Chris Harman

Der Markt versagt


VI. Eine multiple Krise

Ein Großteil der Medienberichterstattung das ganze Jahr 2007 über und während der ersten Hälfte von 2008 wiegte die Menschen im Glauben, dass die Krise lediglich das Problem einiger weniger Topbankmanager und vielleicht einiger tausend Menschen in ihrem Dienst sei. Sie geht aber viel tiefer.

Wenn Schulden das ganze System am Laufen gehalten hatten, dann musste ein Versiegen neuer Kreditquellen die Fähigkeit der Menschen, sich Dinge zu kaufen, in Mitleidenschaft ziehen und folglich zu Entlassungen an anderer Stelle führen. Einen Vorgeschmack davon hatten wir mit dem Kollaps der Fluggesellschaft Zoom und des Ferienveranstalters XL und dem derzeit stattfindenden und zunehmenden Arbeitsplatzabbau. Daher die Vorhersage von Wirtschaftswissenschaftlern des Mainstreams, dass die Arbeitslosigkeit hierzulande innerhalb der kommenden Monaten von 1,6 auf 2 Millionen steigen wird.

Wenn sie aber ehrlich wären, würden sie zugeben, dass sie nicht wirklich wissen, was auf uns zukommt. Vor einem Jahr behaupteten sie noch, dass das Wachstum in China und Indien eventuelle Rückschläge in den USA würde ausgleichen können; mittlerweile erwarten sie, dass sich die Schwierigkeiten in den USA auch auf China und Indien auswirken werden. Vor sechs Monaten noch sagten sie, dass die Krise zwar die USA erfassen würde, nicht aber Europa, wo die britische Wirtschaft „stark“ sei und sich die deutsche Wirtschaft „gerade erhole“. Jetzt erkennen sie, dass Europa vor Problemen steht, und es wird erwartet, dass die britische Wirtschaft am schlimmsten betroffen sein wird. Die Kommentatoren des Mainstreams haben fast ausnahmslos den Crash nicht kommen sehen. Man kann von ihnen nicht erwarten, dass sie dessen Folgen überblicken.
 

Die Inflation kehrt zurück

Ein Problem für sie – und für uns alle, die in ihrem System leben – ist, dass der Krach nur eine von vielen Krisen ist, von denen es erfasst wird. Die Monate, die die Rückkehr der Krise des Systems einläuteten, sahen das Wiederauferstehen eines anderen alten Gespenstes: das der Inflation. Hunderte Millionen Menschen in den ärmeren Gebieten dieser Welt erlebten einen plötzlichen Anstieg der Preise für Weizen, Mais und Reis, mancherorts um 100 Prozent, der für sie gleichbedeutend mit dem Hungertod war. In zwei Dutzend Ländern kam es zu Hungerrevolten, und zu Streiks in Bangladesch, Ägypten und Vietnam. Die Umstände mögen für die meisten Menschen in den alten Industrieländern nicht ganz so verheerend sein, aber die steigenden Preise für Nahrung (um 12,5 Prozent im August) und für Energie (um 30 bis 50 Prozent, ebenfalls im August) bedeuten eine enorme Bürde. Eine Umfrage von uSwitch ergab, dass Haushalte im Medianbereich heute 40 Pfund weniger zur Verfügung haben und dass die Menschen in den traditionellen Arbeitervierteln am meisten leiden. Die Menschen werden jetzt schon gezwungen, auf notwendige Ausgaben und gelegentliche Genussartikel zu verzichten, während die Finanzkrise weiteres Unheil androht. Für viele Rentner könnte dieser Winter einen frühen Tod durch Unterkühlung bedeuten.

Die Nahrungs- und Energiekrise hat ihre Wurzeln im gleichen Irrsinn, der auch die Überschuldung und das Abrutschen vom Auf- in den Abschwung zu verantworten hat.

Das weltweit langsame Wachstum des Kapitalismus in den 1980er und 90er Jahren bedeutete, dass Preise von ihrem sehr hohen Niveau Mitte der 1970er und in den frühen 1980er Jahren real fielen. Die großen Ölgesellschaften machten immer noch Profite, aber sie hielten Investitionen in die Suche nach neuen Ölreserven, noch mehr in den Ausbau von Raffinerien, zurück. Noch weniger investierten sie ernsthaft in Alternativen zu Öl und Kohle, trotz der mittlerweile unwiderlegbaren Beweise, dass der CO2-Ausstoß für einen potenziell verheerenden Klimawandel verantwortlich ist. Dann kamen die schuldengetriebenen Aufschwünge der späten 1990er und frühen 2000er Jahre. Die US-Wirtschaft wuchs schnell, gerade als das schnelle industrielle Wachstum in China sich auf das Weltsystem als Ganzes auszuwirken begann. Der weltweite Ölverbrauch stieg zu einer Zeit an, als der US-Imperialismus gerade mit seinem Krieg gegen den Irak loslegte. Öl, das in den späten 1990er Jahren noch 10 Dollar pro Fass gekostet hatte, überschritt die 30 Dollarmarke, dann waren es 70 Dollar und zeitweise über 100 Dollar. Als die Profite der Ölmultis und die Preise für Öl, Gas und Kohle in die Höhe schossen, begannen Finanzspekulanten, einen Teil ihrer Gelder aus dem Zocken mit Häusern in das Zocken mit Energiepreisen zu verlagern.

Ähnliche Faktoren liegen den steigenden Nahrungsmittelpreisen zugrunde. Das langsame Wachstum der Weltwirtschaft in den 1980er und 90er Jahren bedeutete, dass es wenig Ansporn gab, in die Produktion von Nahrungsmitteln zu investieren. Dann stieg die Nachfrage der Mittelschichten Chinas und Indiens nach Fleisch, hinzu kamen plötzlich schlechte Wetterbedingungen in wichtigen Getreide produzierenden Ländern wie Australien, mit der Folge einer weltweiten Verknappung der Nahrungsmittel. Diese wurde noch durch die Politik von US-amerikanischen und europäischen Regierungen verschärft, Ernteerträge nicht der Nahrungsmittelproduktion für Menschen zuzuführen, sondern der Herstellung von Biosprit, um die „Energiesicherheit“ aufrechtzuerhalten und unter dem Vorwand, mit Biosprit die Menge der klimaschädlichen Gase verringern zu wollen.

Diejenigen, die die Schaffung dieses multiplen Chaos beaufsichtigt haben, verlangen nun von uns, dass wir den Preis dafür zahlen. Uns werden Lohn-, Renten- und Sozialleistungserhöhungen zur Deckung der steigenden Nahrungsmittel- und Energiekosten mit dem Hinweis verwehrt, damit würde die Inflation angeheizt. Das behaupten Brown und Darling, und von Cameron oder Clegg ernten sie keinen Widerspruch. Wie immer, wenn eine Krise ausbricht, sagen sie, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, und lassen dabei außer Acht, dass manche privilegierte Menschen mit einer Peitsche in der Hand über uns restlichen stehen, die an die Ruder gekettet sind.


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016