheit.

Es gibt aber auch Sofortmaßnahmen, die jetzt ergriffen werden müssen, um die Menschen vor der dreifachen Krise der Rezession, der steigenden Lebensmittelpreise und der Energiearmut zu schützen. Unterstützer des bestehenden Systems glauben, dass sie jede Krise mit einer Mischung an Lügen, Peanutbestechungen und Drohungen schon werden überleben können, egal wie viele Millionen Menschen sie erfassen mag. Die Lügen werden sein, dass jemand anderes als der Kapitalismus für den Jobabbau oder die Wohnraumknappheit verantwortlich ist – vielleicht der Arbeiter in einem chinesischen Schuppen, der polnische Klempner, Asylsuchende, die vor einem durch die USA angezettelten Krieg auf der anderen Seite der Welt flüchten. Die Peanutbestechungen werden die Gestalt leicht erhöhter Abfindungszahlen, weniger drastischer Lohnsenkungen und geringfügiger Rentenanpassungen annehmen. Die Drohungen werden darin bestehen, von Jobverlagerungen ins Ausland oder dem Entzug von Arbeitslosenunterstützung zu reden. Die Gutbetuchten von London und Washington, der Wall Street und der City, hoffen, dass sich damit die angestaute Wut wird ableiten lassen – solange, bis der düstere Alltag der Arbeitslosigkeit, der Enteignungsflut, der stets steigenden Preise und unbezahlbaren Energierechnungen die Menschen schließlich resignieren lässt. Gegen eine solche Entwicklung ist unsere wichtigste Waffe die Bereitschaft, jede Gelegenheit zu ergreifen, Widerstand zu leisten und Entzweiung durch Solidarität zu begegnen.

Auf sich allein gestellt sind die Menschen angesichts einer solchen Krise machtlos. Aber die Betroffenheit von Massen von Menschen und die daraus entstehende Wut können der Anlass für Protestausbrüche sein, die unsere Herrschenden nicht gänzlich ignorieren können und die uns selber zeigen, wie viel wir noch erreichen könnten, wenn wir uns gemeinsam wehren. In den Vereinigten Staaten befinden sich die zwei politischen Parteien und beinahe alle Senatoren und Kongressmitglieder in der Hand von Großbanken und mächtigen Unternehmen. Die Welle der Wut von unten hat sie jedoch gezwungen, sich zumindest scheinheilig Sorgen um die von Zwangsräumungen und Arbeitslosigkeit Betroffenen zu machen. Wie viel mehr wäre doch zu erreichen, wenn die Wut geballt würde, um die verschiedenen Kämpfe für das gemeinsame Anliegen zu vereinen, die arbeitenden Menschen nicht für die Krise der Kapitalisten zahlen zu lassen.


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016