Chris Harman


Vor 40 Jahren – Die Kämpfe von 1968

(Mai 2008)


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Die meisten Betrachter der entwickelten kapitalistischen Länder Mitte der 60er Jahre glaubten, das System habe seine Probleme aus der Zwischenkriegszeit abgeschüttelt. Es wurde nicht mehr von immer tieferen Krisen, endloser wirtschaftlicher Ungewissheit und politischer Polarisation zwischen revolutionärer Linken und faschistischer Rechten geplagt.

Der deutsch-amerikanische ‚Marxist‘ Herbert Marcuse schrieb, dass „ein übergeordnetes Interesse am Erhalt und der Verbesserung des institutionellen Status quo die einstigen Widersacher [die Bourgeoisie und das Proletariat] auf den fortgeschrittendsten gesellschaftlichen Gebieten“ vereinige.

Es hatte den Anschein, als sei die Geschichte oder zumindest die Geschichte der Klassenkämpfe an ihr Ende gelangt – außer vielleicht in der Dritten Welt. Aber eine Serie sozialer Unruhen und erbitterter Streiks kennzeichnete die Zeit ab Mitte der 60er Jahre. Weit entfernt von ihrem Ende legte die Geschichte an Fahrt zu.
 

1968: Der plötzliche Klang der Freiheit

Für gewöhnlich bezeichnet man das Jahr 1968 als das ‚Jahr der Studentenrevolte‘. Es war wirklich ein Jahr, das studentische Proteste, Demonstrationen und Besetzungen auf der ganzen Welt erlebte – in Westberlin, New York und Harvard, Warschau und Prag, Mexiko City und Rom. Aber in dem Jahr ereignete sich weit mehr als das. Es wurde Zeuge vom Höhepunkt der Revolte schwarzer Amerikaner, dem größten Schlag gegen das Ansehen des US-Militärs (in Vietnam), dem Widerstand gegen russische Truppen (in der Tschechoslowakei), dem größten Generalstreik der Weltgeschichte (in Frankreich), dem Anfang einer Welle von Arbeiterkämpfen, die die italienische Gesellschaft noch sieben Jahre lang erschüttern sollte, und des Beginns der später ‚Troubles‘ genannten Kämpfe in Nordirland. Die Studentenkämpfe bildeten ein Symptom für den Zusammenstoß größerer sozialer Kräfte, auch wenn sie auf diese zurückwirken und sie beeinflussen sollten.

Die Ausbrüche von 1968 waren ein Schock, weil die Gesellschaften, in denen sie auftraten, einen so stabilen Anschein erweckt hatten. Der McCarthyanismus hatte die Linke zerstört, die in den 30er Jahren in den USA existiert hatte, und die Gewerkschaftsführer des Landes waren notorisch bürokratisch und konservativ. Die Tschechoslowakei war das florierendste der osteuropäischen Länder und wurde am wenigsten von den Unruhen von 1956 beeinträchtigt. Frankreich stand seit zehn Jahren fest unter der diktatorischen Herrschaft de Gaulles, die Linke schnitt in Wahlen schlecht ab, und die Gewerkschaften waren schwach. In Italien kamen und gingen die Regierungen, aber sie wurden immer von Christdemokraten geführt, die sich auf die katholische Kirche stützten, um das Volk zu ihren Gunsten an die Urnen zu locken.

Ein Großteil der Stabilität war dem Wirtschaftswachstum geschuldet, das diese Länder erfahren hatten. Aber allein dieses Wachstum schuf Kräfte, die die Stabilität unterhöhlten, und diese Kräfte ließen die politischen und ideologischen Strukturen 1968 platzen.

In den USA stand die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung zu Beginn des großen Booms da, wo sie am Ende der Sklaverei stand – sie war Teilpächter von Farmen im ländlichen Süden, wo der lokale Staat und die weißen Rassisten das Gewehr, die Peitsche und den Strick einsetzten, um sie zur Akzeptanz ihrer untergeordneten Position zu zwingen. Der Boom beschleunigte das Abwandern in die Städte, um dort Arbeit in der Industrie zu finden. 1960 waren drei Viertel der Schwarzen Städter. Schon die zahlenmäßige Konzentration ließ das Selbstvertrauen entstehen, mit dem sie sich gegen die Rassisten und den Staat erhoben. 1955 entfachte die Weigerung einer schwarzen Frau, Rosa Parks, sich in den Trennbereich im hinteren Bus zu setzen, einen gewaltigen Busboykott, der die alten Machtstrukturen Montgomerys, Alabama, erschütterte. 1965, 1966 und 1967 ereigneten sich schwarze Aufstände in den nördlichen Städten wie Los Angeles, Newark und Detroit. 1968 ging nach der Ermordung Martin Luther Kings buchstäblich jedes Ghetto im Land in Rauch auf, und ein Großteil der schwarzen Jugendlichen identifizierte sich zunehmend mit der Partei der Black Panther, die zu bewaffneter Selbstverteidigung und zur Revolution aufrief.

Das Vermögen der existierenden Ordnung in Frankreich und Italien zur Selbststabilisierung Ende der 40er Jahre – und im faschistischen Spanien und Portugal zur eigenen Erhaltung – beruhte auf dem Umstand, dass ein großer Anteil der Menschen dieser Länder immer noch Kleinbauern waren, die man zur Unterstützung des Status quo schmieren oder zwingen konnte. Der ideologische Ausdruck dessen war der Druck, den die hochkonservative katholische Kirche in vielen Regionen ausübte. Der lange Boom veränderte das. 1968 konzentrierten sich eine große Zahl Männer und Frauen mit bäuerlichem Hintergrund in den Fabriken und anderen großen Arbeitsstätten der Länder Südeuropas. Zunächst neigten sie zur Aufrechterhaltung ihrer ländlichen Vorurteile, widersetzten sich dem Beitritt in die Gewerkschaften oder unterstützten die konservativen katholischen Arbeitnehmervertretungen. Aber sie waren mit derselben Lage konfrontiert wie die älteren Gruppen Arbeiter, die sich noch an die Kämpfe der 30er Jahre und an die großen Streiks gegen Ende des Krieges erinnerten – mit dem unaufhörlichen Anhalten zu härterer Arbeit, der Schikane durch Vorbeiter und Manager und dem Druck auf die Löhne durch steigende Preise. 1968 und 1969 sollten sie sich zu einer mächtigen Kraft verschmelzen, die das System bedrohte.

Die Stabilität der Tschechoslowakei Mitte der 50er Jahre war ebenfalls das Ergebnis einer boomenden Wirtschaft. Ein Wachstum von etwa sieben Prozent im Jahr hatte der herrschenden Bürokratie Zuversicht verliehen und eine beträchtliche Erhöhung der Reallöhne ermöglicht. Anfang der 60er Jahre erschöpfte sich die Wachstumsrate und führte zum Aufbau von Frustrationen auf jeder Gesellschaftsebene und zu Spaltungen in der herrschenden Bürokratie. Führende Parteifiguren zwangen den Präsidenten und Parteisekretär Nowotny zum Rücktritt. Intellektuelle und Studenten ergriffen die Möglichkeit, sich zum ersten Mal innerhalb der vergangenen 20 Jahre frei zu äußern. Der gesamte Zensurapparat brach zusammen, und die Polizei erweckte auf einmal den Anschein, dem wachsenden Unmut keinen Einhalt bieten zu können. Die Studenten bildeten einen freien Studentenverband, die Arbeiter begannen, staatlich bestimmte Gewerkschaftsführer abzusetzen, Minister wurden im Fernsehen für ihre Politik in die Mangel genommen, und eine öffentliche Diskussion über die Schrecken der stalinistischen Ära entfaltete sich. Für die Herrscher Russlands ging das zu weit. Im August 1968 entsandten sie eine gewaltige Zahl Truppen in das Land und verschleppten Schlüsselfiguren der Regierung in die Haft nach Moskau.

Sie waren davon ausgegangen, den Unmut über Nacht zerschlagen zu können, aber die direkte Auswirkung war seine Vertiefung und Ausweitung. Gegen die russischen Panzer gab es nur begrenzte physische Gegenwehr, aber einen gewaltigen passiven Widerstand. Russland sah sich gezwungen, der tschechoslowakischen Regierung die Heimkehr gegen das Versprechen zu gestatten, die Unruhe unter Kontrolle zu bringen. Es sollte neun Monate dauern, in die immer wieder Streiks und Demonstrationen fielen, bis dieses Versprechen eingelöst wurde. Schließlich gelang es Russland, eine Marionettenregierung zu installieren, die die offene Opposition zum Schweigen brachte, indem sie den Menschen ihren Arbeitsplatz nahm und sie in einigen Fällen verhaftete. Der stalinistische Staatskapitalismus sollte die Tschechoslowakei für weitere 20 Jahre beherrschen.
 

Bratislava 1968

Nun war der ideologische Schaden für das stalinistische System gewaltig. International belebte das Geschehen wieder die Zweifel, die die Menschen in der Linken 1956 gefühlt hatten. Die meisten Kommunistischen Parteien Westeuropas verurteilten die russische Besatzung, wenn auch nur zur Erleichterung der Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen und mittelständischen Politkräften in ihrem Heimatland. Unter den Jugendlichen, die sich nach links bewegten, wurde es zum Gemeinplatz, den „Imperialismus Ost wie West“ zu verurteilen. In Osteuropa einschließlich der Tschechoslowakei war die Mitgliedschaft in den herrschenden Parteien immer weniger mit irgendeiner ideologischen Überzeugung verbunden – der Eintritt in die Partei bildete einen Schritt in der Karriere, nicht mehr und auch nicht weniger.

Selbst die Probleme, denen die USA in Vietnam gegenüberstanden, wurden in gewisser Weise vom langen Boom erzeugt. Die Tet-Offensive war es, die den Krieg 1968 auf die Mitte der Weltbühne rückte. Aber Tet stellte nicht die durchschlagende Niederlage der US-Streitkräfte dar. Damals brüsteten sich die Vereinigten Staaten mit der Rückeroberung der Kontrolle über die Städte – obwohl ein General sich in einem Fall zum Eingeständnis gezwungen sah: „Wir mussten die Stadt vernichten, um sie zu retten.“ Tet bildete den Wendepunkt im Krieg, weil er Schlüsselbereiche des großen Geldes davon überzeugte, dass die USA einfach nicht die Kosten aufbringen konnten, die die Aufrechterhaltung der Kontrolle über das Land erforderte. Die USA gaben für den Krieg nicht mehr aus, als sie es in Korea getan hatten. Aber der inzwischen eingesetzte Boom hatte den Aufstieg des japanischen und des deutschen Kapitalismus miterlebt, und die Vereinigten Staaten konnten es sich nicht leisten, sich den Herausforderungen ihrer wirtschaftlichen Konkurrenz zu stellen und gleichzeitig die Kosten eines Landkrieges in Vietnam zu bezahlen. Wie die Dinge standen, verhinderte der Krieg Präsident Johnsons Projekt eines ‚Great Society‘-Programms von Sozialausgaben, von dem er sich Ansehen und für die USA langfristige Stabilität erhoffte.

Schließlich hatte der lange Boom in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zu einer gewaltigen Zunahme der Studentenzahlen geführt. Überall förderte der Staat eine erhebliche Ausweitung der höheren Bildung, weil er versuchte, die Konkurrenzfähigkeit seines nationalen Kapitalismus zu stärken. In Britannien, wo es während des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges 69.000 Studenten gab, waren es 1964 fast 300.000. Das Wachstum erzeugte auch einen qualitativen Wandel in der Zusammensetzung der Studentenschaft. Stammte sie in der Vergangenheit überwiegend aus der herrschenden Klasse und ihrem Anhang, sollte sie sich nun hauptsächlich aus Kindern des Mittelstandes und in geringerem Maße der Arbeiterklasse rekrutieren. Die Universitäten, an denen die Masse der Studenten studierte, waren zunehmend groß und nach gleichem Muster gebaut und konzentrierten die Studenten auf dieselbe Weise, wie die Arbeiter in den Betrieben konzentriert wurden. Die Studentenaktivisten im kalifornischen Berkeley beklagten sich über diese „Wissensfabriken“.

An diesen Orten kamen die Studenten nur drei oder vier Jahre zusammen, ehe sie sich zu äußerst unterschiedlichen Klassenpositionen in der breiteren Gesellschaft begaben. Aber die Lage, in der sie sich wiederfanden, konnte eine Gefühls- und Interessensgemeinschaft hervorbringen, die sie zu kollektivem Handeln veranlassen konnte. Etwas anderes konnte dieselbe Wirkung erzeugen – die ideologischen Spannungen in der breiteren Gesellschaft. In konzentrierter Form existierten diese in einem Milieu, in dem von Tausenden Jugendlichen – als Studenten der Soziologie, Literatur-, Geschichts- oder Wirtschaftswissenschaften – erwartet wurde, ideologische Themen aufzunehmen und wiederzugeben.

Das bedeutete, dass die Fragen, die die breitere Gesellschaft aufwarf, an den Universitäten explosiv werden konnten. So entstanden die Studentenkämpfe in Berlin während eines Staatsbesuches des despotischen Schahs von Iran aus der Ermordung eines Demonstranten durch die Polizei heraus, in den USA aus den Schrecken des Krieges gegen Vietnam und aus der Solidarität mit den Kämpfen der Schwarzen, in Polen aus den Protesten gegen die Verhaftung von Regimekritikern, in der Tschechoslowakei als Teil des Widerstandes gegen die russische Besatzung.

Kämpfe, die sich an Studentenfragen entzündet hatten, verallgemeinerten sich rasant, bis sie den Gesamtcharakter der Gesellschaft in Angriff nahmen. Am dramatischsten zeigte sich das in Frankreich. Auf kleine Studentenproteste gegen die Lernbedingungen reagierten die Behörden mit der Schließung der ganzen Universität Paris und der Entsendung der Polizei. Entsetzt von der Polizeigewalt beteiligte sich eine zunehmende Zahl Studenten an den Protesten, bis die Polizei in der ‚Nacht der Barrikaden‘ (am 10. Mai) kurzfristig aus den linken Stadtteilen vertrieben wurde. Die Studentenbewegung stand schnell als Symbol für den erfolgreichen Widerstand gegen die gesamte Ordnung, über die de Gaulle mit seinen autoritären Methoden und seiner Bereitschaft herrschte, bewaffnete Polizei zur Zerschlagung von Streiks und Protesten einzusetzen. Als Reaktion auf den Druck von unten riefen die Führer der rivalisierenden Gewerkschaften zu einem eintägigen Generalstreik am 13. Mai auf – und waren selbst von der Beteiligung überrascht. Durch den Erfolg des Generalstreiks ermutigt begannen jugendliche Arbeiter am nächsten Tag mit der Besetzung des Sud Aviation-Betriebes in Nantes. Andere Arbeiter folgten dem Beispiel, und innerhalb zweier Tage durchlief das ganze Land eine Wiederholung der Besetzungen von 1936 – allerdings in viel größerem Maßstab. Zwei Wochen war die Regierung wie gelähmt, und der Großteil der Berichterstattung in den Medien, die weiterhin erschienen, drehte sich um die zutage tretende ‚Revolution‘. Ein völlig verzweifelter de Gaulle floh unter Geheimhaltung zu den Generälen, die die französischen Streitkräfte in Deutschland kommandierten, nur um mitgeteilt zu bekommen, es sei seine Aufgabe, die Agitation zu beenden. Das schaffte er schließlich, weil den Gewerkschaften und vor allem der Kommunistischen Partei die Zusicherung von Lohnerhöhungen und einer neuen Wahl aureichte, um die Menschen zur Rückkehr an die Arbeit zu drängen.
 

Berlin 1968

Selbst vor den Maiereignissen führte die Ausweitung der internationalen Studentenkämpfe zu einer Popularität der revolutionären Sprache. Aber bis zum Mai stand eine derartige Sprache unter dem Einfluss von den Vorstellungen von Menschen wie Herbert Marcuse, die Abschied von den Arbeitern genommen hatten. Das veränderte der Mai. Von da an herrschte eine wachsende Neigung vor, eine Verbindung zum Geschehen in den Jahren 1848, 1871, 1917 und 1936 herzustellen – und manchmal zu den Ereignissen von 1956. Marxistische Ideen, die 20 Jahre oder mehr dazu verdammt waren, eine Randexistenz im etablierten Geistesleben im Westen zu fristen, kamen plötzlich in Mode. Und 30 Jahre später sollten alternde Intellektuelle in der gesamten westlichen Welt noch immer von den Auswirkungen ‚der Sechziger‘ schwärmen oder sie beklagen.

Nicht nur die Kultur im engen intellektuellen Sinn wurde von 1968 beeinflusst. So geschah es auch vielen Elementen der breiteren ‚Massen‘- oder ‚Jugend‘-Kultur. Die Vorurteile, mit denen Jugendliche aufwachsen, wurden in Frage gestellt. Es kam zu radikalen Veränderungen in der Kleidung und dem Haarschnitt und der breiten Übernahme von Mode, die bisher nur mit Minderheiten der ‚Subkultur‘ in Verbindung gebracht wurde. Der Konsum von Drogen (hauptsächlich Marihuana, Amphetaminen und LSD) fand weite Verbreitung. Wichtiger noch, eine wachsende Zahl Hollywoodfilme stellte den Amerikanischen Traum eher in Frage als ihn zu propagieren, und die Pop-Musik griff zunehmend andere Themen auf als sexuelles Verlangen und romantische Liebe.

In den Vereinigten Staaten ebneten die ursprünglichen ‚Bewegungen‘ – die Bürgerrechts- und Black Liberation-Bewegung, die Antikriegs- und die Studentenbewegung – anderen Bewegungen den Weg. Sie inspirierten die Indianer, den Kampf gegen ihre Unterdrückung aufzunehmen, und die Homosexuellen in New York, sich gegen die Überfälle auf ihre Clubs zu wehren. Die Erfahrung der Bewegungen brachte auch Tausende Frauen dazu, die untergeordnete Rolle abzulehnen, die ihnen in der US-Gesellschaft zugeteilt war – und viel zu oft auch innerhalb der Bewegungen. Sie gründeten die Women's Liberation Movement und erhoben Forderungen, die die Unterdrückung hinterfragten, die die Frauen seit Entstehung der Klassengesellschaften zu erleiden hatten, womit sie auf den Widerhall bei jenen Frauen stießen, die keine direkte Verbindung zur Bewegung besaßen. Der Umstand, dass die Mehrheit der Frauen allmählich ein Leben lang zur berufstätigen Arbeitskraft gehörte und die damit verbundene Unabhängigkeit genoss, verschaffte sich Ausdruck.
 

Die neue Sackgasse

Die Welle der Radikalisierung verebbte nicht 1968. Die größten Studentenproteste in den USA ereigneten sich 1970. Nachdem Truppen der Nationalgarde Studenten an der Kent State University in Ohio erschossen hatten, weil sie gegen Präsident Nixons Ausweitung des Vietnamkrieges nach Kambodscha demonstriert hatten, wurden im ganzen Land Universitäten besetzt. In Griechenland brach die Studentenbewegung 1973 mit der Besetzung des Polytechnicums in Athen aus, die die Militärjunta erschütterte, welche das Land sechs Jahre lang beherrscht hatte, und zu deren Sturz sieben Monate später beitrug. In Westdeutschland stachen die Universitäten noch weitere Jahre als Ghettos für linke (hauptsächlich maoistische) Agitation inmitten eines sonst apolitischen Landes hervor.

Trotzdem kam es nach 1968 in verschiedenen Ländern zu bedeutenden Verlagerungen. Die Studenten bildeten nicht mehr das Zentrum der linken Opposition. In Italien wurde die Arbeiterbewegung nach dem ‚Heißen Herbst‘ von 1969 ausschlaggebend, als die Metallarbeiter ihre Betriebe während Lohnkämpfen besetzten. Auch in Spanien spielte die Arbeiterbewegung Ende des Jahres 1970 die zentrale Rolle und schwächte so das Regime in den letzten Jahren im Leben Francos, das seine Nachfolger fast schon im Moment seines Sterbens 1975 im Eilschritt ‚demokratischen‘ Reformen unterzogen. In Britannien beschädigte die gewerkschaftliche Aktivität, die gegen den Willen der Gewerkschaftsführer stattfand, die konservative Regierung Edward Heath's so nachhaltig, dass er Anfang 1974 eine Wahl unter dem Titel „Wer hat das Sagen im Land?“ anberaumte – und unterlag.

Beizeiten vermochten die Studenten Kämpfe zu entfachen, die die Arbeiter einschlossen, aber wie die Kämpfe endeten, hing von den Arbeiterorganisationen ab. Deutlich zeigte sich das im französischen Mai 1968, als es den Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei gelang, den Generalstreik trotz der Einwände des bekanntesten Studentenführers zu beenden. 1975-76 zeigte sich das wieder in Italien, Britannien und Spanien. Die italienischen Christdemokraten, die britischen Konservativen und Franco in Spanien konnten die Arbeiterkämpfe nicht selbst drosseln. Das gelang Regierungen nur mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen mit den Gewerkschaftsführern und Arbeiterparteien – was in Italien als ‚historischer Kompromiss‘, in Britannien als ‚Sozialvertrag‘ und in Spanien als ‚Moncloa-Pakt‘ bezeichnet wurde.

Noch während der lange Boom sich seinem Ende neigte, wirkte sich das in jedem einzelnen Fall als Eindämmung der Aktionen der Arbeiterklasse aus und veringerte die Aufmerksamkeit der Menschen, als man zum K.o.-Schlag gegen sie ausholte.

Auch in einer weiteren Weltregion führte der studentische Radikalismus Ende der 60er Jahre zu einer Welle von Arbeiterkämpfen in den 70ern – dem südlichen ‚Zapfen‘ Lateinamerikas. Die späten 60er Jahre erlebten einen Beinahe-Aufstand im argentinischen Cordoba mit, und eine Welle Landbesetzungen setzte den christdemokratischen Präsidenten Chiles unter Druck. In beiden Fällen wurde das Verlangen nach Veränderung in verfassungsmäßige Bahnen gelenkt.

In Argentinien konzentrierte es sich auf die Forderung nach der Rückkehr des Nachkriegsdiktators Peron aus dem Exil. Er hatte in einer Zeit geherrscht, als sich die hohen Weltmarktpreise für argentinische Landwirtschaftsexporte in relativ hohen Löhnen und einer Sozialfürsorge für die Arbeiter niederschlugen. Die Menschen hofften, seine Rückkehr würde auch die gute alte Zeit zurückbringen. Diese Botschaft wiederholten die rivalisierenden linken und rechten Peron-Anhänger – und selbst eine mächtige Stadtguerilla-Organisation, die Montoñeros. Seine schließliche Rückkehr brachte allerdings keine Verbesserungen für die Arbeiter, sondern entfesselte einen Angriff durch die Rechte und das Militär, der die Linke völlig unvorbereitet traf. Nach Perons Tod fühlte das Militär sich stark genug, die Macht direkt in die eigenen Hände zu nehmen. Eine ganze Generation linker Aktivisten, deren Zahl in die Zehntausende ging, wurde ermordet oder ‚verschwand‘ einfach.

In Chile war die parlamentarische Sozialistische Partei Nutznießerin der neuen Radikalität. Salvador Allende, einer ihrer Führer, wurde 1970 zum Präsidenten gewählt, und die rechte Parlamentsmehrheit gab seiner Amtsübernahme ihre Zustimmung gegen eine verfassungsmäßige Garantie, dass er die militärische Befehlskette nicht antasten würde. Wichtige Geschäftslobbyisten aus den USA wollten sich damit nicht zufriedengeben, und nach zwei Jahren von Allendes Amtszeit gesellten sich ihnen die ausschlaggebenden Teile der chilenischen herrschenden Klasse hinzu. Ein Versuch, ihn durch einen ‚Streik der Bosse‘ zum Rücktritt zu zwingen, wurde 1972 von den Lastwagenbesitzern angeführt. Die Arbeiter vereitelten ihn mit der Übernahme der Fabriken und der Errichtung von cordones – die den Arbeiterräten von 1917 und 1956 ähnelten –, die als Bindeglieder zwischen den Fabriken fungierten. Ein Putschversuch im Juni 1973 scheiterte an Spaltungen innerhalb der Streitkräfte und an massiven Protesten auf der Straße. Aber die Kommunistische Partei und bedeutende Bereiche der Sozialistischen Partei wiesen die Menschen an, die cordones herunterzufahren und der ‚Verfassungstreue‘ der Armee zu vertrauen. Im Glauben, er beschwichtige damit die Rechte und erhalte gleichzeitig die Ordnung aufrecht, nahm Allende Generäle einschließlich Augusto Pinochet in seine Regierung auf. Im September inszenierte Pinochet einen Putsch, bombardierte Allende in seinem Präsidentenpalast und ermordete Tausende Arbeiteraktivisten. Während die Arbeiterbewegung in Europa von ihren eigenen Führern in den Schlaf gewiegt wurde, wurde sie in Lateinamerika in Blut ertränkt.

Die 1968 entzündete Flamme sollte noch einmal in Europa aufflackern. Seit Ende der 20er Jahre war Portugal eine Diktatur mit faschistischen Charakterzügen. Aber Mitte der 70er verlor es den Krieg zur Kontrolle seiner afrikanischen Kolonien. Im April 1974 stürzte ein Putsch den Diktator Caetano und ersetzte ihn durch Spinola, einen konservativen General, den die wichtigen Monopole des Landes unterstützten und der eine Regelung der Kriege aushandeln wollte.

Der Zusammenbruch der Diktatur setzte eine wahre Kampfeswelle frei. Die großen Werften von Lisnave und Setnave wurden besetzt. Bäcker, Post- und Flughafenarbeiter traten in Streik. Viele Armeegeneräle, die das Risiko der Putschorganisation getragen hatten, waren viel radikaler als Spinola und verlangten die sofortige Beendigung des Krieges, während Spinola ihn in die Länge ziehen wollte, bis die Befreiungsbewegungen die Bedingungen akzeptierten, die die portugiesischen Geschäftsinteressen wahren sollten. Die einzig angemessen organisierte Untergrundpartei war die Kommunistische Partei. Ihre Führer schlossen einen Pakt mit Spinola zur Beilegung der Streiks (womit sie sich das Misstrauen der meisten mächtigen Arbeitergruppen im Bezirk Lissabon einhandelten), traten der Regierung bei und versuchten, ihre mittelständischen Anhänger in einflussreiche Positionen innerhalb der Streitkräfte und der Medien zu hieven. Ihr Ziel bestand im eigenen Machtzuwachs durch einen Balanceakt zwischen den Arbeitern und den Generälen, bis sie stark genug waren, ein Regime zu installieren, das dem Muster Osteuropas nach dem Krieg folgte.

Das stellte sich allerdings als undurchführbares Manöver heraus. Die Kommunistische Partei konnte die Militanz der Lissabonner Arbeiter nicht ersticken, die Unzufriedenheit in der Armee, die zum Wachstum der linken Kräfte führte, nicht beenden und die Panik innerhalb des westlichen Kapitalismus angesichts der revolutionären Ereignisse an seiner Türschwelle nicht beruhigen.

Zwei gescheiterte rechte Putschversuche führten zur Amtsenthebung Spinolas und zu einer weiteren Radikalisierung der Arbeiter und Armeeränge. Mit Unterstützung der CIA und der sozialdemokratischen Regierungen Westeuropas organisierte die Rechte eine Serie von Beinahe-Aufständen im ländlichen Portugal. Die Armeegeneräle, die tatsächlich die militärische Macht ausübten, pendelten von einer politischen Option zur nächsten. Im November 1975 gelang es einem ranghohen Offizier mit sozialdemokratischem Hintergrund, die linken Offiziere zu einem halbherzigen Versuch der Machtübernahme zu provozieren, den er als Rechtfertigung benutzte, mehrere hundert disziplinierte Truppen nach Lissabon in Marsch zu setzen, um die unzufriedenen Regimenter zu entwaffnen. Die Kommunistische Partei, die noch vor ein paar Wochen – als ein ihr nahestehender Offizier das Amt des Premierministers bekleidete – einen so machtvollen Anschein erweckt hatte, unternahm keinen Versuch zur Organisation des Widerstandes der Arbeiter. Eine Revolution, die den Führern des europäischen und amerikanischen Kapitalismus im Sommer 1975 Sorgen bereitet hatte, nahm ihre Niederlage im Herbst mit kaum vernehmbarem Murren hin.
 

A hard rain

Der lange Boom fand im Herbst 1973 sein abruptes Ende, als die Wirtschaftssysteme des Westens zum ersten Mal seit den 30er Jahren gleichzeitig in eine Krise eintraten und die Arbeitslosigkeit sich verdoppelte. Das reichte aus, um allerorts Panik in den Regierungen und Geschäftskreisen zu erzeugen. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler hatten nie vermocht zu erklären, wie die Krise der 30er Jahre entstehen konnte, und keiner von ihnen konnte sich sicher sein, dass man nicht vor einer ähnlichen Situation stand.

Die wirtschaftliche Dynamik lief zwar auch im ‚Bleiernen Zeitalter‘ weiter, aber statt der Masse der Bevölkerung verbesserte Lebensbedingungen zu bieten wie im langen Boom, drohte sie, ihr zu entreißen, was sie sich in der Vergangenheit erarbeitet hatte. Ganze Industriezweige verschwanden, und Städte verödeten. Sozialleistungen wurden auf das Niveau von 50 Jahren zuvor gestutzt – oder in einigen US-Staaten direkt ganz abgeschafft. Gleichzeitig feierte eine neue Sorte strammer rechter Politiker, die man als ‚Thatcheristen‘ oder ‚Neoliberale‘ kennt, das freie Wirken der Marktkräfte und fand damit Anklang bei einer Schicht sozialdemokratischer Politiker, die eine Rückkehr zu diesen Glaubenssätzen aus der Politik des 19. Jahrhunderts als Beweis ihrer ‚Modernität‘ ansahen.

Der Ruck nach rechts übte seinen Einfluss auf die radikale Linke aus, die durch ihre Niederlagen Mitte der 70er Jahre noch immer demoralisiert war – und manchmal auch durch die Entdeckung der Wahrheit über China und das blutige Regime, das die prochinesischen Roten Khmer in Kambodscha installiert hatten. Einige zogen den Schluss, das ganze revolutionäre Unternehmen sei ein einziges Missverständnis gewesen. Einige hielten ihre Kritik am parlamentarischen Reformismus für überzogen. Einige schlussfolgerten, der Klassenkampf gehöre der Vergangenheit an.

Tatsächlich ereigneten sich in den 80er Jahren große und teils gewaltsame Klassenkonfrontationen, als die Arbeiter versuchten, die Dezimierung ihrer Stellen in den alten Industriebranchen zu verhindern – der Kampf der Stahlarbeiter in Frankreich und Belgien, der ein Jahr währende Streik von 150.000 britischen Bergarbeitern und ein ebenso langer Streik der britischen Drucker, ein fünftägiger Generalstreik in Dänemark, ein Streik der Verwaltungsarbeiter in den Niederlanden und Britisch-Kolumbien und ein eintägiger Generalstreik in Spanien.

Aber alle diese Kämpfe wurden besiegt, und eine Erbschaft aus diesen Niederlagen war der wachsende Glaube, die ‚altmodischen‘ Methoden des Klassenkampfes funktionierten nicht mehr. Er veranlasste eine Schicht von Arbeiteraktivisten, ihre Hoffnungen wieder einmal auf die Versprechen der Parlamentspolitiker zu setzen. Er ermutigte auch linke Intellektuelle, schon die Konzepte Klasse und Klassenkampf aufzugeben. Sie nahmen zu einem Modetrend Zuflucht, der sich ‚Postmodernismus‘ nennt und behauptet, jede Interpretation der Realität sei genauso wertvoll wie eine beliebige andere, es gebe keine objektive Grundlage für Begriffe wie Klasse, und jeder Versuch, die Funktionsweise der Gesellschaft zu verändern sei ‚totalitär‘, weil er darauf hinauslaufe, eine Gesamtauffassung von der Welt über andere zu stellen. Postmodernisten lehnten die Vorstellung von einem Kampf für gesellschaftliche Veränderung ab, gerade als die gefährliche Instabilität der Gesellschaft sich immer deutlicher abzeichnete.


Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021