Chris Harman


Der bolivianische Aufstand

(Juli 2005)


Aus Argumente, Nr. 7, Juli 2005,
Ursprünglich aus Socialist Review, Juli/August 2005.
Übersetzt von David Meienreis.
Kopiert mit Dank von der ehemaligen Linksruck-Webseite.
HTML-Markierung: Einde O‘Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Bolivien wurde im Juni 2005 der Präsident gestürzt – durch eine Bewegung, die das Potential zur Revolution hat, schreibt Chris Harman.

Die Gegenwärtigkeit von Revolutionen im 21. Jahrhundert ist letzten Monat in den Straßen der bolivianischen Hauptstadt La Paz deutlich demonstriert worden. Die Medienberichte zeichnen ein Bild ähnlich dem von St. Petersburg im Sommer 1917, Berlin 1919 oder Barcelona im Herbst 1936. Sie erzählen von Generalstreiks, von Bauernmärschen auf die Hauptstadt, von der Besetzung von Brunnen und Flughäfen, von streikenden Bergarbeitern, die streikenden Lehrern Dynamitstangen reichen, um sie auf die Polizei zu werfen, von Versuchen, den Präsidentenpalast zu stürmen, von Plänen des ölkapitals im Osten des Landes, sich politisch unabhängig zu machen, von Arbeitern in La Paz, die „Bürgerkrieg, Ja!" skandieren, von einem Parlament, das aus Angst vor großen, wütenden Menschenmengen den Präsidenten absetzt. Aber auch vom „Waffenstillstand" zwischen den beiden Seiten, der ein Ende der Streiks und den Ruckzug der Demonstranten aus La Paz beinhaltet. Revolutionärer Eifer entlädt sich oft wie ein Blitz – in den unerwartetsten Formen.
 

Wirtschaftliche Zerstörung

Die 1980er und 1990er Jahre waren für die Menschen in Bolivien wie auch im restlichen Lateinamerika schreckliche Jahrzehnte. Wirtschaftliche Zerstörungen gingen Hand in Hand mit neoliberalen Strategien, die vom Wirtschaftsberater der Regierung, Lozada, in Zusammenarbeit mit dem Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs durchgesetzt wurden. Die Arbeiterklasse wurde von Fabrikschließungen schwer getroffen. 1985 wurden 20.000, die Hälfte aller Zinnbergarbeiter des Landes, entlassen. Die Politik wurde von der weißen Elite des Landes allein bestimmt Die Bauern klammerten sich an das Land, das ihnen in Folge der Revolution von 1952 zugeteilt worden war, und reagierten nicht auf Aufrufe zu weiteren Kämpfen. Die Linke des Landes war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bolivien war eines der wenigen Länder, in dem der Trotzkismus sich in der Arbeiterklasse verankert hatte und viele der wichtigsten Aktivisten unter den Bergarbeitern beeinflusste. Jetzt erschien er wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Seine wenigen Anhänger wiederholten alte Formeln, die nicht auf die Veränderungen eingingen, die sich im Land abspielten.

Die Veränderungen schufen langsam und kaum merklich neue Kräfte, die die bestehende Ordnung herausfordern konnten, sobald sich ein Anlass ergäbe. Die Bauern mussten erkennen, dass ihr Land ihnen nicht mehr sicher war, seit die Landwirtschaft den Marktgesetzen und den Agrarmultis ausgesetzt wurde. Die einzige Pflanze, die sie profitabel anbauen konnten, ist Coca, aus dem Kokain hergestellt wird. Diese geriet nun ins Visier des Drogenkrieges der USA. Weil sogar die entlegensten Dörfer Zugang zu den Medien bekamen, breitete sich das Wissen und die Empörung über die Unterdrückung der Indigenen (der Ureinwohner) aus, die zwei Drittel der Bevölkerung Boliviens ausmachen. Die Aymara und Quecha benutzen Spanisch nur als Zweitsprache. Sie fingen an, sich zu organisieren, um gegen die untergeordnete gesellschaftliche Stellung zu protestieren, in die sie seit der spanischen Eroberung vor 470 Jahren gedrängt wurden, und riefen voller Stolz die Erinnerung an Rebellionen aus den Jahren 1780 und 1899 wach.

Schließlich führte der Zusammenbruch älterer Industrien auch zum Entstehen einer neuen Arbeiterklasse. Ureinwohner ließen die Armut der ländlichen Regionen hinter sich und zogen auf der Suche nach neuen Einkommensquellen in Orte wie dem riesigen El Alto, das zu La Paz in ungefähr der gleichen Beziehung steht wie Soweto zu Johannesburg. Die Zahl der Industriearbeiter in den großen Städten wuchs zwischen 1986 und 1995 von 117.000 auf 231.000, 38 Prozent davon arbeiten in Betrieben mit mehr als 30 Angestellten. Zudem wuchs die Zahl der Bau- und Bergarbeiter. 1997 gab es schon ebenso viele Lohnabhängige wie Bauern, nämlich l,4 Millionen.

Die Logik des Kapitalismus selbst erweckte diese Kräfte zum Leben. Die Privatisierung der Wasserversorgung in der Cochabamba-Region führte zu einem steilen Preisanstieg für Arbeiter wie Bauern und veranlasste ab dem Jahr 2000 Zehntausende, zu demonstrieren, sich Schlachten mit der Polizei zu liefern und zu erkennen, dass sie das gesamte Land lahm legen konnten, indem sie wichtige Straßen blockierten. Der Erfolg der Kämpfe in Cochabamba ermutigte Kokabauern und Indigene anderswo, dieselbe Taktik anzuwenden. Deren Beispiel wiederum schuf eine neue kampfbereite Stimmung in Arbeitergegenden wie El Alto und hauchte dem Gewerkschaftsbund COB neues Leben ein. Eine neue Führung wurde ins Amt gewählt.

Ein Anzeichen der neuen Radikalität war, dass bei der Präsidentschaftswahl vor drei fahren der Anführer der Kokabauern, Evo Morales, und seine Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) nur knapp auf dem zweiten Platz landeten. Er und sein Gegenkandidat Lozada bekamen beide 20 Prozent der Stimmen – erst das Parlament bestätigte dann Lozada als Wahlsieger. Ein anderes Anzeichen war die Welle der Rebellionen im Februar 2003.

Die Nachricht, dass Lozada vorhatte, mit den neu entdeckten Gasvorkommen die einzige Aussicht des Landes auf Wohlstand an transnationale Konzerne zu verkaufen, brachte die Stimmung im Oktober 2003 zum Siedepunkt. Was als sporadischer Protest begonnen hatte, gipfelte plötzlich in Massenstreiks und Konfrontationen, nachdem die Polizei Dutzende von Demonstranten erschossen hatte, die sich auf einem Marsch in die Hauptstadt befanden. Daraufhin wurde El Alto zum Zentrum der Bewegung. Und damals entdeckten auch die Bergarbeiter ihre alten Kampftraditionen wieder und nahmen Dynamitstangen mit, um sich den protestierenden Massen in La Paz anzuschließen.

Präsident Lozada floh angesichts des spontanen Aufstands in einem Hubschrauber aus dem Land. Er war der dritte lateinamerikanische Präsident, der das in den vergangenen drei Jahren tun musste. Aber die Hunderttausenden von Demonstranten in La Paz und El Alto waren weder organisiert noch politisch bewusst genug, um zu bestimmen, durch wen er ersetzt werden solle. So nahm sein Stellvertreter Mesa seinen Platz ein. Die Mehrzahl der Demonstranten verließ La Paz in dem Glauben, einen großen Sieg errungen zu haben. Die neoliberale Politik wurde aber ungemindert fortgesetzt. Daraufhin beklagte ein Delegierter nach dem anderen auf einer erweiterten Sitzung des COB, dass sie die Frage einer Arbeiter- und Bauernregierung nicht auf die Tagesordnung hatten setzen können.

Wie oft in revolutionären Erhebungen folgte dem ersten erfolgreichen Aufstand eine Phase scheinbarer Stabilität. Es gab Versuche, die Wut der Menschen in nationalistische Bahnen und gegen Chile zu lenken, das die Küstenregion Boliviens vor mehr als 100 Jahren annektiert und das Land so seines Seezugangs beraubt hatte. Mesa ließ eine Volksabstimmung zum Thema Gas abhalten und schaffte es,die Frage so zu formulieren, dass er eine Mehrheit für seine Pläne bekam. Neue Mobilisierungsversuche erhielten nicht den Schub der Ereignisse vom Oktober.

Ein wichtiger Grund für den Stillstand war, wie auch in anderen revolutionären Erhebungen, dass einige politische Akteure und Gruppen, die die Bewegung zu Beginn voran gebracht hatten, dies jetzt nicht mehr taten. Sprecher der Ureinwohner wie Felipe Quispe von der Gewerkschaft der Landarbeiter hatten bei der Formulierung indigener Anliegen gegenüber der spanischsprachigen weißen Minderheit, die die Politik dominiert, eine wichtige Rolle gespielt. Aber jetzt ließen sie zu, dass die gerechtfertigte Wut der Ureinwohner über ihre Behandlung durch die „Mestizen“ (spanischsprachige Mischlinge) eine Spaltung hervorrief, die sie beim Angriff auf den gemeinsamen Gegner schwächte.

Evo Morales und seine MAS stellten das andere Sprachrohr für die Verbitterung der Ureinwohner dar und forderten eine verfassungsgebende Versammlung, um die politischen Institutionen des Landes unter Berücksichtigung seiner ethnischen Zusammensetzung umzugestalten. Unter dem Eindruck von Morales’ knapper Niederlage von 2002 schlugen sie die Strategie ein, Mesa an der Macht zu halten, damit Morales ihm 2007 auf „verfassungsmäßige Weise“ im Amt folgen könne. Daher rief die MAS bei der Volksabstimmung zur Gasfrage zur Zustimmung auf.

Die Führung des COB bewegte sich weiter links und forderte ihre Anhänger auf, sich zu enthalten oder den Wahlzettel ungültig zu machen. Aber ihre Traditionen waren immer noch sehr die der alten Arbeiterklasse und hatten wenig Einfluss bei den neu radikalisierten Kräften der Ureinwohner. Deren Forderung, an neuen demokratischen Strukturen beteiligt zu werden, tat der COB als „Abweichung“ ab. Im Ergebnis konnte Mesa nicht nur 21 Monate lang im Amt bleiben, sondern genoss während dieser Zeit auch noch die Unterstützung vieler, die im Oktober auf die Straße gegangen waren.

Allerdings stehen die Dinge nicht einfach still, wenn eine Massenbewegung sich in einer Flaute befindet. Jene, die mit der alten Ordnung verbunden sind, verlieren ihre Furcht und bestehen wieder auf ihrem gottgegebenen Recht zu regieren. Mesas Regierung wurde der von Lozada sehr ähnlich. Sie bereitete ein Gesetz vor, das den Löwenanteil der Gas- und Öleinnahmen in private Hände leiten sollte. Gleichzeitig machten die Kapitalisten um die Stadt Santa Cruz im Osten des Landes, wo die Gasreserven lagern, klar, dass sie ihre Region von Bolivien abspalten würden, falls die Einnahmen aus dem Gasverkauf für irgendwelche anderen Zwecke als ihre eigenen verwendet werden sollten. Und sie erhofften sich Unterstützung von den USA und von den vermeintlichen Mitte-Linksregierungen in Brasilien und Argentinien, deren staatliche Ölkonzerne über ihre Verbindungen zu Shell und BP von Boliviens Vorkommen profitieren würden.
 

Das Land war gelähmt

Das war der Funke, der die Massen in den Städten und auf dem Land wieder mobilisierte. Sie sahen, dass ihre einzige Chance, den Wohlstand des Landes zur Überwindung der Armut zu benutzen, ihnen weggeschnappt werden sollte. Sie beschlossen durch Abstimmung, wie schon vor 21 Monaten, das ganze Land lahm zu legen und den Präsidentenpalast und das Parlament zu belagern.

Nicht nur das Land war lahm gelegt, sondern auch seine herrschende Klasse. Mesa versuchte durchzuhalten, indem er zwischen den Sezessionisten in Santa Cruz und der Massenbewegung auf der Straße balancierte. Er versprach eine

verfassungsgebende Versammlung, die Morales und die MAS zufrieden stellen sollte, und ein Referendum über die Unabhängigkeit des Ostens, um die Ölkapitalisten in Santa Cruz zu beruhigen. Condoleezza Rice versicherte ihm ihre Unterstützung, und auch Morales sprach sich dagegen aus, ihn aus dem Amt zu entfernen.

Aber die Bewegung auf der Straße war mächtiger und radikaler denn je. Die nationalistischen Slogans vom Oktober 2003, die sich gegen die Einverleibung der Profite durch Ausländer gerichtet hatten, wandelten sich zu der Klassenforderung, das Gas im Interesse der Arbeiter, der Bauern und der städtischen Armen zu verstaatlichen.

Als klar wurde, dass Mesa nicht mehr zu halten war, zog das Parlament von La Paz nach Sucre um, wie schon (zur Zeit der Kommune in Paris 1871) die französische Nationalversammlung nach Versailles umgezogen war und (zur Zeit der Arbeiterräte 1918/1919) der deutsche Reichstag nach Weimar. Die Abgeordneten hofften, der Belagerung zu entfliehen und die Probleme im Sinne ihrer neoliberalen Mehrheit lösen zu können. Für kurze Zeit setzten sie ihre Hoffnungen auf Mesas Nachfolger Vaca Diez, einen Vertreter der Oligarchie von Santa Cruz. Aber es war schon zu spät. Sie wurden auch in Sucre belagert, da die Arbeiterbewegung die Transportverbindungen im ganzen Land blockierte. Der Kongress bestimmte statt Diez den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts Eduardo Rodriguez als Übergangs Präsidenten bis zu den Neuwahlen in sechs Monaten.

Derweil drang die Spitze der katholischen Kirche auf einen „Waffenstillstand". Die Regierungen von Brasilien und Argentinien übten Druck aus, und der US-Botschafter erklärte seine Zustimmung zu dem Deal. Nach hektischen Verhandlungen stellte sich auch Evo Morales hinter die Übereinkunft, da ihm Neuwahlen und eine verfassungsgebende Versammlung versprochen wurden. Entscheidend hierfür war nach Angabe des angesehenen Zeitung Clarin aus Buenos Aires ein Anruf von Hugo Chävez, dem Präsidenten von Venezuela.

Dieser Schritt reichte, um die Demonstrationen und die Streiks der Bergarbeiter zu beenden. Sie waren erschöpft von drei Wochen Kampf und des Mangels an Nahrungsmitteln, den die Straßenblockaden mit sich brachten.

Warum also hat eine Bewegung, die das Land bis ins Mark erschüttert hat, im Endeifekt so wenig erreicht? Das Problem besteht darin, dass sie zwar die Machtstrukturen der Gesellschaft lahm gelegt hat, aber keine eigene selbstorganisierte Alternative anbot. Ohne eine solche Alternative war sogar die Versorgung ihrer eigenen Aktivisten mit Lebensmitteln ein unlösbares Problem. Das Koordinierungskomitee des Kampfes in Cochabamba formulierte es so:

„Wir haben in den Kämpfen von Mai bis Juni zwei Dinge sehen können. Auf der einen Seite ist die großartige Stärke der sozialen Bewegungen in der Lage, das Land lahm zu legen und die Manöver des Big Business und der schlechten Regierungen zu durchkreuzen. Auf der anderen Seite sind wir nicht fähig gewesen, unsere eigenen Entscheidungen und Ziele der Regierung aufzuzwingen, obwohl sie sich in der schwersten Krise befindet, die man sich vorstellen kann."

Es gab einen Moment in der Krise im Juni, als die Frage, wer in der Gesellschaft die Macht hat, in der Schwebe hing. Man kann unter solchen Umständen nie mit Sicherheit sagen, ob die Bewegung der Arbeiter und Bauern die Macht hätte ergreifen können. Die Disziplin von Armee und Polizei kann in einer potentiell revolutionären Situation nur bestimmt werden, indem man sie in der Praxis testet und versucht, sie zu zersplittern. Man begibt sich in den Kampf, und dann muss man weiter sehen.

Aber in diesem Fall wurde der entscheidende Kampf nicht aufgenommen. Die Massen, die sich organisiert hatten, um die Regierung abzusetzen, waren nicht dazu organisiert, sie zu ersetzen. Als die Rechte daher ihren Kandidaten präsentierte, der nicht viel besser war als Mesa, akzeptierte die Bewegung diese Ersetzung unter dem selben vagen Gerede von einer verfassungsgebenden Versammlung, obwohl in der wichtigsten aller Forderungen, der Verstaatlichung des Öls, kein einziges Zugeständnis gemacht worden war.

Der entscheidende Faktor war hier die Art der Führung, wie sie der Bewegung in entscheidenden Momenten zur Verfügung stand. Morales setzte seine Orientierung auf das Parlament fort. Das bedeutete, dass er alles tat, um Mesa bis zum letzten Moment im Amt zu halten, und forderte, dass die Bewegung sich mit einer fünfzigprozentigen Verstaatlichung der Öl- und Gasindustrie zufrieden geben sollte. Er kann sich wieder nach links bewegen, falls er das für nötig hält. Aber man kann sich nicht darauf verlassen, dass er die Gelegenheit zu einer wirklich revolutionären Wendung der politischen Krise des Landes ergreifen wird.

Der Gegenpol zu Morales in La Paz war Solares.der Führer der COB-Gewerkschaft. Er sprach von Arbeiter- und Bauernmacht, aber in einem entscheidenden Moment der Krise bot er an, sich hinter einen Putsch von Offizieren aus dem Mittelbau des Militärs zu stellen, der vielleicht dem Beispiel von Chävez in Venezuela gefolgt wäre. Dieses Projekt eines Sozialismus von oben statt eines von unten leitete Wasser auf die Mühlen von Moraies. Er konnte sich nun als Vorkämpfer der Demokratie in der Massenbewegung und der Ureinwohner gegenüber der weißen Elite, die das Militär beherrscht, präsentieren und auf die Unterdrückung durch frühere Militärregime in Bolivien verweisen.

Die revolutionäre trotzkistische Organisation POR spielte in den Kämpfen besonders über die militante Lehrergewerkschaft, deren Vorsitzender der POR angehört, eine Rolle. Aber sie hat sich noch nicht in der gewandelten Zusammensetzung der Arbeiterklasse und in den Kämpfen der Indigenen gegen ihre Unterdrückung zurechtgefunden. Die Berichte legen nahe, dass die POR noch nicht verstanden hat, dass Solidarität mit dem Kampf der Ureinwohner um Selbstbestimmung eine Vorbedingung dafür ist, sie für eine revolutionäre sozialistische Tradition zu gewinnen, die deren Anführer als „von Weißen dominiert“ abtun.

Der „Waffenstillstand“ hat einige Fragen offen gelassen, die in der nicht allzu fernen Zukunft wieder an Brisanz gewinnen werden. Die Frage, wer vom Verkauf des Gases profitieren soll, ist weiterhin genau so ungelöst wie eine Fülle von Fragen um die nächsten Wahlen und die verfassungsgebende Versammlung, jetzt, da die Demonstranten nach Hause gegangen sind, werden der Präsident und das Parlament mit seiner neoliberalen Mehrheit versuchen, die Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen und die verfassungsgebende Versammlung nach ihrem Vorbild zusammenzusetzen. Gleichzeitig könnten die Sezessionisten in Santa Cruz jeden Kompromiss, der in La Paz formuliert wird, als „zu links" abtun und wieder dafür kämpfen, ihre Region vom Rest des Landes abzuspalten.

In den letzten Tagen der Proteste im Juni 2005 begannen einige Aktivisten, nach Strukturen von unten zu suchen, die die ersten Formen demokratischer Selbstorganisation für die unterschiedlichen Kräfte und Traditionen des Kampfes bereitstellen könnten. In El Alto gab es eine Initiative für die Gründung einer Revolutionären Volksversammlung, die die Kontrolle der Stadt, ihre Versorgung und Verteidigung übernehmen sollte. Das Koordinierungskomitee von Cochabamba hat den Schluss gezogen, dass man darüber diskutieren solle, wie „wir Schritt für Schritt Formen unterer eigenen Regierung schaffen können“. Aber aufgrund des Fehlens einer lebendigen Tradition revolutionärer Aktivität, die auf Sozialismus von unten zielt, und ohne ein Verständnis von Unterdrückung und Ausbeutung kamen diese Initiativen zu spät und mit zu wenig Schwung, um das Ergebnis im Juni noch zu beeinflussen. Es wurde über eine Kommune El Alto gesprochen, aber daraus wurde nie etwas. Wir können nur darauf hoffen, dass die Menschen, die über die Lehren der letzten Proteste nachdenken, sehen werden, was in der nächsten Runde der Auseinandersetzung unternommen werden muss.

Derzeit ist die gesamte Andenregion in Aufruhr. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich haben Massenproteste den dritten ekuadorianischen Präsidenten in fünf fahren aus dem Amt gejagt. Der neue Kandidat verspricht, die neoliberalen Maßnahmen seines Vorgängers zurückzunehmen und die riesige US-Luftwaffenbasis in Manta zu schließen. Zwischen Ekuador und Bolivien liegt Peru, dessen Präsident Toledo auf einer Welle der Unzufriedenheit mit dem diktatorischen Gehabe seines Vorgängers Fujimori ins Amt kam. Er steht nun unter hohem Druck wegen der Unzufriedenheit mit seiner neoliberalen Politik. Und im Süden und Osten liegen Argentinien und Brasilien, deren Regierungen den Großteil ihrer Glaubwürdigkeit als „linke Mitte“ durch die Bewegung in Bolivien verloren haben. Sie alle verfielen in Panik, als die Demonstranten das Parlament belagerten und Bolivien zum Stillstand kam.

In Bolivien haben wir einen Blick darauf werfen können, wie Arbeitermacht plötzlich inmitten der wiederkehrenden Instabilität des globalen Kapitalismus möglich werden kann. Dies wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Wir sollten jetzt die Lehren ziehen und darauf hinarbeiten, dass beim nächsten Massenaufstand die Menschen nicht nur an die Tür der Geschichte klopfen, sondern sie aufstoßen.


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2012