Ursprünglich Chris Harman, Anti-capitalism: theory and practice, in International Socialism 88 (2. Serie), Herbst 2000.
Übersetzung aus dem Englischen – edition aurora –
© Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung e.V., Frankfurt/M.
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Die Massenmedien entdeckten 1999 ein neues Wort: „Antikapitalismus“. Zum ersten Mal tauchte es in den britischen Schlagzeilen aufgrund der Proteste gegen die Finanzinstitutionen der Londoner City am 18. Juni auf. In einem viel größeren Maßstab ging das Wort um die Welt, als am 30. November in Seattle die Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) stattfanden. Voller Schmerz entdeckte man etwas sehr Reales. Zehn Jahre nach dem vermeintlich endgültigen Triumph des Marktkapitalismus mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR lehnt eine wachsende Zahl von Menschen ihr System ab.
Zehntausende, die in Seattle, Paris, London, Washington und zahlreichen anderen Städten rund um den Globus demonstrierten, waren der sichtbarste Ausdruck dieses antikapitalistischen Gefühls. Es war jedoch auch auf einer weitaus breiteren Ebene auszumachen: bei den tausenden Unterstützern des ATTAC-Aufrufs in Frankreich und der knappen Million, die dort bei den Europawahlen für die trotzkistische Liste stimmte; bei vielen Anhängern Ken Livingstones in der Londoner Bürgermeisterwahl, insbesondere bei den 15 Prozent, die bei den Wahlen zum Londoner Stadtparlament links von Labour wählten; in Umfragen, die zeigten, dass das Wort „Kapitalismus“ bei 58 % der Menschen in Polen, 63 % in Ostdeutschland und 51 % in Italien negative Assoziationen hervorruft; im langen Studentenstreik in Mexiko und in einer Reihe von Streiks und Protesten, die in verschiedenen Teilen Lateinamerikas aufflammten. Der Antikapitalismus der an den Protesten Beteiligten ist jedoch nur die Spitze eines viel größeren, noch halb verborgenen Eisbergs der Unzufriedenheit mit dem System.
Auf diese Spitze des Eisbergs haben sich die Medien konzentriert – und sei es nur im Versuch, sie zu verunglimpfen. Dadurch schufen sie jedoch, ähnlich wie bei den Anti-Vietnamkriegs- und Studentenprotesten der späten sechziger Jahre, einen Fokus für mehr Menschen, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen wollen.
Ausgangspunkt jeder Darstellung des neuen Antikapitalismus muss die Demonstration von Seattle sein. Die Demonstration selbst muss hier nicht mehr beschrieben werden; dies ist im International Socialism Journal und anderswo bereits gut gemacht worden. [1] Es genügt zu sagen, dass Seattle das Ergebnis des Zusammenkommens einer ganzen Anzahl von Gruppierungen war, die bis dahin nichts mit einander zu tun hatten. Jede einzelne begann zu verstehen, dass Zusammenkünfte wie die der Welthandelsorganisation eine Bedrohung all dessen darstellten, woran sie glaubten. Luis Hernandez Navarro, Journalist der radikalen mexikanischen Tageszeitung La Jornada, beschrieb die Anwesenden: „Umweltschützer, Bauern aus der Ersten Welt, Gewerkschafter, Schwule und lesbische Aktivisten, nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen, Feministinnen, Punks, Menschenrechtsaktivisten, Vertreter von eingeborenen Völkern, junge und nicht mehr ganz so junge Menschen aus den USA, Kanada, Europa, Lateinamerika und Asien.“ [2] Was sie einte, so Navarro, war die Ablehnung „des Slogans ‚Alle Macht den transnationalen Konzernen!‘, der auf dem Banner des Freihandels steht.“
Spontaneität war ein wichtiges Element der Proteste. Viele Menschen hatten einfach davon gehört und beschlossen hinzugehen. Aber da war noch mehr als nur Spontaneität. Viele Demonstranten kamen als Mitglieder lokaler Gruppen, die sich mehrere Monate auf das Ereignis vorbereitet hatten. Und die Tatsache, dass das Ereignis überhaupt zum Fokus wurde, ergab sich erst aus den gemeinsamen Anstrengungen eines Kerns von Aktivisten, die in der WTO den gemeinsamen Feind der verschiedenen Kampagnen sahen. Das hatte intensive Organisationsarbeit bedeutet, die sich über den größten Teil eines Jahres erstreckte, wobei Gruppen über das Internet miteinander Kontakt aufnahmen. Die Grundlage war jedoch ein längerer Prozess der Propaganda. Noam Chomsky, von Haus aus eigentlich Anarchist, betont ganz zu Recht dieses organisatorische Element: „Die äußerst erfolgreiche Demonstration gegen die Welthandelsorganisation ist ein beeindruckender Beleg dafür, wie effektiv langfristige Aufklärung und Organisation, hartnäckig und mit Hingabe ausgeführt, sein können.“ [3] Paul Hawken spricht von „Meinungsführern“, die viele der Demonstranten motiviert hätten:
Martin Khor vom Third World Network in Malaysia, Vandana Shiva aus Indien, Walden Bello von Focus on the Global South, Maude Barlow von Council of Canadians, Tony Clarke vom Polaris Institute, Jerry Mander vom International Forum on Globalisation (IFG), Susan George vom Transnational Institute, Daven Korten vom People-Centred Development Forum, John Cavanagh vom Institute for Policy Studies, Lori Wallach von Public Citizen, Mark Ritchie vom Institute for Agriculture and Trade Policy, Anuradha Mittal vom Institute for Food and Development Policy, Helena Norberg-Hodge von der International Society for Ecology and Culture, Owens Wiwa vom Movement for the Survival of the Ogoni People, Chakravarthi Raghavan vom Third World Network in Genf, Debra Harry von der Indigenous Peoples Coalition Against Biopiracy, José Bové von Confederation Paysanne Europeenne, Tetteh Hormoku vom Third World Network in Afrika. [4]
Man könnte noch weitere Namen in diese Liste aufnehmen, wollte man über die direkt an der Mobilisierung für Seattle Beteiligten hinausgehen. Noam Chomsky selbst wäre einer. Oder die Gruppe von Autoren, die in Frankreich mit der Zeitung Le Monde Diplomatique zusammenarbeiten und, mit letzteren teilweise zusammenfallend, die Organisation ATTAC und Raisons d‘Agir, die Gruppe von Intellektuellen um den Soziologen Pierre Bourdieu. In England würde man den Guardian-Kolumnisten George Monbiot, die Organisation Jubilee 2000 und die College-Gruppen von People and Planet hinzufügen, in Belgien Eric Toussaint, Gerard de Selys und Nico Hirtt und in Canada Naomi Klein, Autorin des Bestsellers No Logo.
Einige der Genannten sind ältere Aktivisten aus den 70er oder sogar den 60er Jahren. Dies gilt für Chomsky und Susan George. Andere, wie Naomi Klein, sind im Lauf der 90er Jahre bekannt geworden. Allen gemeinsam ist, dass sie aus verschiedenen Blickwinkeln eine bittere Kritik an der Ideologie entwickelt haben, die rund um den Globus die Regierungspolitik in den 90er Jahren bestimmt hat – das, was man heute üblicherweise Neoliberalismus nennt (manchmal wird in Kontinentaleuropa auch einfach der Begriff Liberalismus verwendet, so verwirrend dies in den angelsächsischen Ländern auch wirken mag).
Neoliberale Grundsätze fanden ihren ersten Ausdruck im Thatcherismus und Monetarismus der 80er Jahre. [5] Heutzutage haben sie Eingang in die Ideen des „Dritten Weges“ gefunden, die sich führende europäische Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder zu eigen gemacht haben. Sie sind verkörpert in der Politik großer internationaler Institutionen wie IWF, Weltbank und WTO. Sie liegen all den „Wirtschaftsreformen“ und „Modernisierungsprogrammen“ zugrunde, die von Politikern und Verfechtern gängiger Wirtschaftstheorien vorangetrieben werden, sowie dem, was Kommentatoren in Presse und Fernsehen als „gesunden Menschenverstand“ darstellen.
Die Grundidee, die der Neoliberalismus predigt, lautet, der Staat solle in der modernen Gesellschaft keine wirtschaftliche Rolle spielen. Es bedürfe einer Rückkehr zu jener Wirtschaftslehre, die bis zur Krise der Dreißiger Jahre vorherrschte – der „laissez-faire“-Doktrin, die Adam Smith um 1776 predigte (tatsächlich taten dies mehr die Verbreiter und Vereinfacher seiner Anschauungen, wie etwa Jean-Baptiste Say). Diese Lehre war bekannt als „Wirtschaftsliberalismus“ – seine Wiedergeburt ist der „Neoliberalismus“. In dessen Zentrum steht die „Freiheit“ des Kapitalisten von „Einmischung“. Dazu kamen über die Jahre dann Steuersenkungen für Unternehmensgewinne und hohe Einkommen, Privatisierung von staatlichen Industrien und Dienstleistungen, ein Feuerwerk der „Deregulierung“ für private Unternehmen, ein Ende der Kontrolle der internationalen Finanzströme und die Aufgabe des Versuchs, Importe durch Zölle und Mengenbeschränkungen zu begrenzen.
Die Versuche staatlicher Intervention seit den späten 20er Jahren hätten bloß zu Ineffizienz und Verschwendung geführt, so wird behauptet. Der wirtschaftliche Zusammenbruch des Ostblocks, Stagnation und Armut in Lateinamerika und Afrika bezeugten, zu welchen Katastrophen staatliche Kontrolle führen könne. Um Armut und „Rückständigkeit“ zu überwinden, müsse man hartnäckig daran arbeiten, die verbliebenen Begrenzungen zu beseitigen. Dafür seien die Aktivitäten von WTO, IWF und Weltbank notwendig.
Diese „Befreiung“ des „Unternehmertums“ von „künstlichen“ Beschränkungen soll angeblich das Los der gesamten Menschheit verbessern. Der freie Fluss des Kapitals werde dazu führen, dass Güter dort produziert werden, wo es am effektivsten geschieht. Akkumuliertes Kapital wird nicht mehr in „uneffizienten, alten“ Industrien lahmgelegt sein. Privatisierung und „interne Märkte“ werden verhindern, dass „bürokratische“ Kontrollen oder „Gewerkschaftsmonopole“ „dynamische“ Produktivitätszuwächse hemmen. Bestimmte Regionen der Erde werden sich spezialisieren können auf das, was sie am besten können. Bei diesem Prozess werden die Reichen möglicherweise immer reicher. Aber das spielt keine Rolle. Der Wohlstand wird bis zu den Ärmsten „durchsickern“, da ein Wachstum der weltweiten Produktion allen zugute kommt.
„Neoliberale“ Ansichten sind gewöhnlich mit „Globalisierungstheorien“ verknüpft. Diese behaupten nicht nur, dass die Welt nach den Erfordernissen des freien Kapitalverkehrs, ohne jegliche Regierungsintervention, organisiert werden müsse, sondern dass dies bereits der Fall sei. Wir leben im Zeitalter des multinationalen (oder manchmal transnationalen) Kapitals. Staaten sind demnach archaische Institutionen, unfähig, Unternehmen davon abzuhalten, die Produktion willkürlich dorthin zu verlagern, wo sie am effizientesten ist. Regierungen sollten nicht versuchen, dies zu verhindern, weil das zu „Belagerungsökonomien“ wie in Nordkorea oder gar in Kambodscha unter Pol Pot im „Jahr Null“ führen würde – allein, Regierungen können das ohnehin nicht, da die Unternehmen immer schlauer sind. Alles, was Regierungen tun können, die sich um das Wohl ihrer Bevölkerung sorgen, ist: Unternehmen bestmögliche Arbeitsbedingungen bereitzustellen – niedrige Steuern, einen „flexiblen Arbeitsmarkt“, schwache Gewerkschaften, minimale Regulierung – in der Hoffnung, Investitionen von anderswo anzulocken.
Einige Neoliberale mit angeblich sozialdemokratischer Gesinnung wie Tony Blairs Hofsoziologe Anthony Giddens räumen ein, dass es einst Zeiten gab, da Staatsintervention eine vorteilhafte Rolle spielen konnte. Die Entstehung einer globalen Wirtschaft hat das jedoch alles verändert, so behaupten sie. Egal wie es früher war, heute bedeutet der Einsatz staatlicher Kontrollen Ineffizienz, und Ineffizienz führt zu Verarmung. „Globalisierung“ und „Neoliberalismus“ werden so zu eng verbundenen Konzepten.
Für bestimmte sehr einflussreiche Versionen der Globalisierungstheorie ist die Beweglichkeit des Kapitals absolut geworden. Sie behaupten, wir leben in einer Welt der „schwerelosen“ Produktion. Computersoftware und das Internet seien viel wichtiger als „altmodische metallbearbeitende“ Industrien. Unternehmen könnten sich der Kontrolle sowohl des Staates als auch ihrer Arbeiter entziehen, indem sie die Produktion über Nacht von einem Land ins andere verlagern. Die entwickelten Länder seien „postindustriell“ und die alte Arbeiterklasse keine bedeutende Kraft mehr, weil die verarbeitende Industrie in neu industrialisierte und Drittweltländer abwandere. Übrig bleibe eine Zwei-Drittel-Gesellschaft mit einer einerseits sehr großen Mittelklasse, die über genügend „Humankapital“-Fähigkeiten verfügt, um weiterhin Spitzeneinkommen zu beziehen, und andererseits einem verkümmerten Sub-Proletariat der „gesellschaftlich Ausgeschlossenen“, die bestenfalls vorübergehende, „flexible“, ungelernte Jobs finden können, zu Löhnen, die durch den Wettbewerb mit Drittweltprodukten niedrig gehalten werden müssten.
Zugleich haben die Menschen in der Dritten Welt und in neu industrialisierten Ländern, so wird behauptet, keine andere Wahl, als sich den multinationalen Konzernen zu günstigsten Bedingungen anzubieten. Die Regierungen können lediglich die Menschen ermuntern, den Weltmarkt anzunehmen. Landwirtschaft muss so zugeschnitten werden, dass sie Produkte hervorbringt, die multinationale Konzerne auf dem Weltmarkt verkaufen können. Arbeiter müssen für die passenden Löhne und unter den entsprechenden Bedingungen schuften. Steuern, die für Gesundheit, Wohlfahrt und Bildung verwendet werden, müssen auf ein Minimum beschränkt bleiben.
Die Kritiker von Neoliberalismus und Globalisierung haben in diesen Lehrmeinungen reihenweise Fehler aufgedeckt. Sie haben gezeigt, dass Anpassung an den Markt in Drittweltländern üblicherweise nicht zu irgendwelchen Verbesserungen führt. Über zwei Jahrzehnte haben sich die Lebensbedingungen der meisten Völker Afrikas und Lateinamerikas nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Umstellung auf den Anbau eines einzigen landwirtschaftlichen Produkts auf riesigen Flächen („Monokultur“) für die multinationalen Konzerne erhöht die Einnahmen nicht (weil die Preise auf dem Weltmarkt fallen, da dasselbe Produkt auf die gleiche Art in mehreren anderen Ländern angebaut wird). Die Einkünfte werden von Zinszahlungen für die Anleihen aufgefressen und ökologischer Verfall ist allzu oft die Folge.
Diejenigen, die das Land verlassen und in die Städte ziehen, leben in Slums unter schlechtesten Bedingungen und können bestenfalls Jobs finden, bei denen sie täglich zehn, zwölf oder gar 16 Stunden unter den ungesündesten Bedingungen schuften – und sie können sich in der Regel noch nicht einmal darauf verlassen, diese Jobs auch angesichts des Auf und Ab des Weltmarkts zu behalten. Gleichzeitig mögen Arbeiter in entwickelteren Ländern einen höheren Lebensstandard haben, sie „profitieren“ dennoch kaum von einem System, das ihnen längere und unsozialere Arbeitszeiten (ein männlicher US-Amerikaner arbeitet heute im Durchschnitt jährlich einen ganzen Monat mehr als vor 25 Jahren) und einen stagnierenden oder gar sinkenden Lebensstandard bereitet (erst während der letzten paar Jahre sind die amerikanischen Reallöhne wieder in die Nähe ihres Werts aus den 70ern angestiegen).
Zugleich haben die Kritiker gezeigt, wie die Weigerung von Regierungen, Unternehmen zu regulieren, dazu führt, dass ökologische Zerstörung nunmehr nicht nur bestimmte Teile des Planeten bedroht, sondern die globale Ökostruktur als Ganzes.
Die Hohepriester des Neoliberalismus fordern den Abbau aller wirtschaftlichen Aktivitäten der Staaten, aller Beschränkungen des freien Verkehrs von Waren, Finanzen und Kapital, und aller Hindernisse für die Ausübung von Eigentumsrechten. Die Welthandelsorganisation (WTO) unterstützt solche Forderungen. Sie droht all jenen Staaten mit Wirtschaftssanktionen, die Dienstleistungen wie die Telekommunikation nicht für ausländische Investoren und Konkurrenz öffnen. Sie verbietet – als „geistige Piraterie“ – die Herstellung von beispielsweise pharmazeutischen Produkten oder Computersoftware ohne massive Preiserhöhung durch die Patentgebühren an die Multis, die die entsprechenden Patente besitzen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht mit seinen Strukturanpassungsmaßnahmen noch weiter. Diese schreiben Staatsregierungen vor, Ausgaben für Gesundheit und Bildung zu reduzieren und so viel wie möglich zu privatisieren.
Die Verfechter des Neoliberalismus bemühen sich neben Zwang auch um Überredung. Ein Geflecht aus Veranstaltungen, Konferenzen und „think tanks“ [Experten] der Repräsentanten der multinationalen Konzerne entwirft Pläne für eine ihren Erfordernissen entsprechende Gestaltung der Regierungspolitik, um diese dann in die Diskussionen bei IWF, Weltbank, WTO und zwischenstaatlichen Organisationen wie der Organisation für Europäische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Europäischen Kommission einzuspeisen. Typisch in diesem Zusammenhang war die Art und Weise, wie der European Round Table of Industrialists diese Institutionen drängte, „Reformen“ der Bildungssysteme [6] zu unterstützen (einschließlich Studiengebühren), wie das World Water Council Pläne schmiedete, um die Privatisierung der Wasserversorgung [7] durchzusetzen oder wie der Transatlantic Business Dialogue, eine Arbeitsgruppe der hundert mächtigsten westlichen Vorstandsvorsitzenden, mit Vertretern der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zusammenarbeitet, um die Tagesordnung der Welthandelsorganisation zu erstellen. [8] Solcherlei Zusammenkünfte waren immer wichtig, um die „öffentliche Meinung“ zu manipulieren. Über Zeitungsberichte, Nachrichten, Fernsehkommentare, „think tank“-Berichte, akademische Schirmherrschaften und Universitätsfakultäten werden die jüngsten neoliberalen Pläne im großen Rahmen verbreitet.
Dies freilich paßt den multinationalen Konzernen. Sie haben Propaganda gebraucht gegen „Überregulierung“, „Handelsbarrieren“ und „Protektionismus“, um Hindernisse bei der Expansion in neue profitable Zonen für Investment und Marketing zu beseitigen – seien diese Hindernisse nun Gewerkschafter, rivalisierende einheimische Kapitalisten, Kleinproduzenten oder ökologische Vorbehalte. Und während eines großen Teils des letzten Jahrzehnts schien die neoliberale Propaganda damit durchzukommen. Das ist der Grund, weshalb sie Seattle als so einen großen Rückschlag betrachteten.
Der Erfolg der Proteste in Seattle war teilweise das Resultat anhaltender Gegenpropaganda von den oben erwähnten Aktivisten. Über Bücher, Seminare, Zeitungsartikel, die auf den inneren Seiten von ansonsten neoliberalen Blättern versteckt waren, gelegentliche Fernsehdokumentationen und akademische Alternativzeitungen versuchten sie, die Unrichtigkeit der neoliberalen Behauptungen zu entlarven. Ihre Bemühungen verliefen parallel mit den unseren auf der marxistischen Linken. Genau wie wir fühlten sie sich zu Beginn der 90er Jahre wie in einer intellektuellen Einöde, gegen die scheinbar übermächtigen Strömungen anschwimmend, die den Zusammenbruch des Ostblocks zum Zusammenbruch jeder Alternative zum Marktkapitalismus erklärten. Doch gegen Ende des Jahrzehnts hatten die sie eine riesige neue Zuhörerschaft gefunden für das, was sie zu sagen hatten. Wenn unsere Zuhörerschaft sich zahlenmäßig verdoppelt oder vervierfacht hatte, so war die ihre um das Zehn- oder gar Hundertfache angewachsen.
Dies war natürlich nicht nur das Resultat ihrer eigenen Bemühungen. Die 90er Jahre blieben völlig hinter den Versprechungen der Neoliberalen zurück. Die „Neue Weltordnung“ zerbrach in einem Krieg gegen den Irak zu Beginn und in Kriegen gegen Serbien und Tschetschenien zu Ende des Jahrzehnts, dazwischen lagen dutzende von Bürgerkriegen auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und Afrika. Aus dem „Wirtschaftswunder“, das neoliberale Berater den Ländern des ehemaligen Ostblocks versprochen hatten, wurde ein wirtschaftlicher Zusammenbruch in der ehemaligen UdSSR und in Südosteuropa, wie er in der Geschichte des kapitalistischen Systems nie dagewesen war. Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, Japan, fand keinen Weg aus der Rezession, die sich in den Jahren 1991/92 entwickelt hatte, und Westeuropa litt unter einer beständigen Arbeitslosigkeit von etwa zehn Prozent. In den USA ging es den meisten Menschen nach acht Jahren wirtschaftlicher „Erholung“ schlechter als ein Vierteljahrhundert zuvor. In Afrika schienen Hungersnöte so alltäglich wie die Bürgerkriege, die sie entflammen halfen. In Lateinamerika gab es keine Erholung vom „verlorenen Jahrzehnt“ der Achtziger. Und dann stürzte auch noch die einzige sichtbare Erfolgsstory, die der Kapitalismus in der ersten Hälfte der 90er vorzuweisen hatte, Südostasien, urplötzlich in die Krise von 1997 und rief gewaltige Risse innerhalb des neoliberalen Lagers hervor: Namhafte Finanzfachleute wie George Soros und vormalige Autoritäten des IWF wie Jeffrey Sachs wandten sich erbittert gegen jene, die sie für den Schlamassel in Südostasien und der ehemaligen UdSSR verantwortlich machten.
Hinzu kam der Treibhauseffekt: Eine Gefahr für das Weltklima und für die Lebensgrundlage der Menschen, die Mitte der 80er Jahre nur von einer kleinen Minderheit besorgter Wissenschaftler erkannt worden war, wurde gegen Ende der 90er Jahre von allen wichtigen Regierungen als eines der schwerwiegendsten Probleme betrachtet – auch wenn sie nicht bereit waren, angemessene Maßnahmen dagegen zu treffen.
Die von Paul Hawken erwähnten „Meinungsführer“ waren deshalb so wichtig, weil sie Kritik an den Folgen neoliberaler Praxis vorbrachten, sie als Fassade für die Gier der Konzerne bloßstellten und dadurch viele verschiedene Gruppen von Menschen erreichten, die von den Wirkungen des Neoliberalismus enttäuscht worden waren. Sie konnten dies tun, weil sie für gewöhnlich nicht nur mit theoretischer Kritik befasst waren, sondern auch mit der praktischen Arbeit, Gegenbewegungen aufzubauen. So spielten sie eine Rolle, die zum Beispiel mit der des Historikers Edward Thompson beim Aufbau der Anti-Atomraketen-Bewegung in England in den frühen 80er Jahren vergleichbar ist. Aber während diese Kampagne sich mit einem einzigen Thema beschäftigte, lief die Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus darauf hinaus, dass verschiedene Ein-Punkt-Bewegungen sich zu einer facettenreichen Herausforderung vereinigten, einer Herausforderung dessen, was die Menschen als zusammenhängendes System zu sehen begannen. Seattle war wichtig, weil es den Höhepunkt dieser Entwicklung darstellte, den Punkt, an dem man anfing, die vielen Teile als Einheit zu sehen, in der aus quantitativer Zusammenfügung etwas qualitativ Neues wurde.
Dabei tauchten jedoch auch wichtige Fragestellungen auf, die jene, die beim Aufbau der neuen Bewegung eine so wichtige Rolle gespielt haben, diskutieren müssen. Diese Fragen betreffen die Alternativen, die entwickelt werden müssen, die Kräfte, die diese umsetzen können, die erforderliche Taktik, um diese Kräfte zu mobilisieren und, all diesen Punkten zugrundeliegend, das Verhältnis von Neoliberalismus und Globalisierung zum System im weiteren Sinne.
Die Frage, die sich unvermeidlich in den verschiedenen Teach-ins und Diskussionen in Seattle stellte, war die Frage, ob man für die Reform oder für die Abschaffung der Welthandelsorganisation kämpfen solle.
Die allgemeine Sichtweise innerhalb des amerikanischen Gewerkschaftsbundes, der AFL-CIO, war der Vorschlag einer „Sozialklausel“, durch die in zukünftige Handelsverträge zentrale Arbeitsstandards eingebaut würden, unter anderem das Verbot von Kinder und Häftlingsarbeit, von Diskriminierung und Verletzung des Rechts des Arbeiters auf gewerkschaftliche Organisation und Tarifverhandlungen. Die Macht der WTO, derzeit eingesetzt zum Schutze der Möglichkeit für die transnationalen Konzerne, Investitionen und Produktion frei über die Grenzen hinweg zu bewegen, könnte dann auch zum Schutze der Rechte der Arbeiter genutzt werden. [9] Steven Shrybman brachte ein ähnliches Argument vom Standpunkt des Umweltschutzes vor: Ziel sollte sein, die WTO so zu verändern, dass sie sich fortan „um Klimaveränderung genauso kümmert wie um das Wachstum transnationaler Arzneimittelkonzerne.“ [10] Einige Aktivisten haben sogar empfohlen, die Weltbank und den IWF durch ein „alternatives Sehen“ zu reformieren, das „von Institutionen wie Weltbank und transnationalen Konzernen größere Offenheit und mehr Verantwortlichkeit einfordert.“ [11]
Im Gegensatz dazu bestanden Leute wie der Dritte-Welt-Wirtschaftswissenschaftler Walden Bello darauf, dass „es falsch ist, die WTO zu reformieren.“ [12] Dies bedeutete nicht unbedingt, dass sie auch ihre Abschaffung forderten, aber sie verlangten „eine Kombination aus aktiven und passiven Maßnahmen, um ihre Macht radikal einzudämmen und sie schlichtweg zu einer weiteren internationalen Einrichtung zu machen, die neben anderen Institutionen existiert und von diesen gezügelt wird.“ [13] Der Ruf nach Abschaffung wurde lauter, nachdem die WTO die Anliegen der Seattle-Demonstranten abgewiesen hatte.
Ähnliche Debatten entstanden während der großen Proteste in Millau, Frankreich, im Juni 2000. Redner, die sich für die „Zerschlagung“ von Institutionen wie der WTO aussprachen, wurden von den Verfechtern begrenzter Reform nicht nur des „Utopismus“ bezichtigt, sondern auch des praktischen „Schulterschlusses“ mit Verfechtern des Freihandels, die überhaupt gar keine Regulierung wollen. [14] Der Streit über Reformierung oder Abschaffung steht in Verbindung mit einer anderen Debatte: Was wären die Ziele einer Alternative zum jetzigen Handelssystem?
Die US-Gewerkschaften behaupten, „Sozialklauseln“ würden Arbeiter in den Ländern der dritten Welt davor bewahren, in sklavereiähnliche Bedingungen getrieben zu werden und gleichzeitig multinationale Konzerne davon abhalten, ihre Produktion auf andere Kontinente zu verlagern, nur um die Lohnkosten zu verringern und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Der Journalist William Greider schreibt: „Eine Reform des Handels kann diejenigen Nationen belohnen und ernähren, die versuchen, sich vom ‚Sog nach unten‘ zu befreien“. [15] Leute wie Greider versuchen, solche Handelsreformen bei Regierungen zu erreichen, aber viele seiner Argumente tauchen ebenfalls in den „No Sweats“ und „Fair Trade“ Bewegungen auf, die in den letzten zwei, drei Jahren viele amerikanische Unis erfaßt haben. Diese Bewegungen beziehen ihre Motivation aus moralischer Entrüstung über die Bedingungen der Arbeiter der Dritten Welt, die für Firmen wie Nike und Starbucks [16] produzieren. Sie verfolgen das Ziel, solche Firmen durch Verbraucherboykott dazu zu zwingen, Kinderarbeit abzuschaffen und „faire Löhne zu zahlen“. [17]
Diese Herangehensweise wird von verschiedenen anderen Aktivisten kritisiert – aus zweierlei Gründen. Erstens unterschätze man die Fähigkeit der multinationalen Konzerne, einen Weg zu finden, sowohl Regulierungen durch die Regierung als auch Verbraucherproteste zu umgehen. David Bacon beispielsweise erläutert:
Die Clinton-Regierung, die zunächst nicht gewillt war, auch nur irgendeinen Schutz der Arbeiter zu diskutieren, hat nun eine gewisse Tatsache erkannt: die schlimmsten Mißstände in ausländischen Fabriken aufzugreifen (sei es im ernsthaften oder nur im PR-Sinne) ist eine Möglichkeit, den Druck, der im eigenen Land herrscht, abzulenken. Das Weiße Haus hat jedoch kein Interesse daran, sich mit den Grundlagen der Armut und mit der Rolle, die die US-Politik bei ihrer Aufrechterhaltung spielt, zu beschäftigen. Wenn überhaupt, dann ist Clintons neugefundenes Interesse an Arbeitsstandards ein Weg, die Ausführung genau dieser Politik zu ermöglichen. So schlägt das Arbeitsministerium Verhaltensregeln für die Bekleidungsindustrie vor, die unfreiwillige und unbezahlte Überstunden nach regulären 60 Stunden oder die Beschäftigung von Kindern unter 14 in mittelamerikanischen Textilfabriken verbieten ... Die Konzerne, die den Kodex verletzen, werden geächtet, und die anderen hält man für okay. Die Vorschläge für Standards und Verhaltenskodizes belassen eine grundlegende Frage unberührt: Wo kommt die Armut her, die die Arbeiter durch die Fabriktür zwingt? Welche Politik der US-Regierung hält diese Armut aufrecht? [18]
Naomi Klein ist in ihrer Kritik an Forderungen nach „Sozialklauseln“ und „fair trade“ nicht so unverblümt wie David Bacon. Sie sieht, dass man Menschen dazu bringen kann, „das gesamte System ... unters Mikroskop zu legen“, wenn man die Aufmerksamkeit auf das Verhalten bestimmter Firmen wie Nike oder Starbucks richtet. Sie warnt jedoch, „wenn einem Logo die gesamte Aufmerksamkeit zuteil wird, werden ohne Zweifel andere laufen gelassen ... Chevron hat Verträge erhalten, die Shell verlor, und Adidas feierte ein massives Comeback auf dem Markt, indem es die Arbeits- und Marketingstrategien von Nike imitierte und dabei der Kontroverse auswich.“ [19] Weiter schreibt sie, „während es den Kodizes nicht gelingt, Missbrauch zu beseitigen, so gelingt es ihnen doch ziemlich effektiv, die Tatsache zu verschleiern, dass multinationale Konzerne und normale Bürger nicht wirklich gemeinsame Ziele verfolgen, wenn es um die Entscheidung über Gesetze gegen den Mißbrauch von Arbeitskräften und Natur geht ... Hinter dem Gerede von Ethik und Partnerschaft befinden sich die zwei Seiten noch immer in einem ganz gewöhnlichen Klassenkampf.“ [20]
Doch die Debatte geht nicht nur um die Wirksamkeit von Sozialklauseln. Es gibt auch einen tiefergehenden Streit – darüber, ob sie prinzipiell richtig sind. Einige Aktivisten argumentieren, ihre einzige Wirkung könne sein, dabei zu helfen, arme Länder arm zu halten. David Bacon beispielsweise behauptet:
Die von der AFL-CIO propagierten Sozialklauseln spiegeln die institutionellen Bedürfnisse von Gewerkschaften in einem reichen Industriestaat wider. Gewerkschaften und Arbeiter in anderen Ländern sehen noch andere Notwendigkeiten, insbesondere die der wirtschaftlichen Entwicklung.
Kleinbauern aus Landarbeiterfamilien auf den Philippinen oder in Mexiko zum Beispiel sind sich ausgesprochen einig, dass sie es vorzögen, ihre Kinder hätten die Möglichkeit eine Schule zu besuchen anstatt zu arbeiten. Doch ein simples Verbot von Kinderarbeit stellt diese Möglichkeit nicht her. Es verringert lediglich das Einkommen, das die Familie zum Überleben braucht. [21]
Bacon behauptet, dass der wahre Grund für Armut eher in der globalen Politik des Imperialismus liegt als nur in der Existenz von Kinderarbeit und Beschränkungen der Rechte der Arbeiter. Seine Argumentation ähnelt jedoch in einigen Punkten der von Leuten wie der Labour-Ministerin Clare Short, die neoliberale Ansichten mit dem ungebremsten Enthusiasmus der frisch Bekehrten vertritt. Die Bedingungen einzuschränken, unter denen Firmen Menschen ausbeuten, zerstöre Arbeitsplätze und verschlechtere die Lage der Menschen, behaupten sie. Bacon scheint auch davon auszugehen, dass Aktivisten in hochentwickelten Ländern sich eher mit Regierungen und regierungsgesteuerten Gewerkschaften der Drittweltländer identifizieren sollten als mit den dortigen Arbeitern:
Arbeiterrechte sind zwar wichtig, doch eine größere Auseinandersetzung findet darüber statt, wer die Ökonomien der Entwicklungsländer kontrolliert ... US-Gewerkschaften müssen mit Arbeitern in Entwicklungsländern einen gemeinsamen Aktionsplan aushandeln und dabei unterschiedliche Perspektiven und Meinungen anerkennen und respektieren. Zu sagen, der Gesamt-Chinesische Gewerkschaftsbund sei keine legitime Gewerkschaft, weil sie nicht mit dem Handelsprogramm der AFL-CIO überein stimmt, ist beispielsweise eine Form von nationalem Chauvinismus. [22]
So gibt es einerseits den Ruf nach Klauseln in Handelsabkommen, die wahrscheinlich bestenfalls unwirksam sind – im schlechtesten Fall decken sie die multinationalen Konzerne und können von westlichen Politikern für deren Politik benutzt werden (etwa wenn irgendwelche Rechtsaußen-Republikaner in den USA Handelssanktionen gegen China fordern). Andererseits gibt es Argumente, die jenen auffällig ähneln, die vor eineinhalb Jahrhunderten in England von Senior, einem Ökonomen der freien Marktwirtschaft, gegen die Beschränkung der Kinderarbeit gebraucht wurden – dass dadurch Wachstum verlangsamt und Armut gefördert würde. [23] Die Tatsache, dass Leute wie Bacon von „wirtschaftlicher Entwicklung“ durch die Dritte Welt selbst sprechen, und nicht durch die Erste Welt, dort herrschende Klassen und Staaten, ändert nichts Grundlegendes daran.
Die eine Position überläßt die Entscheidungen den Regierungen der entwickelten Länder, die die WTO dominieren und die jede „Sozialklausel“ als Werkzeug benutzen würden, die Interessen ihrer eigenen multinationalen Konzerne zu fördern. Die andere endet schnell dabei, Ausbeutung der Arbeiter durch Firmen und Regierungen der Dritten Welt als einzigen Weg zur „Entwicklung“ zu rechtfertigen. Die Art und Weise, wie beide Seiten plausible Argumente gegen die jeweils andere in Stellung bringen, legt den Verdacht nahe, dass keine der beiden die Wurzel des Problems betrachtet, mit dem sie sich beschäftigen – eine Wurzel, die tiefer geht als die Diskussion um Welthandel oder um den Versuch industrieller Entwicklung in Drittweltländern.
Ähnliche Auseinandersetzungen finden innerhalb von Schuldenerlasskampagnen wie Jubilee 2000 statt. Die Kampagnen haben insofern Wunder bewirkt, als das sie die Obszönität herausstellten, dass die Menschen in den ärmsten Ländern Geld in die Tresore der reichsten Banken schaufeln. Doch gerade ihr Erfolg hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Stellt man „gemäßigte“ Forderungen und versucht so, Regierungen zu beeinflussen, oder steht man für kompletten Schuldenerlass? Und bleibt man beim Thema Schulden stehen, oder erweitert man die Agenda um Fragen, die das System im weiteren Sinne betreffen? Susan George, die wahrscheinlich mehr als jede andere Person getan hat, um die Belastung der Armen dieser Welt durch Verschuldung hervorzuheben, erklärt die Problematik:
Viele gute Leute fordern kompletten Schuldenerlass als einzig möglichen Weg. Ich fürchte, diese Lösung wäre eine Falle ... Wenn die Schuldner im Süden sich zusammentun und gemeinsam erklären, dass sie die Staatsschulden nur teilweise oder gar nicht anerkennen, dann applaudiere ich. Ich fürchte aber, so etwas ist sehr unwahrscheinlich ...
Wenn eine gemeinsame Aktion des Südens nicht zu Stande kommt, sollten wir dann Kampagnen im Norden organisieren, die den einseitigen Schuldenerlass durch unsere eigenen Regierungen einfordern? ... Ein Schuldenerlass würde jedoch genau dem System zum Vorteil gereichen, das zur Zeit nie dagewesenen Hunger und Armut überall in der Dritten Welt verbreitet. Inwiefern?
Erstens riskierte man, die schlimmsten und verschwenderischsten Regierungen zu belohnen ... Zweitens würde ein Erlass die begünstigten Länder für die nächste Zukunft zu finanziell Ausgestoßenen machen ... Ein Erlass würde diese Länder zunächst etwas wohlhabender machen. Bald darauf jedoch würden sie ohne massive neuerliche Hilfe ... in die Autarkie gedrängt, ohne die Möglichkeit grundlegenden Bedarf zu importieren und mit einer Kreditwürdigkeit, die gleich Null ist.
Drittens wäre ein Schuldenerlass, wenn er nicht hundert Prozent beträgt, eine Illusion bzw. richtiggehend schädlich für die breiten Massen in der Dritten Welt. [24]
Viele Länder sind bereits heute nicht in der Lage, viel von ihren Schulden zurückzuzahlen. Ein teilweiser Schuldenerlass würde schlichtweg bedeuten, dass sie hundert Prozent von, sagen wir, der Hälfte der existierenden Schuld abbezahlen, anstatt wie heute die Hälfte von hundert Prozent.
George bringt diese Argumente nicht, um die Kritiker der Banken zu entmutigen. Sie versucht vielmehr, die Agenda zu erweitern, das Thema des „Gesamt-Ressourcen“-Flusses in die Drittweltländer und das Verhalten der dortigen Eliten sowie der Banken der Ersten Welt und der multinationalen Konzerne mit einzubeziehen. Sie zeigt sehr überzeugend, dass aus der Konzentration allein auf Schulden nicht die Lösungen hervorgehen, nach denen die Menschen suchen.
Die Stärke ihrer Argumentation zeigt sich praktisch in den Erfahrungen von Jubilee 2000. Deren erfolgreiches Aufzeigen der verkrüppelnden Auswirkungen, die Schulden auf die Völker der Dritten Welt haben, führt zu Debatten unter den Aktivisten. Einige ihrer führenden Personen hatten geglaubt, „moderate“ Annäherung verfolgen zu müssen, wollte man Regierungen für ihre Sicht der Dinge „gewinnen“. Sie erhofften sich Unterstützung von Leuten wie dem ehemaligen Bluthund des IWF, Jeffrey Sachs (obwohl der noch immer neoliberale Maßnahmen gutheißt, wie etwa die des Präsidenten von Ecuador, Jamil Mahaud, der durch einen Beinahe-Aufstand von eingeborenen Völkern im Januar 2000 aus dem Amt gejagt wurde [25]). Auch gratulierten sie dem G8-Gipfel von Köln 1999, weil dort die Führungen der stärksten Industrienationen Schuldenerleichterung versprachen. Doch das Versagen der Regierungen bei der Umsetzung des Versprechens führt nun dazu, dass man vieles überdenkt. So erzählt ein Aktivist: „Ich bedaure, dass wir den Versprechen der G8 Glauben geschenkt haben ... Aber es war wunderbar, für Jubilee 2000 zu arbeiten. Die Kampagne hat die Leute dazu gebracht, nach den Wurzeln der Armut zu fragen.“ [26]
Mit den Debatten um Handel und Schulden ist eine dritte eng verflochten – welche Entwicklung sollte in den ärmeren Ländern eigentlich stattfinden? Viele der Aktivisten von Seattle, die sich mit der „Drittwelt“-Thematik befassen, haben keine Zweifel darüber, was nötig ist. Den Ländern der Dritten Welt, sagen sie, sollte es möglich sein, sich zu industrialisieren, um die fortgeschritteneren Länder „einzuholen“. Das ist die logische Grundlage von David Bacons Position. Sie wird von William Greider geteilt, der zustimmend über „industrielle Entwicklung in Niedriglohnökonomien“ [27] schreibt, sowie von Juliette Beck und Kevin Danaher: Sie wollen „junge, heimische Industrien schützen, bis sie international konkurrenzfähig sind“. [28] Danaher geht soweit, Südkorea als mögliches Modell auszuweisen, weil es dem Land „während der 60er, 70er und 80er Jahre ... trotz langjähriger Repression durch die Regierung wirtschaftlich sehr gut ging.“ [29] Walden Bello nimmt weitgehend dieselbe Haltung ein. Er identifiziert sich mit der Strategie der Industrialisierung der Drittweltländer auf Basis von Importkontrolle und steht mit der UNO-Einrichtung UNCTAD und deren langjährigem Leiter Raul Prebisch in Verbindung – wenngleich er anregt, dass deren „Modell der Integration in die Weltwirtschaft ... hinterfragt werden muss.“ [30]
Andere Aktivisten jedoch wollen den Industrialisierungsansatz in Frage stellen und suchen nach „lebensfähigen Alternativen zum vorherrschenden Modell der Entwicklung durch Wirtschaftswachstum und Exportorientierung“. [31] Dies gilt insbesondere für diejenigen, die die Rechte eingeborener Völker verteidigen oder für Umweltaktivisten wie Vandana Shiva aus Indien.
Dass auf diese Weise die vorherrschende Vorstellung von „Entwicklung“ infrage gestellt wird, gründet auf der Erkenntnis, dass die Industrialisierung in der Dritten Welt – und übrigens auch in der Ersten Welt und den ehemaligen kommunistischen Ländern – unzählige Übel mit sich gebracht hat. Sie zerstörte die alten Lebensformen der Menschen, stürzte viele in Armut und verschmutzte die Umwelt. Susan George bemerkt in ihrem Aufruf zur Suche nach einem neuen wirtschaftlichen Modell sehr zutreffend, das „herrschende Paradigma“ von Entwicklung bedeute, dass „viele ihr Land verlieren, ihre Dörfer verlassen müssen, ihre Kinder zugrunde gehen sehen, 14-Stunden-Tage für so gut wie keinen Lohn arbeiten oder gar keine Arbeit haben, verunreinigtes Wasser trinken, an Hunger und vermeidbaren Krankheiten leiden und, wenn sie aufbegehren oder versuchen, ihr Schicksal zu ändern, inhaftiert oder gefoltert oder ermordet werden“. [32]
Doch diejenigen, die zu Recht das alte „Paradigma“ angreifen, gehen selten weiter und liefern eigene überzeugende Alternativen. Die Genetikerin Mae-Wan Ho beispielsweise verbindet ihre vernichtende Kritik an den Methoden, mit denen genmanipulierte Organismen entwickelt werden, mit der Forderung nach Rückkehr zu „traditionellen Formen der Landwirtschaft“. Vandana Shiva zeigt die zerstörerische Wirkung, die der von den großen multinationalen Konzernen verfolgte Umgang mit der Landwirtschaft auf das Leben der Menschen hat, auf. Sie geht jedoch nicht darauf ein, dass „traditionelle“ Methoden der bäuerlichen Landwirtschaft ihrerseits darauf beruhten, dass eine riesige Zahl von Kleinbauern und landlosen Feldarbeitern, aus der untersten Kaste stammten und die meisten Frauen fürchterlich unterdrückt wurden. Indische Intellektuelle einer früheren Generation haben sich ausreichend mit den Bauernmassen identifiziert, um diese Dinge festzustellen – besonders der Autor Premchand, dessen Geschichten und Erzählungen niemals vor der Realität der Klassen, Kasten und des religiösen Fanatismus zurückschreckten. [33] Im Gegensatz dazu schwärmt Vandana Shiva von „Frauen, die auf dem Feld arbeiten und die biologische Vielfalt bewahren, die unsere Nahrung herstellen und unsere Mahlzeiten kochen.“ [34]
Mit „traditionellen Methoden“ allein hätte man niemals die Menge an Nahrung produzieren können, die nötig war, um mit dem Wachstum der indischen Bevölkerung während der letzten drei Jahrzehnte Schritt zu halten. Als Vandana Shiva kürzlich nach einer Vorlesung in Reith nach der Ernährung einer so stark wachsenden Bevölkerung gefragt wurde, war ihre Reaktion, einfach von „nicht tragbarem Bevölkerungswachstum“ zu sprechen, für das sie eine „nicht nachhaltige Entwicklung“ verantwortlich machte:
Sehen Sie sich die Zahlen an. Die indische Bevölkerung war stabil bis 1800. Kolonisation und Landraub führten dazu, dass unsere Bevölkerung wuchs. In England gab es die höchsten Raten beim Bevölkerungswachstum nach den ‚enclosures‘ ... Bevölkerungswachstum ist das Resultat von nicht nachhaltiger Entwicklung. [35] [Mit den „enclosures“ (Einzäunungen) wurden im 18. Jahrhundert in England große Flächen Gemeindeland in Privatbesitz verwandelt und ein großer Teil der Landbevölkerung seiner Lebensgrundlage beraubt. Anmerk. d. Übers.]
In Wirklichkeit war Armut in Indien auf dem Land weit verbreitet, lange bevor die Briten kamen: Der indische Wirtschaftshistoriker Irfan Habib hat die Verarmung großer Teile der Landbevölkerung zu Zeiten der Moguln dokumentiert, als „Hungersnöte massenhafte Wanderungsbewegungen hervorriefen“. [36] Und natürlich gab es in England lange vor den „enclosures“ bittere Hungerperioden – zum Beispiel im frühen 14. Jahrhundert. Nostalgie für die Vergangenheit ist Nostalgie für Klassengesellschaften, wenngleich es keine kapitalistischen waren, in denen das Leben der großen Mehrheit der Menschen in schier endloser Plackerei bestand, allzu oft begleitet von Hunger und wiederkehrenden Hungersnöten. [37]
Wesentlicher ist jedoch, dass „traditionelle Landwirtschaft“ keine Antwort bietet, wie eine Weltbevölkerung ernährt werden soll, von der man im Allgemeinen in den nächsten dreißig Jahren eine Verdoppelung erwartet. So sehr die Methoden, die mit der „Grünen Revolution“ in Indien über die letzten drei Jahrzehnte verbunden waren, auch von der Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft begleitet waren (und damit von der Vertreibung vieler Kleinbauern von ihrem Land) und wie groß auch immer ihr langfristiger Schaden für die Umwelt war – sie haben doch zu einem erhöhten Ertrag geführt, der es dem Land ermöglichte, seiner Bevölkerung ein Mindestmaß an Nahrung zu gewährleisten, ohne auf Importe angewiesen zu sein. Die Getreideproduktion stieg in den 80er Jahren um 3,2 Prozent pro Jahr (schneller als die Geburtenrate) – gegenüber 1,8 Prozent Wachstum in den 70ern (geringer als das Bevölkerungswachstum). [38] Auch Vandana Shiva kommt nicht umhin, ganz nebenbei „die kleinen Erfolge der Grünen Revolution“ [39] anzuerkennen. Wenn die Masse der Bevölkerung wenig oder nichts dabei gewonnen hat (einige Statistiken beschreiben eine geringe Erhöhung der durchschnittlichen Kalorienversorgung und eine geringe Abnahme der Armut, andere beschreiben jeweils keine Veränderung), so liegt das an der ungleichen, klassenabhängigen Verteilung der gewachsenen Menge an Nahrungsmitteln zum Vorteil der reicheren Teile der Bevölkerung (entweder direkt in Form von mehr Nahrung oder indirekt als Einkommensquelle für den Kauf von importierten Luxusgütern).
Ein nachhaltiges Entwicklungsmodell muss den in den letzten Jahrzehnten erreichten Nahrungsmittelertrag mindestens auf dem gleichen Niveau halten und zudem die gerechte Verteilung sicherstellen – tatsächlich muss es eigentlich mehr als nur das Niveau halten, wenn die Mehrheit der Bevölkerung irgendwann über das Minimum von etwa 2.000 Kalorien, das sie derzeit täglich erhält, hinauskommen soll. Das ist unmöglich, wenn man sich auf „traditionelle“ Methoden verläßt. Es müssen wissenschaftliche Forschung eingesetzt und Kapital investiert werden – allerdings auf andere Art, als dies zur Zeit geschieht. Tatsächlich muss ein Kritikpunkt am derzeitigen Entwicklungsmuster in Indien darin bestehen, dass der Anteil der Investitionen in die Nahrungsmittelproduktion rückläufig und die Forschung nach Wegen zu nachhaltiger Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung unzureichend ist.
Diejenigen, die zu Recht die derzeitigen Modelle für „Entwicklung“ angreifen, meinen oft, es bedürfe eines massiven Aufbruchs hin zu „lokaler Produktion“ oder „lokaler Nutzung“. Doch wenn man sich auf lokale Nahrungsmittelproduktion verläßt, kann das ebenso schlimme Folgen haben, wie wenn man sich auf das Produzieren für einen schwankenden Weltmarkt verläßt. Lokale Produktion nämlich war in der Vergangenheit immer mit lokalen Hungersnöten verbunden, wenn Wetter oder Insektenplagen der örtlichen Ernte schadeten.
Die internationale Bewegung von Nahrungsmitteln, die durch moderne Technik möglich gemacht wird, bedeutet, dass Hungersnöte in allen Teilen der Welt längst der Vergangenheit angehören könnten. Wenn sie hauptsächlich in großen Teilen Afrikas vorkommen, dann nicht deshalb, weil es falsch ist, dass Menschen in einem Teil der Welt anderswo produzierte Nahrungsmittel verbrauchen, sondern weil die internationale Verteilung von Nahrungsmitteln nach Profitüberlegungen und nicht gemäß menschlichen Bedürfnissen funktioniert.
Es gibt Länder, deren Volkswirtschaften seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten abhängig von der Nahrungsmittelproduktion für weit entfernte Märkte sind – kubanischer Zucker beispielsweise, oder Bananen aus Mittelamerika und der Karibik. Die Menschen dieser Länder müssten Hunger leiden, wenn der Rest der Menschheit sich von einem Tag auf den anderen weigerte, ihre Produkte zu kaufen. Wir leben in einem globalen System, das sich nicht erst in den letzten zwei Jahrzehnten, sondern mindestens seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hat. Die Antwort auf die schrecklichen Fehler dieses Systems ist nicht, einzelne Länder oder Regionen vom Rest der Welt abzuschneiden, sondern den weltweit existierenden Wohlstand für alle Menschen dieses Planeten zu nutzen.
Und schließlich verwenden diejenigen, die das kapitalistische Entwicklungsmodell angreifen, oft ein sehr schlechtes Argument. Sie behaupten, der Fehler dieses Modells sei nicht, dass es die Menschen endlos schuften lässt, sondern dass es nicht „arbeitsintensiv“ genug sei. So führt beispielsweise die Environment Research Foundation als Fehler gegenwärtiger landwirtschaftlicher Methoden auf, dass „Arbeitsplätze verlorengehen, weil menschliche Arbeit und Zugtiere durch Maschinen ersetzt werden“. [40] Damit akzeptiert man, dass menschliches Mühsal irgendwie eine gute Sache ist und dass Menschen leiden, weil nicht genügend Arbeit für sie da ist. Das wiederum heißt jedoch, die Dinge komplett auf den Kopf zu stellen. In einer gesunden Gesellschaft würde es umso leichter für jedermann, seinen Lebensunterhalt ohne übermäßige Plackerei zu sichern, je mehr Maschinen es gibt. Wenn die derzeitige Gesellschaft nicht so aussieht, so liegt das daran, dass an ihr etwas grundsätzlich verkehrt ist. Es bedeutet nicht, dass Methoden, die mehr Arbeit erfordern, besser sind als die, für die man weniger benötigt. Wie sagte Brendan Behan einmal: „Wenn Arbeit etwas so Gutes ist, warum behalten die Reichen sie dann nicht für sich?“
Im Hintergrund jeder Diskussion steht eine andere, grundsätzliche Frage. Wogegen kämpfen wir? Ist es ein seit langem bestehendes ökonomisches System? Oder sind es nur eine Reihe institutioneller und ideologischer Veränderungen, die im letzten Jahrzehnt eingetreten sind, und mit Begriffen wie „Globalisierung“ und „Neoliberalismus“ bezeichnet werden?
Diese Ausdrücke sind manchmal einfach Code-Wörter für ein umfangreicheres System. Der Angriff auf Globalisierung und Neoliberalismus ist dann die Form, mit der ein Angriff auf den Kapitalismus als System eröffnet wird – und auf die vielen Ideologien, mit denen er gewöhnlich verteidigt wird. „Corporate greed“, die „Habgier der Konzerne“ steht als Synonym für das Profitsystem, „die Transnationalen“ für kapitalistische Unternehmen, „Globalisierung“ dafür, wie der internationale Kapitalismus die Hoffnungen der kleinen Leute vernichtet. Das alles dient dann dazu, den Menschen für die umfassende Unmenschlichkeit des Kapitalismus die Augen zu öffnen.
Doch oft stellen die Kritiker Globalisierung und Neoliberalismus als eigenständige Kräfte dar, die nicht auf irgendein umfassenderes System zurückgehen. So schreibt z. B. Ignacio Ramonet in Le Monde diplomatique „Die Menschen wollen nicht mehr die Globalisierung wie ein unvermeidliches Schicksal akzeptieren ... sie fordern im Angesicht der Schäden, die von der Globalisierung verursacht werden, die Herausbildung neuer Rechte – kollektiver Rechte.“ [41] In einer BBC Sendung erklärte Vandana Shiva, die „Globalisierung“ und „die neue globale Wirtschaft“ hätten schreckliche Auswirkungen auf das Leben der kleinen Leute und erzeugten in Ländern wie Indien „Katastrophen“, „ insbesondere in der Nahrungsmittelversorgung und Landwirtschaft“. [42] Für Pierre Bourdieu sind „Globalisierung“ und „Neoliberalismus“ der Feind. „Der Hauptpunkt,“ sagt er „ist Neoliberalismus und der Rückzug des Staates. In Frankreich ist die neoliberale Philosophie in alle gesellschaftlichen Verfahrensweisen und politische Entscheidungen des Staates eingebettet.“ [43] Einige Führer von ATTAC in Frankreich sagen sogar, dass ihre Bewegung nicht „antikapitalistisch“ sei, sondern nur Schluss damit machen wolle, dass kurzfristige Finanzflüsse nationale Wirtschaften sprengen. [44]
Das jüngste Buch von Susan George, The Lugano Report: Preserving Capitalism in the 21st Century, bezieht sich im Titel auf den Kapitalismus. [45] Dennoch schrieb sie nach Seattle von Menschen die „gegen die schädlichen Folgen der Globalisierung“ mobilisieren, als ob diese etwas vom Kapitalismus Getrenntes und eigentlich Schlimmeres seien. Vivian Forresters Bestseller, Der Terror der Ökonomie, sieht Dinge wie die Arbeitslosigkeit manchmal nicht als Ergebnisse des Kapitalismus, die eine lange Geschichte haben, sondern als „sekundäre Folgen“ der „Globalisierung“ [46] – und deshalb vermutlich als ein Produkt der letzten zehn oder zwölf Jahre: „Eine wahre Revolution stand und steht auf dem Spiel und hat es fertig gebracht, das neoliberale System zu errichten, ihm Gestalt zu geben, es zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, jede andere Logik als seine eigene zu entwerten ... Ohne irgendeine spektakuläre oder auch nur sichtbare Erhebung hat eine neues Regime die Macht übernommen“. [47]
Daraus kann man leicht den Schluß ziehen, dass „Neoliberalismus“ und „Globalisierung“ negative Eigenschaften sind, die einem System aufgedrückt wurden, das eigentlich erträglich sein könnte. Toussaint tut das z. B., indem er ein früheres Stadium in der Geschichte des Kapitalismus dem heutigen gegenüberstellt: „Obwohl der fordistische gesellschaftliche Konsens im Norden, der Entwicklungskonsens im Süden und die bürokratische Kontrolle im Osten weit davon entfernt waren, die Anwendung von Gewalt durch diejenigen, die in den Machtpositionen waren, zu beseitigen, rief jeder dieser Wege echten gesellschaftlichen Fortschritt hervor.“ [48]
Cassen, der Direktor von Le Monde diplomatique verfolgt eine ähnliche Argumentation, wenn er darauf drängt, zu einem „protektionistischen“ Modell nationaler Wirtschaft, die nach kapitalistischen Kriterien organisiert ist, zurückzukehren. So auch Colin Hines, wenn er predigt, dass man auf „lokale Produktion“, die von „lokalen“ Geschäftsleuten und Unternehmen durchgeführt wird, vertrauen soll. [49] Der Eindruck entsteht, dass ein brauchbares und zumindest teilweise humanes Modell des Kapitalismus von den Neoliberalen im Auftrag der multinationalen Konzerne zerstört wurde. Doch deren Anstrengungen können nicht ausreichend sein, um die Schrecken zu erklären, die so anschaulich in den Schriften der Kritiker von Globalisierung und Neoliberalismus beschrieben werden.
Die meisten dieser Gräuel sind so alt wie der Kapitalismus selbst und nicht einfach ein Ergebnis der paar Jahrzehnte. Die Reduzierung der Menschen auf Waren, die Herstellung der elegantesten Produkte im Hungerlohn, die langen Arbeitszeiten, die das Leben von Frauen, Männern und Kindern zerstören, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen, die als Bauern vom Land vertrieben und als Arbeiter plötzlich auf die Straße geworfen werden, die Verwüstung der Umwelt – keines dieser Phänomene ist erst in den vergangenen 20 oder 30 Jahren entstanden. Man kann darüber in Schriften lesen, die 100, 150 oder sogar 200 Jahre alt sind – in den Artikeln von Cobbett, in den Hard Times von Charles Dickens, in Frau Gaskells North and South, Emile Zolas Germinal, Upton Sinclairs Der Dschungel, Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England und im Kapitel Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation im Kapital von Karl Marx. Sie sind charakteristische Auswirkungen des Kapitalismus während seiner ganzen Geschichte.
Was in den besten Schriften der heutigen Kritiker der Globalisierung so beeindruckt, ist genau das, was sie mit so vielen dieser frühen Schriften gemeinsam haben – ein verdammender, gefühlsmäßig bewegender Angriff auf die Entmenschlichung des Systems, auf die Unterordnung des Lebens der Menschen unter blinde, jenseits ihrer Kontrolle stehender Kräfte, auf die Zerstörung der Umwelt, in der sie leben müssen. Sie zeigen, dass hinter den schönen Sätzen der neoliberalen „Modernisierer“ die grausame Wirklichkeit zerbrochener Leben liegt – und ökologischer Zerstörung, die das bloße Überleben der Menschheit bedroht.
Die meisten Kritiker von Neoliberalismus- und Globalisierungs-Theorien gehen in einer wichtigen Hinsicht nicht weit genug, denn sie akzeptieren viele der diesen Theorien eigenen Behauptungen über die Art, wie das globale System funktioniert. Diese Theorien verschreiben nicht bloß völlig verheerende Heilmittel für die Probleme, vor denen die große Mehrheit der Menschen dieser Welt steht. Sie beruhen auch auf einem vollkommen oberflächlichen Verständnis des Weltsystems.
Vor langer Zeit hat Marx darauf hingewiesen, dass die Art, wie der Kapitalismus funktioniert, allzu leicht vor den Menschen verbirgt, was tatsächlich geschieht. Diejenigen, die auf dem Markt kaufen und verkaufen, sehen nur die Wechselwirkung der Waren auf diesen Märkten, nicht die menschlichen Tätigkeiten, die hinter diesem Wechselspiel liegen. Diejenigen, deren Einkommen aus Dividenden und Zinsen stammt, oder die auf den Geldmärkten spielen, glauben, dass das Geld selbst magische Fähigkeiten hat zu wachsen – es habe nichts zu tun mit der Plackerei der Menschen in den Fabriken, auf den Feldern, in den Bergwerken und Büros. Die Kapitalisten, die von der Arbeit der Arbeiterleben, glauben, sie verschaffen ihnen Arbeit. Arbeitslosigkeit wird als Folge irgendeiner Verringerung der gesamten Arbeit, die getan werden muss, gesehen, und nicht als Folge der Absurdität eines Systems, das von der blinden Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Eigentümern der Produktionsmittel getrieben wird.
Marx nannte diese verkehrte Sicht der Welt, wie sie der Kapitalismus hervorbringt, den „Fetischcharakter der Ware“ – ein Vergleich mit der religiösen Vorstellung, dass Gott die Menschen schuf, nicht die Menschen Gott. In dieser Sicht sind die Mühe, der Schweiß und die Ausbeutung, die zur Schaffung neuen Reichtums notwendig sind, kaum vorhanden.
Neoliberale und Globalisierungs-Theorien treiben diese auf dem Kopf stehende Sicht der Welt zum Äußersten. Wie der Mainstream der „neoklassischen“ oder der „Grenznutzen“-Version der Wirtschaftstheorien, mit denen sie verwandt sind, so sehen sie die Dinge vom Standpunkt des Finanz- und Handelskapitalisten. Das ist ein Standpunkt, der praktisch ignoriert, was in der wirklichen Welt der Produktion und Ausbeutung geschieht.
Am deutlichsten ist das der Fall, wenn beschrieben wird, was wirklich während des letzten Viertels des Jahrhunderts mit der Struktur der Weltwirtschaft geschehen ist. Transaktionen, die staatliche Grenzen überschritten, haben eine wachsende Rolle gespielt. Doch war das viel häufiger bei finanziellen Transaktionen der Fall als bei der materiellen Organisation der Produktion. Ich habe dafür in zwei anderen Artikeln, die ich in dieser Zeitschrift geschrieben habe [50] eine Menge empirischer Beweise geliefert. An dieser Stelle will ich nur einige wenige Punkte zusammenfassen.
Während internationale Finanzleute täglich Billionen Dollar über nationale Grenzen bewegen, stellen die multinationalen Konzerne den größten Teil ihrer Produktion weiterhin in einem, in wenigen Fällen in zwei, Ländern her. Das Führungspersonal der größten multinationalen Konzerne zeigt ähnlich unverändert eine „nationale Schieflage“. Keinem Multi ist es gleichgültig, was der Staat tut: darüber hinaus rechnet jeder multinationale Konzern mit „seinem“ Staat, wenn es darum geht, bei der Beeinflussung von Zinssätzen und Wechselkursen und bei internationalen wirtschaftlichen und finanziellen Verhandlungen für seine Interessen zu kämpfen. Und wenn es knirscht, werden die Multis, die ihren Standort in einem bestimmten Land haben, sogar dafür eintreten, dass die Regierung des Landes eingreift, um Großunternehmen zu verstaatlichen, deren Bankrott ihre gemeinsamen Interessen bedroht (das geschah mit den US-Sparkassen unter Reagan und Bush, mit skandinavischen und japanischen Banken im Verlauf der 90er Jahre und erst vor kurzem mit dem koreanischen Riesen Daewoo).
Die multinationalen Konzerne sind also alles andere als „schwerelos“. Sie können nicht im Handumdrehen riesige Produktionsanlagen aus einem Land in ein anderes verlagern.
„Metallbearbeiten“ ist immer noch für fast alle von ihnen wesentlich. Autos, Lastwagen, Stahl für Träger, Brücken und Fahrgestelle, Kühlschränke, Waschmaschinen, Pharmazeutika, selbst Computer und Microchips müssen nach wie vor in sehr teuren Fabriken produziert werden, die nicht mit einem Federstrich von einem Ort zum andern bewegt werden können. Die Industrien, die leicht verlagert werden können – insbesondere die Bekleidungsherstellung, die billige Nähmaschinen benutzt – sind die Ausnahme, nicht die Regel. Bei 90 Prozent der Industrie dauert jede Verlagerung Jahre, nicht Tage (Ford z. B. geht davon aus, dass sie mindestens zwei Jahre brauchen, um die Produktion von Dagenham nach Deutschland zu verlagern). Und wenn Verlagerungen vorkommen, dann sind es in der überwältigenden Zahl der Fälle Verlagerungen aus einem entwickelten Land in ein anderes. Anfang der 90er konzentrierten sich drei Viertel der weltweiten Überseeinvestitionen auf diese Länder und weitere 16,5 Prozent gingen in die zehn wichtigsten Schwellenländer. Nur 8,5 % aller Auslandsinvestitionen erreichten die Dritte Welt.
Jüngere Zahlen, die die relative Größe der Wirtschaften der amerikanischen Kontinente und einzelner US-Staaten zeigen, verraten, wo das Herz des Systems der Weltproduktion schlägt. Wenn man die ganze westliche Hemisphäre als 100 Prozent setzt, dann umfassen die USA als Ganzes davon 76 Prozent. Im Vergleich dazu entfallen auf Brasilien als größtes der lateinamerikanischen Länder nur 8 Prozent (weniger als Kalifornien mit 10 Prozent); auf Kanada entfallen nur 6 Prozent (nur soviel wie der Staat New York); auf Mexiko 4 Prozent (so viel wie Illinois und weniger als die 5 Prozent von Texas); auf Argentinien nur 3 Prozent (so viel wie Ohio und weniger als Florida mit 4 Prozent). Chile, Peru, Ecuador, Kolumbien, Guatemala, Uruguay und Venezuela zusammen summieren sich nur zu 3 Prozent. [51]
Armut besteht in weiten Gebieten von Lateinamerika, Afrika und Asien nicht nur, weil das Kapital, wenn es dort investiert, niedrige Löhne zahlt, sondern auch, weil dort zu investieren überhaupt nur selten mit seinem Verlangen nach ständigem Profit zusammenpaßt.
Wie Unternehmen nicht auf geographisch verwurzelte Produktionsmöglichkeiten verzichten können, so können sie auch nicht auf Arbeiter verzichten. Trotz allen Geschreis über ,Globalisierung‘ ist die Zahl der Industriearbeiter in den fortgeschrittenen Industriestaaten viel größer als vor einem halben Jahrhundert und sie ist im letzten Jahrzehnt kaum gefallen. Die Anzahl der Industriearbeiter in den 24 führenden Wirtschaften betrug 1900 51,7 Millionen, 1950 88 Millionen, 1971 waren es 120 Millionen und 1998 112,8 Millionen. In den USA waren es 1900 8,8 Millionen, 1950 20,6 Millionen, 1971 26 Millionen und 1998 31 Millionen. [52]
Die Zahlen für die Industrie sind nur ein Teil der Geschichte. Eine sehr große Anzahl der Arbeitsplätze im ‚Dienstleistungsbereich‘ ist hinsichtlich der Arbeitsbedingungen nicht von ‚industriellen‘ Arbeitsplätzen zu unterscheiden. Das gilt für Gruppen wie Müllarbeiter und viele Büroangestellte. Das gilt auch für Transportarbeiter und Auslieferungspersonal – Gruppen, die wichtiger, nicht unwichtiger werden, wenn der E-Commerce abhebt (denn sie werden gebraucht, um Güter auszuliefern, selbst von der ,gewichtslosesten‘ Firma). Und das Wachstum der Fast-Food-Ketten und Call-Center fügt Tag für Tag weitere in fabrikähnlichen Bedingungen arbeitende Beschäftigte hinzu.
Keine dieser Gruppen ist eigentlich machtlos, wenn es dazu kommt, den Multis entgegenzutreten. Ford in Großbritannien brachte beim letzten Streik 1988 Ford in ganz Europa zum Stillstand. Einzelne Fabriken von General Motors hatten 1998 die gleiche Wirkung in Nordamerika. Erst vor kurzem haben Postarbeiter und Sicherheitsleute in Frankreich ihre potentielle Macht gezeigt.
Bedauerlicherweise mangelt es Kritikern des Neoliberalismus zu oft am Verständnis solcher Irrtümer der Globalisierungstheorie. So schreibt Viviane Forrester:
Nun ist diese Welt, in der die Orte der Arbeit und die der Wirtschaft zusammenfielen, wo die Arbeit vieler Akteure für die Entscheidungsträger unersetzlich war, aber wie weggezaubert ... Die völlig neue Welt, die im Zeichen der Kybernetik, der Automatisierung, der revolutionären Technologien entsteht und die nun die Macht ausübt, ... ist ... auch ohne wirklichen Bezug zur ‚Arbeitswelt‘, die ihr nicht mehr vertraut ist. [53]
Naomi Klein klingt oft ähnlich, wenn sie schreibt, dass sich viele Multis auf „ein System von freischwebenden Fabriken, die freie (unbehinderte) Arbeiter beschäftigen,“ gründen, „die nicht mehr in ihrer traditionellen Rolle als Massenarbeitgeber leben können.“ [54] Sie schreibt, dass General Motors „seine Produktion in die Maquilodoras [den Fabrikgürtel südlich der Grenze USA-Mexiko] und dessen Klone rund um den Erdball“ verlagert. [55] Das erweckt den Eindruck, als ob es einen riesigen Aderlass von Arbeitsplätzen aus den USA nach Mexiko gäbe. Doch an anderer Stelle gibt Klein die Gesamtzahl der in den Maquilodoras Beschäftigten mit 900.000 an [56] – das ist weniger als ein Fünfundzwanzigstel der Beschäftigten in den Vereinigten Staaten. In den USA sind bei GM 200.000 beschäftigt, viel mehr als für GM in Mexiko arbeiten.
David Bacon, der oft eine marxistische Terminologie benutzt, macht den gleichen Fehler, wenn er in der Bewegung des Kapitals in Länder der Dritten Welt den Hauptgrund für Arbeitsplatzverluste in den Vereinigten Staaten sieht: „Der Unterschied im Lebensstandard zwischen reichen und armen Ländern ... ist die Ursache des Verlustes von Arbeitsplätzen in den USA, da die Konzerne ihre Produktion örtlich neu festlegen.“ [57]
Tatsächlich ist die wesentliche Ursache für den Verlust von Arbeitsplätzen in allen fortgeschrittenen Ländern die Umstrukturierung, die innerhalb der bestehenden industriellen Komplexe die Produktivität steigern soll, nicht der Umzug nach Übersee. Dort wo es eine Verlagerung von Industrie gegeben hat, war es in der Regel eine Verlagerung innerhalb der Vereinigten Staaten, nicht über nationale Grenzen hinweg. Die größten Niederlagen, die britische Arbeiter hinnehmen mussten – die der Bergarbeiter 1985 und der Drucker 1987 – waren nicht das Ergebnis einer Produktionsverlagerung ins Ausland.
Das sind keine geringfügigen Schwächen in der Argumentation von Forrester, Klein oder Bacon. Eine der Funktionen der neoliberalen Theorien ist, den Eindruck zu vermitteln, dass das System nicht nur außer staatlicher Kontrolle geraten ist, sondern auch, dass es für diejenigen, die in ihm arbeiten, unmöglich ist, es herauszufordern. Das Argument, dass Unternehmen willkürlich den Standort wechseln können, ist eine Entschuldigung für Regierungen, die sich deren Diktaten beugen, und für Gewerkschaftsführer, die es ablehnen, sie zu bestreiken. Ihr Argument ist „Wir können sie nicht schlagen, also müssen wir uns mit ihnen verbinden.“ Es ist ein Fehler, wenn Widersacher des Neoliberalismus auf diese Behauptung hereinfallen.
Schließlich gibt es noch ein Merkmal der modernen Welt, über das Neoliberalismus und Globalisierungstheorien nichts zu sagen haben, das aber von enormer Bedeutung für ihre Kritiker sein sollte. Es ist der Hang zum Krieg.
Die Logik der Globalisierungstheorien besteht darin, dass Unternehmen sich nicht darum kümmern, in welchem Staat sie tätig sind und/oder wie mächtig dieser Staat ist. Freier Handel und freie Bewegung des Kapitals bedeuten danach das Ende der Kriege. Oder, wie sie behauptet haben, „Keine zwei Länder, in denen es McDonalds gibt, haben jemals Krieg geführt.“
Die Wirklichkeit der Welt in den jüngsten Jahrzehnten hat solche Behauptungen Lügen gestraft. Kriege sind mit schrecklicher Regelmäßigkeit ausgebrochen und haben das innere Leben ganzer Weltregionen in Verwirrung gestürzt – der Krieg des Westens gegen den Irak, die Folge von Kriegen und Bürgerkriegen in Afrika, die Kriege im früheren Jugoslawien, der Krieg des Westens gegen Serbien, die Kriege Russlands gegen Tschetschenien. Dazu kamen noch Kleinkriege oder Kriegsdrohungen zwischen Indien und Pakistan, Griechenland und der Türkei, China und Taiwan, Ecuador und Peru. Viele dieser Länder haben McDonalds-Filialen – Kroatien und Serbien, Indien und Pakistan, Ecuador und Peru, Griechenland und die Türkei, die NATO-Mächte und Rest-Jugoslawien.
Solche Zusammenstöße zwischen bewaffneten Staaten sind genauso Teil des gegenwärtigen Systems wie Strukturanpassungsprogramme und Verhandlungen über freien Handel. Das liegt daran, dass das Schicksal der einzelnen Kapitalisten nach wie vor in hohem Grade mit der Macht und dem Einfluss eines Staates verbunden ist. Unternehmen wie Boeing, Monsanto, Microsoft, Texaco und General Motors würden nicht dort stehen, wo sie sind, wenn sie nicht seit langem bestehende Verbindungen mit dem US-Staat im Allgemeinen und dem US-Militär im Besonderen hätten. Doch hängen die Macht und der Einfluss eines Staates von seinem Potential ab, sich militärisch mit anderen Staaten zu schlagen – oder zumindest mit einem Bündnissystem, welches das kann.
Zu Beginn der 90er Jahre haben wir gesehen, wie die von den USA geführte Koalition Bagdad vernichtete, um ihren Einfluss auf die Ölquellen Kuwaits zu sichern. Am Ende der 90er Jahre vernichtete eine andere von den USA geführte Koalition Belgrad, um die „Glaubwürdigkeit“ der NATO aufrechtzuerhalten – das bedeutet, die strategische Kontrolle eines US-dominierten Bündnisses über die Südostflanke Europas und den Zugang zu den ölreichen Regionen des Mittleren Ostens und des Kaspischen Meers durchzusetzen. Welche Entschuldigungen auch immer im Propaganda-Sperrfeuer, das die Kriege begleitete, benutzt wurden, die Rationalität solcher Aktionen bestand für das US-Außenministerium darin, dass sie zeigten, dass die USA in der Lage sind, überall auf der Welt ihre Macht durchzusetzen. Sie verteidigten eine Hegemonie, die verhindern soll, dass Regierungen der Dritten Welt Interessen der US-Kapitalisten beschädigen, und die sicherstellen soll, dass sich die europäische Staaten und Japan der amerikanischen Führung im Handel, den Investitionen und den Verschuldungsverhandlungen unterwerfen.
Thomas Friedman, ein Journalist, der dem amerikanischen Außenministerium nahe steht, fasste die Beziehung zwischen Big Business und Militär zusammen:
Die unsichtbare Hand des Marktes kann nie ohne die unsichtbare Faust arbeiten. McDonalds kann nicht blühen ohne McDonnell Douglas. Die unsichtbare Faust, die die Welt in Schach hält, damit die Technik des Silicon Valley blühen kann, hat den Namen US Army, Air Force, Navy und Marine Corps. [58]
Meistens versuchen Regierungen und Vertreter des Neoliberalismus, solche Verbindungen zu verheimlichen und den Eindruck zu erwecken, dass sie nur aus Sorge um die Menschenrechte in den Krieg zögen. Auf diesen Vorwand sollten die Widersacher des Neoliberalismus nicht hereinfallen. Der IWF, die Weltbank, Welthandelsorganisation (WTO), das Pentagon und die NATO sind nur verschiedene Aspekte desselben Systems. Man kann nicht gegen den einen kämpfen und die anderen unterstützen.
Neoliberalismus und Globalisierungstheorien sind Ideologien, die die tatsächliche Funktionsweise der Welt, in der wir leben, verschleiern, einschließlich der tatsächlichen Beziehungen zwischen Unternehmen und Staaten und zwischen Industrie und Finanzen. Eine wirksame Kritik daran darf nicht dabei stehen bleiben, die Unmenschlichkeit aufzuzeigen. Sie muss auch benennen, wie diese Theorien die Widersprüche in ihrem eigenen System verschleiern, und sie muss die Möglichkeiten zeigen, wie dagegen gekämpft werden kann.
Das steht in Verbindung mit einem anderen Punkt – nämlich der Frage, warum es dem Neoliberalismus gelingen konnte, so einflussreich zu werden. Viele seiner Gegner neigen dazu, darin ein Ergebnis multinationaler Verschwörungen und ideologischer Taschenspielertricks zu sehen. Die Verschwörungen sind real genug – wenn man unter einer Verschwörung ein geheimes Treffen interessierter Parteien versteht, um Dinge zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren. Kapitalisten haben das immer getan und werden es immer tun. Wie Adam Smith vor mehr als 200 Jahre bemerkte, „Wer annimmt, dass Meister sich selten zusammensetzen, weiß genauso wenig von der Welt wie von den Untertanen“. [59] Aber das allein reicht nicht aus, um den Einfluss des Neoliberalismus heute zu erklären, wenn vor nur 30 Jahren ziemlich verschiedene Lehrmeinungen gleichwertigen Einfluss in den herrschenden Kreisen hatten.
Auch nicht besser sind Erklärungen, die von der reinen Macht der Ideen ausgehen. So spricht Pierre Bourdieu von der „Auswirkung eines gemeinsamen Glaubens ... Die Arbeit der „neuen Intellektuellen“, die ein Klima geschaffen hat, das den Rückzug des Staates begünstigt und so die Unterwerfung unter die Werte der Wirtschaft.“ [60]
Wenn man diese Dinge wirklich verstehen will, dann gibt es keine andere Wahl als zu Marx zurückzukehren. Viele Kritiker des Kapitalismus halten sich von Marx fern, einmal wegen der verzerrten Darstellung seines Denkens, die sich auf der Höhe des Stalinismus durchsetzte, und dann, in bestimmten intellektuellen Kreisen, wegen des gewundenen akademischen Marxismus der 70er Jahre. Trotzdem legte Marx den Grundstock für eine Analyse des Systems, die einen Schlüssel liefert zum Verständnis all der unmenschlichen Merkmale, die von den Kritikern der Globalisierung und des Neoliberalismus heute hervorgehoben werden – und zum Kampf dagegen.
Der junge Marx begann als ein liberaler demokratischer Gegner der halbfeudalen Unterdrückung, die in den späten 1830ern und frühen 1840ern das kontinentale Europa kennzeichnete. Aber er erkannte bald: Die neue kapitalistische Art, die Gesellschaft zu organisieren, die neben der alten Art hervortrat und die schon auf der anderen Seite der Nordsee in England triumphiert hatte, war von eigenen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet. Er begann tastend nach einem Verständnis dafür zu suchen, wie dieses neu entstehende System funktionierte und wie es bekämpft werden konnte, ganz ähnlich wie die „Meinungsführer“ von Seattle tastend nach einer Erklärung suchen für die Probleme, die heute durch das weltweite System des globalen Kapitalismus gestellt werden.
Sein Ausgangspunkt war die Erscheinung, die er „Entfremdung“ nannte. Das was er über dieses damals neue System zu entdecken begann, brachte ihn dazu, dessen bekannteste Verfechter kritisch zu lesen – politische Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo. Er kam zu der Schlußfolgerung, dass das System zwar den Umfang des Reichtums, den Menschen herstellen konnten, ungeheuer steigerte, es aber der Mehrheit der Menschen den Nutzen dieses Reichtums verweigerte:
Je mehr der Arbeiter produziert, er um so weniger zu konsumieren hat, dass, je mehr Werte er schafft, er um so wertloser, und so unwürdiger wird ... Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter ... Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. [61]
Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr Opfer seines Lebens ... Was er für sich selbst produziert, ist nicht die Seide, die er webt, nicht das Gold, das er aus dem Bergschacht zieht, nicht der Palast, den er baut. Was er für sich selbst produziert, ist der Arbeitslohn, und Seide, Gold, Palast lösen sich für ihn auf in ein bestimmtes Quantum von Lebensmitteln, vielleicht in eine Baumwolljacke, in Kupfermünze und in eine Kellerwohnung. Und der Arbeiter, der zwölf Stunden webt, spinnt, bohrt, dreht, baut, schaufelt, Steine klopft, trägt usw. – gilt ihm dies zwölfstündige Weben, Spinnen, Bohren, Drehen, Bauen, Schaufeln, Steinklopfen als Äußerung seines Lebens, als Leben? Umgekehrt. Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit aufhört, am Tisch, auf der Wirtshausbank, im Bett. [62]
Wir erkennen leicht, wie sich die Worte von Marx auf die von Naomi Klein beschriebenen jungen Textilarbeiterinnen in Indonesien oder Zentralamerika anwenden lassen, die für einen Dollar am Tag teure Designerkleidung nähen, die sie niemals werden kaufen können, oder auf die Menschen in Indien, die ihr Land verlieren, weil es in die Hände der Agro-Industrie kommt und Ernten hervorbringt, von denen sie niemals einen Teil bekommen werden, oder auf die US-Stahlarbeiter, die auf die Straße geworfen werden, weil weltweit „zu viel“ Stahl produziert wird. Aber Marx hat nicht nur einfach über diese Zustände berichtet. Das haben auch andere vor ihm getan und noch viele mehr haben das fortgesetzt, lange nachdem er gestorben war. Er hat außerdem in einem Vierteljahrhundert zermürbender intellektueller Arbeit den Versuch unternommen, zu verstehen, wie das System entstanden ist und wie es Kräfte schuf, die sich ihm entgegenstellen.
Er erkannte den Ursprung des Systems darin, dass eine Minderheit die „Produktionsmittel“ monopolisiert hatte – d. h. diejenigen Produkte vergangener Arbeit wie Werkzeuge und Ausrüstungen, zu denen die Menschen einen Zugang haben müssen, wenn sie sich einen angemessenen Lebensunterhalt schaffen wollen. Das führte dazu, dass die Mehrheit keine andere Wahl hatte, als ihre Arbeit (oder genauer ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre „Arbeitskraft“) den Angehörigen der Minderheit feilzubieten. Die Alternative war zu verhungern. Doch das erlaubte es den Mitgliedern der besitzenden Minderheit, für die Arbeit weniger zu zahlen als den Wert der Waren, den die Arbeiter herstellen konnten. Sie erhielten einen Teil der Arbeit der Arbeiter umsonst. Aus diesem „Mehrwert“ stammt der Profit, die Dividenden, die Zinsen und die Mieten.
Gleichzeitig stehen die Unternehmen, die den Mitgliedern der Minderheit gehören, miteinander in Konkurrenz. Das führt dazu, dass jeder versucht, schneller als seine Rivalen zu expandieren. Das geht nur, wenn die Masse des Mehrwerts, die er besitzt, ständig maximiert wird, indem seine Arbeiter so hart wie möglich angetrieben werden. Das Ergebnis ist die Absurdität eines Wirtschaftswachstums, das nichts mit einer Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlergehens der großen Masse der Menschen zu tun hat. Wie Marx es im Kapital formulierte:
Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! Also spart, spart, d. h. rückverwandelt möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital! Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus. [63]
So entstand ein ganzes System, dass die Masse der Menschen einsperrt:
Die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter ist die Herrschaft der Sache über den Menschen, toter Arbeit über lebendige, des Produktes über den Produzenten, da tatsächlich die Waren, die zu Mitteln der Herrschaft über den Arbeiter werden, die Produkte des Produktionsprozesses sind ... Das ist der Entfremdungsprozeß seiner eigenen gesellschaftlichen Arbeit? [64]
Die einzelnen Kapitalisten sind die menschlichen Werkzeuge, die diesen Prozess der Masse der Menschen aufzwingen. Aber sie haben keine Wahl, wenn sie Kapitalisten bleiben wollen. Wenn sie keine Profite machen, die denen ihrer Konkurrenten vergleichbar sind, dann werden sie aus dem Geschäft geworfen oder von ihren Konkurrenten aufgekauft. Insofern sind die Kapitalisten genauso Gefangene des Systems wie die Arbeiter – außer dass sie enorm privilegierte Gefangene sind. Während „von Anfang an der Arbeiter als Opfer gegen es in einer Beziehung der Rebellion steht und den Prozeß als Versklavung wahrnimmt“, ist der Kapitalist „im Entfremdungsprozeß verwurzelt und erfährt in ihm seine höchste Befriedigung.“ [65]
Die Klasse der Kapitalisten hat den Vorsitz über eine ganze Welt „entfremdeter Arbeit“, eine Welt, in der die Produkte der menschlichen Tätigkeit ein Eigenleben bekommen und sie beherrschen. Es ist eine Welt eines nie endenden Zwangs zur Arbeit und periodischer Arbeitslosigkeit, der Überproduktion und des Hungers, der Vertreibung der Menschen vom Land in die Städte und der Verweigerung von Arbeitsplätzen, wenn sie dort ankommen. Dieser Prozess hat kein Ende. Je mächtiger das Kapital wird, desto mehr Menschen sind darauf angewiesen, für es zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jedesmal wenn sie dem Kapital ihre Fähigkeit zu arbeiten verkaufen, zieht es mehr Arbeit aus ihnen heraus und wird noch mächtiger. Selbst wenn sie in einer vorteilhaften Lage sind und es schaffen, eine Zeitlang höhere Löhne durchzusetzen, kommt dieser Prozess zu keinem Halt: „Ist das Kapital rasch anwachsend, so mag der Arbeitslohn steigen; unverhältnismäßig schneller steigt der Profit des Kapitals. Die materielle Lage des Arbeiters hat sich verbessert, aber auf Kosten seiner gesellschaftlichen Lage.“ Die Lohnarbeit ist weiterhin dabei „sich selbst die goldnen Ketten zu schmieden, woran die Bourgeoisie sie hinter sich herschleift“. [66]
In einer berühmten Passage im Kommunistischen Manifest beschreiben Marx und Engels, wie sich das System von seinen ursprünglichen Grundlagen in Westeuropa ausbreitet und die Welt vereinnahmt:
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrie sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, ... die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander ...
Die Bourgeoisie ... zwingt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente ... alle Nationen, die Produktionsweisen der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde. [67]
Gleichzeitig ereignete sich noch etwas Anderes in Marx‘ „Gemälde“. Große Kapitalisten verdrängten kleine Kapitalisten oder übernahmen sie. Das führte zu dem, was er „Konzentration und Zentralisation des Kapitals“ nannte. Das war ein langer, ausgedehnter Prozess, und es entstanden ständig neue kleine Kapitalisten, insbesondere in neuen Produktionszweigen, die von den alteingesessenen Unternehmen übersehen wurden. Aber im Verlauf der Zeit wurde die Richtung klar. Auch wenn die prokapitalistischen Wirtschaftswissenschaftler beständig auf der Rolle der kleinen Geschäftsleute herumreiten, wird das System zunehmend von einer Handvoll Großunternehmen beherrscht.
Das führt zu einer nie endenden Unsicherheit der Arbeiter. Wie gesichert ihr Lebensunterhalt auch zu sein scheint, nie gibt es eine Garantie, dass der Kapitalist, der sie beschäftigt, es nicht profitabler finden könnte, sie zu entlassen und sein Geschäft anderswo aufzumachen – oder zumindest zu behaupten, dass er das täte, wenn die Arbeiter nicht schlechteren Arbeitsbedingungen oder Lohnkürzungen zustimmten. Und es gibt auch keine letzte Sicherheit, dass das Unternehmen nicht von einem Konkurrenten ausgebootet wird, der irgendwo anders entstanden ist, mit einer moderneren Ausrüstung oder mit Arbeitern, die bereit waren, niedrigere Löhne zu akzeptieren.
Es waren nicht nur die bereits vorhandenen Arbeiter, die litten. Als das Kapital stärker wurde, gewann es die Macht, auch all diejenigen Bereiche der Produktion zu unterwandern, die ihm zuvor nicht unterworfen waren. Marx beschreibt im Kapital, wie der Aufstieg des Kapitalismus in jedem Stadium zu einem Wandel der Beziehungen auf dem Land führte. Die alte Bauernschaft wurde zerstört und wurde einerseits durch eine kleine Minderheit kapitalistischer Bauern ersetzt und auf der anderen Seite durch eine riesige Menge Menschen, die ihren Lebensunterhalt nur verdienen konnten, indem sie für andere arbeiteten. Er zitiert ausführlich zeitgenössische Zeugen für das, was sich in England, Schottland und Irland auf dem Land ereignete. Die Berichte über die Entvölkerung von Dörfern, die Zerstörung von Häusern und die Verarmung der verbleibenden Bevölkerung könnten aus Ländern der Dritten Welt von heute stammen. [68] So beschreibt er z. B., wie die Einverleibung des schottischen Hochlands in die kapitalistische Wirtschaft einen zweifachen Prozess mit sich brachte, der das Erscheinungsbild des Landes selbst veränderte: Zuerst die Vertreibung der Kleinbauern, um die Felder in Schafweiden umzuwandeln, und dann die Ersetzung der Schafe durch Rehe und Hirsche, als man es zuließ, dass sich Wälder auf dem zuvor produktiven Land ausdehnten. [69]
Aber Marx betonte noch etwas Anderes. Die Welt der entfremdeten Arbeit ist nicht statisch. Die fortgesetzte Akkumulation vergangener Arbeit und die fortgesetzte Ausdehnung der Produktion bedeuten, dass mehr Reichtum als jemals in der menschlichen Geschichte zuvor produziert wird:
Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten. [70]
Doch ein solches Anwachsen des Reichtums dient jedes Mal, diejenigen weiter zu unterdrücken, deren Arbeit ihn geschaffen hatte. Wie Marx es formulierte ähnelte „menschlicher Fortschritt ... jenem scheußlichen heidnischen Götzen, ... der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.“ [71]
Aber es gibt die Möglichkeit, die Kontrolle dieses Reichtums zu übernehmen und die Produktion so zu reorganisieren, dass die Bedürfnisse der Menschen in einer Art befriedigt werden können, von der man in der Vergangenheit nur träumen konnte. Die kapitalistische Akkumulation ist der äußerste Ausdruck menschlicher Entfremdung, aber sie bereitet auch den Boden für eine revolutionäre Überwindung der Entfremdung, für die Schaffung einer Gesellschaft, die Schluss macht mit Not und Elend, die mindestens seit der Jungsteinzeit das Los des größten Teils der Menschheit gewesen sind.
Marx starb Anfang der 1880er Jahre. Er hatte deshalb nur wenig Gelegenheit zu sehen, wie die Tendenzen, die er beschrieb – wobei er sich hauptsächlich auf die Entwicklung des britischen Kapitalismus stützte – sich mit der Zeit entfalteten. Aber die Generation von Marxisten, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts schrieb, war dazu in der Lage. Der Österreicher Rudolf Hilferding beschrieb die wachsende Rolle, die Finanzinstitutionen wie Banken und Börsen spielten, wie damit eine zunehmende Verbindung zwischen den Unternehmen innerhalb eines jeden Landes und dem Staat entstand und das „Finanzkapital“ hervorgebracht wurde. [72] Rosa Luxemburg beschrieb, wie die Kapitalisten Europas und der USA den Rest der Welt nach Märkten und Rohstoffen durchforsteten, indem sie alle anderen Länder zu Kolonien und Vasallen degradierten und dabei deren Bevölkerung aussaugten. [73] Nikolai Bucharin und Wladimir Lenin analysierten die Entstehung des ‚staatsmonopolistischen Kapitalismus‘. Sie richteten die Aufmerksamkeit darauf, dass in jedem Land in wachsendem Maße die kapitalistischen Unternehmen mit dem Staat verschmolzen, dass sich auf diese Weise Imperien bildeten, um die Profite, die durch ‚friedlichen Wettbewerb‘ erzielt werden konnten, zu ergänzen. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Entwicklung waren Kriege zwischen den Großmächten zur Neuaufteilung der Welt. Leo Trotzki zeigte, wie angesichts der großen wirtschaftlichen Krisen und der Bedrohung durch die Arbeiterbewegungen die herrschenden Klassen bereit waren, sich an die Führer der kleinbürgerlichen faschistischen Massenbewegungen zu wenden, weil sie darin ein Mittel sahen, ihre Machtstellung aufrechtzuerhalten, auch wenn das ein noch nie gekanntes Ausmaß an Unmenschlichkeit zur Folge hatte.
Die Welt, die von Hilferding, Luxemburg, Bucharin, Lenin und Trotzki analysiert wurde, war in vieler Hinsicht sehr verschieden von der, die Marx beschrieben hatte. Staat und Krieg, die in den ökonomischen Schriften von Marx kaum erwähnt werden, spielten eine gewaltige Rolle. So auch die Beeinflussung der Preise durch Monopole, die Handelsverträge zwischen Nationalstaaten, die Machenschaften der Finanzleute auf den Geld- und Warenmärkten. Und schließlich war das System, welches zu Marx‘ Zeiten fast nur in Europa und Nordamerika eine Grundlage hatte, nun dabei, die ganze Welt in sein Netzwerk von Kauf und Verkauf und zunehmend auch der Produktion einzubinden.
Aber es gab ein wichtiges Element der Kontinuität. Treibende Kraft des Systems als Ganzes blieb das Herauspumpen von Arbeit aus Arbeitern und ihre Umwandlung in Kapital, in „tote Arbeit“. Dessen Zirkulation im Weltmaßstab bestimmte weiterhin die Grenzen, in denen die große Masse der Weltbevölkerung ihr Leben führen musste. Es war der Konkurrenzkampf zwischen denjenigen, die diese großen Anhäufungen toter Arbeit kontrollierten, der zum Ersten Weltkrieg und zur Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre führte.
Der starke Trend, der von Hilferding, Luxemburg, Lenin und den anderen festgestellt wurde – die zunehmende Integration von Industriemanagement und Staat – setzte sich während des Zweiten Weltkriegs und danach beschleunigt fort. Angesichts von Krieg und Wirtschaftskrise griffen Staaten ein, um nationale Unternehmen zu fusionieren und ihre Arbeitsweise mit der der staatlichen Bürokratien zu koordinieren. Das faschistische Italien, Nazi-Deutschland und bei Ausbruch des Krieges auch Großbritannien und die USA folgten diesem Weg. Auch schwächere kapitalistische Klassen anderswo taten das. Sie spürten, dass sie gegen ihre internationalen Konkurrenten nur bestehen konnten, wenn sie den Staat zur Mobilisierung von Ressourcen benutzten: Länder, die so unterschiedlich waren wie das rechte Regime in Polen, das populistische Regime in Brasilien, die peronistische Regierung in Argentinien, alle bekannten sich zu Verstaatlichungen und oft zu einem gewissen Maß an „Planung“. Viele gerade unabhängig gewordene Länder der Dritten Welt schlugen in den Jahrzehnten nach dem Krieg den gleichen Weg ein. Und sogar in Ländern wie Großbritannien und Frankreich befanden sich wichtige Teile der produktiven Industrie, des Transportwesens, Wasser und Energie unter staatlicher Regie. Es war die konservative Regierung von Chamberlain, die Großbritanniens Fluggesellschaften verstaatlichte, und es war die Regierung de Gaulle, die in Frankreich Renault verstaatlichte.
Dieser Zusammenhang ermöglicht uns, ein anderes wichtiges Merkmal der Welt in diesen Jahrzehnten zu verstehen – den Stalinismus. Es war in der Linken üblich, den Stalinismus als eine Form des Sozialismus zu betrachten, wenngleich mehr oder weniger entstellt. Jetzt ist es geradezu modern, ihn als eine Gesellschaftsform zu betrachten, die sich radikal vom Kapitalismus unterscheidet, aber schlechter ist. Der Stalinismus wird jedoch erst besser verständlich, wenn man ihn als ein Extrem in einer Bandbreite zunehmender Verstaatlichung von Ökonomien ansieht, die allesamt wie der altmodische Kapitalismus aus Marx‘ Zeit den Zwängen der konkurrierenden Akkumulation untergeordnet sind. Der Stalinismus war die extremste Form des Staatskapitalismus.
Die stalinistische Wirtschaft kam nicht in den frühen 1920ern auf, unmittelbar nach der russischen Revolution, sondern in den späten 1920ern, als eine neue Ausbeuterklasse auf dem Rücken der Konterrevolution entstand. Eine solche Klasse konnte ihre Stellung in einer Welt, die von großen bestehenden kapitalistischen Klassen beherrscht wurde, nur aufrecht erhalten, wenn sie versuchte, zu industrialisieren, um die anderen einzuholen. Stalin tat das, indem er innerhalb Rußlands viele der Methoden nachahmte, die mehr als ein Jahrhundert zuvor in der englischen industriellen Revolution benutzt wurden – die Vertreibung der Bauern vom Land, das Niederhalten der Reallöhne, den Einsatz von Kinderarbeit, die Einrichtung eines riesigen Zwangsarbeitsystems in den Gulags. Und all diese Dinge wurden, wie in so vielen anderen industriell unterentwickelten Ländern, vom Vertrauen begleitet, dass der Staat eine Aufgabe durchführen würde, die private Unternehmer nicht wollten oder nicht könnten.
Der Staat war vom Anfang der 1930er bis zur Mitte der 1970er praktisch überall zentral für den produktiven Kern des Kapitalismus. Die Lehrmeinungen, die diese Rolle rechtfertigten, unterschieden sich vom einem zum anderen Teil der Welt. Im Westen war die Wichtigste der Keynesianismus, benannt nach dem Ökonomen John Maynard Keynes, der nach der großen Krise Anfang der 1930er spürte, dass der einzige Weg, den Kapitalismus über Wasser zu halten, in der Staatsintervention bestand. Im russischen Block – und unter denjenigen, die im Westen und in der Dritten Welt seine Methoden bewunderten – herrschte die stalinistische Lehrmeinung vor, auch wenn sie nach 1956 verschiedene Namen erhielt. In der Dritten Welt herrschten „entwicklungstheoretische“ Auffassungen vor, nach denen die Industrialisierung mit Hilfe des Staates erreicht werden sollte, der ausländische Konkurrenz ausschaltet und neue Industrien aufbaut.
Unabhängig von den verwendeten Lehrmeinungen gab es in der von jedem Land verfolgten Politik einen gemeinsamen roten Faden. Unternehmen vertrauten auf den Staat, um ihrem Absatz eine gewisse Stabilität zu verschaffen, während die Staaten auf Unternehmen vertrauten, um ihre nationale industrielle Stärke aufzubauen. Dies in der Erwartung – zumindest in den größeren Ländern – innerhalb der nationalen Grenzen die ganze Breite der Industrien zu haben, die nötig sind, um den Bedarf einer modernen Wirtschaft zu decken.
In dieser Periode setzten alle, die den Kapitalismus reformieren, aber eine durchgreifende Revolution vermeiden wollten, auf eine Intervention des Staates, um ihre Ziele zu erreichen. In den fortgeschrittenen Ländern sagten die Keynesianer, dass eine solche Reform den Kapitalismus vor sich selbst retten könne, und Sozialdemokraten sagten, damit könne die Notwendigkeit eines scharfen Wechsels zum Sozialismus entfallen. In der Dritten Welt sahen Kommunisten, Sozialdemokraten, populistische Politiker und kleinbürgerliche Intellektuelle in einer derartigen Intervention das Mittel, welches es der einheimischen Ausbeuterklasse, Arbeitern und Bauern ermöglichte, sich miteinander zu verbünden, um den wirtschaftlichen Zugriff der imperialistischen Mächte zu brechen und wirtschaftliches Wachstum zu erreichen. Erst wenn das geschehen wäre, sollten die Arbeiter selbst um die Macht kämpfen. Diejenigen der heutigen Aktivisten, die in der Erosion der Staatsmacht durch die „Globalisierung“ der Wirtschaft das zentrale Problem sehen, sehnen sich nach der Rückkehr zu solchen Ideen.
Doch diese Sicht des Staates als einer gutwilligen Agentur zur Lenkung des Kapitalismus beruht auf einer sehr kurzsichtigen Vorstellung davon, was dieser Staat ist. Er gründet sich auf „Formationen bewaffneter Menschen“, deren Job das Töten ist. Die Ära der staatlichen Leitung der Industrie war keine Zeit, in der die Bevölkerung gütig behandelt wurde. Es war der Zeitraum, in dem das einprägsame Bild den Arbeiter als Anhängsel der Maschine darstellte, wie in Charly Chaplins „Moderne Zeiten“ oder auf Diego Riveras Wandbildern in Detroit. Dieser Zeitraum umfaßte die Naziherrschaft in Deutschland und den äußersten Schrecken des Holocaust, das Verhungern von ungefähr vier Millionen Menschen Anfang der 1940er Jahre im von Großbritannien regierten Bengalen, die französischen Kolonialkriege in Indochina und Algerien, den Krieg der USA gegen Vietnam. Er umfaßte auch die Schrecken, die mit der stalinistischen Zwangsindustrialisierung in der früheren UdSSR verbunden sind. Es war die Zeit, in der Lateinamerika fast ausschließlich von Militärdiktaturen beherrscht wurde, wie die am Ende der 1960er Jahre in Brasilien, und in der von 1958 bis 1960 mit dem „Großen Sprung nach vorn“ eine sofortige Industrialisierung in China versucht wurde, was zu vielen Millionen Hungertoten führte.
Der Kapitalismus beherrschte während dieser Phase die Welt, genauso wie er es vorher getan hat und nachher tun sollte. Und mit dieser Herrschaft gingen Schrecken einher, wie sie die gesamte vorherigen Geschichte der Menschheit nicht kannte. Jeder, der auf diese Periode des Kapitalismus mit Nostalgie zurückblickt, läßt zu, dass die heute bestehenden Schrecken die Erinnerung an die Schrecken, die gerade ein paar Jahrzehnte zurückliegen, verdrängt.
Es ist wahr, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das System 30 Jahre lang in der Lage war, ein beträchtliches Wachstum zu erleben, und dass während dieser Jahre ein Teil der Weltbevölkerung ihren Herren Verbesserungen des Lebensstandards abringen konnte. Aber auch zu dieser Zeit bestand der Motor des Wachstums nicht in der Gutwilligkeit oder Vernunft der Herrscher. Es war vielmehr der Kalte Krieg, der weltweit die Rüstungsausgaben auf eine in Friedenszeiten vorher nicht bekannte Höhe trieb. [74] Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Anfang der 1950er ging etwa ein Fünftel des Reichtums, der im reichsten Land der Welt, den USA, produziert wurde, direkt oder indirekt in den Militärhaushalt, und beim ärmeren militärischen Konkurrenten, der UdSSR, wahrscheinlich ein doppelt so hoher Anteil.
Unterdessen wirkte sich weiterhin die alte Logik des Kapitalismus aus. Großunternehmen übernahmen weiterhin kleinere Unternehmen oder drängten sie aus dem Geschäft, bis in den meisten Ländern einige wenige „Oligopole“ die wichtigsten Branchen der Wirtschaft dominierten. In Großbritannien z. B. stellten etwa 200 Unternehmen, die insgesamt von vielleicht 600 bis 800 Direktoren geleitet wurden, mehr als die Hälfte der gesamten Produktion her. Und auf dem Land entwickelte sich der Großteil der Welt-Landwirtschaft zunehmend nach dem Muster, das zuerst in Großbritannien entstand – mit Masseneinwanderungen in die Städte und Vertreibungen der Bauern, die ihr eigenen Stück Land bearbeiteten, durch eine kapitalistische Landwirtschaft, die Lohnarbeiter beschäftigte.
Die Entwicklung ging in Europa und Nordamerika am weitesten; hier verringerte sich die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten in Ländern wie Frankreich, Italien, Irland oder Spanien von mehr als 30-40 Prozent der Bevölkerung Anfang der 1950er auf gut unter 20 Prozent Mitte der 1970er. Aber dieser Prozess entwickelte sich auch in vielen ehemaligen kolonialen Ländern, lange bevor jemand von ,Globalisierung‘ sprach. In Indien z. B. kam in Regionen wie dem Punjab der fruchtbarste Boden in wachsendem Maße in die Hände mittelgroßer kapitalistischer Landwirte, die Lohnarbeiter beschäftigen – und die sich die neue Art von Saatgut, Rohrbrunnen und Dünger, die mit der ‚Grünen Revolution‘ kamen, leisten konnten. In Algerien war eine neu geschaffene Mittelklasse kapitalistischer Landwirte, nicht die ländlichen Armen, die Hauptnutznießerin der Landreform, die nach dem Ende der französischen Herrschaft durchgeführt wurde. Überall gestaltete der Kapitalismus die Gesellschaft nach seinem eigenen Bilde um.
Mitte der 1970er endete das Stadium der schnellen wirtschaftlichen Expansion plötzlich. Was Wirtschaftshistoriker als das ‚Goldene Zeitalter des Kapitalismus‘ bezeichnen, wich dem ‚bleiernen Zeitalter‘. Land für Land erlebte eine Folge von traumatischen wirtschaftlichen Krisen. Und alle Lehrmeinungen, die mit dem vorangegangenen Zeitalter in Verbindung gebracht wurden – der Keynesianismus, der Stalinismus und die Entwicklungstheorie – wurden beiseite gelegt. Das war der Zeitpunkt, an dem die herrschenden Klassen und die mit ihnen verbundenen Intellektuellen plötzlich massenhaft zu denjenigen Lehrmeinungen übergingen, die anfänglich allgemein als Monetarismus bekannt waren, dann als ‚Thatcherismus‘ oder als ,Reaganomics‘ und jetzt als Neoliberalismus.
Diese Übertritte waren nicht, wie Bourdieu anzunehmen scheint, einfach das Ergebnis einer mühsamen Wühlarbeit der Apostel des Neoliberalismus. Vielmehr spiegeln sie die verzweifelten Versuche verschiedener Gruppen wider, die im vorhergehenden Zeitraum für das Funktionieren der Wirtschaft verantwortlich waren und davon einen Vorteil hatten. Vor dem Hintergrund aufeinander folgender Krisen versuchten sie so, ihr Interesse dem Rest der Gesellschaft weiterhin aufzuzwingen. Die erste dieser Gruppen waren die Spitzen der weltgrößten Unternehmen. Nach Jahrzehnten eines beinahe mühelosen Wachstum der Märkte wurde es plötzlich notwendig, ihre Tätigkeiten umzustrukturieren und neue Profitquellen zu finden.
Eine Re- oder Umstrukturierung bedeutete sowohl „Rationalisierung“ der Produktion – die Entlassung von Arbeitern und die Schließung von Betrieben – als auch die Grenzen der im nationalen Rahmen geschaffenen Basis zu überschreiten. Üblicherweise bedeutete dies, das Eindringen in fremde Märkte gezielt zu verstärken und, etwas langsamer, damit zu beginnen, die Produktion über internationale Grenzen hinweg zu organisieren (wenn auch nicht immer: für Chrysler und British Leyland z. B. hieß Rationalisierung, sich aus Auslandstätigkeiten zurückzuziehen).
Neue Profite konnten nur durch das Auffinden von bisher noch nicht erschlossen Mehrwertquellen erzielt werden. Eine dieser Quellen lag in Industrien und Dienstleistungen, die in der Vergangenheit vom Staat aufgebaut worden waren, weil das private Kapital diese Arbeiten nicht übernehmen wollte, auch wenn sie unmittelbar oder mittelbar für seine Tätigkeiten notwendig waren. Was davon inzwischen zu einem lebensfähigen Geschäft geworden war, wurde als lukrativer Zusatz zum Profit übernommen – insbesondere, wenn es Monopolgeschäfte waren, die es dem privaten Kapital ermöglichten, in Wirklichkeit eine Steuer von denjenigen zu erheben, die ihre Produkte verbrauchten. Eine andere Quelle bestand darin, sich mittels Handels- und Schuldenverhandlungen Ressourcen aus den Wirtschaften schwächerer Staaten der Welt anzueignen, wobei man sich auf die Macht der größten Staaten der Welt, insbesondere der USA, stützen konnte. Und schließlich konnten überall die Gewinne nach Steuern gesteigert werden, wenn man die Steuerbelastung von den Gewinnen zu den Löhnen und Konsumgütern verschob.
Obwohl sich der Neoliberalismus als Ideologie gegen Staatseingriffe stellt, hing die praktische Durchführung dieser Politik immer vom Staat ab – oder zumindest von Verhandlungen zwischen den mächtigsten Staaten der Welt. Das ist der Grund, warum ihre Umsetzung durch internationale Handelskonferenzen keineswegs sanft war. Die Financial Times sorgt sich immer noch, dass etwas so ausgesprochen Unbedeutendes wie der Streit zwischen Europa und den USA über die Bananenimporte zu „transatlantischen Vergeltungsmaßnahmen eskalieren könnten, mit denen die schon entkräftete WTO in die Knie gezwungen würde.“ [75] Es gibt vergleichbar schwer zu handhabende Auseinandersetzungen über die Frage, welche Vorkehrungen der IWF für ein Eingreifen bei zukünftigen internationalen Finanzkrisen wie der von 1997 in Asien treffen sollte. [76] Die „Theoretiker“ des Neoliberalismus haben selbst keine einfachen Antworten für diese Konflikte. Denn obwohl ihr Glaube die Nichteinmischung durch den Staat predigt, ist es eine Ideologie, in der sich die Bedürfnisse der staatlich-industriellen Komplexe der USA, der europäischen Mächte und Japans mit ihren Zusammenstößen untereinander und mit den kleineren Staaten der Welt widerspiegeln.
Die zweite Gruppe, die mit fliegenden Fahnen zum Neoliberalismus überging, waren die Regierenden. Während der Vollbeschäftigung des langen Aufschwungs waren sie gezwungen gewesen, die Arbeiter zufrieden zu stellen, indem sie verschiedene soziale Leistungen und Dienste zugestanden. Der „Sozialstaat“ hatte sich als Anhängsel der wesentlichen staatlichen Institutionen, die auf Formationen bewaffneter Menschen, Massenvernichtungswaffen, Gefängnisse, Gerichte usw. gründen, entwickelt. So lange die wirtschaftliche Expansion zu wachsenden Profiten führte, waren die kapitalistischen Interessen bereit, das Sozialsystem als bedauerliche Notwendigkeit zu ertragen. Aber als die Profite einmal zu sinken begannen, wandten sie jede Form von Druck an, um es wieder zu beschneiden. Die Regierenden waren in der Zwickmühle. Sie wagten nicht, diesem Druck zu widerstehen – wo man es versuchte, kam es zu Zahlungsbilanzkrisen, zu massiven Devisenverschiebungen über die Grenzen, bis hin zu drohendem nationalen Bankrott. Aber sie konnten auch nicht einfach das Sozialsystem niederreißen, denn damit wären ungeheure soziale Unruhen provoziert worden. Was sie tun konnten, war Konkurrenzmechanismen einzusetzen, um Einzahler und Bezieher von Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen. So gelang es, die Ausgaben sowohl für Löhne wie für Soziales zu kürzen.
In einigen Fällen bedeutete das Privatisierung und einen völligen „Rückzug des Staates“ aus der Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen. Oft wurde aber auch die selben Ziele mit anderen Mitteln verfolgt: Ausgabenbegrenzungen bei staatlichen Einrichtungen, Budgetkürzungen bei städtischen Behörden oder Bildungseinrichtungen bei gleichzeitiger Steigerung des Umfangs der Aufgaben, Einführung von „internen“ Marktmechanismen in staatlichen Strukturen (wie z. B. im britischen Gesundheitswesen NHS und im Schulsystem). In diesen Fällen zog sich der Staat nicht zurück. Er zielte allerdings darauf ab, die Profitabilität der Kapitalisten, die in seinem Staatsgebiet tätig waren, zu verbessern, indem der Druck auf die Masse der Menschen erhöht wurde.
Privatisierung hat für diejenigen, die den Staat lenken, einen weiteren Vorteil. Sie können sie ähnlich einsetzen, wie früher bei der Vergabe von Konzessionen an private Steuereintreiber. Der Staat kann für die laufende Bereitstellung von bestimmten Dienstleistungen zahlen, indem er privaten Unternehmen das Recht verkauft, zukünftige Erträge einzunehmen (vor kurzem ist das geschehen mit der „Versteigerung“ der Mobiltelefon-Frequenzen (UMTS-Lizenz): die britische Regierung hat ca. 20 Milliarden £, die deutsche Regierung etwa 100 Milliarden DM zusammen bekommen, indem privaten Konzernen das Recht gegeben wurde, Monopolpreise – tatsächlich also Steuern – bei denjenigen zu erheben, die diese Telefone in der Zukunft benutzen).
Die dritte Gruppe, die zum Neoliberalismus übertrat, waren die herrschenden Klassen außerhalb der fortgeschrittenen Industrieländer. Von den 40er bis in die 70er Jahre hatten viele versucht, durch mehr oder weniger Staatskapitalismus die Industrie unter ihrer eigenen Kontrolle aufzubauen. Das war eine schwierige Sache, selbst während der Jahre des weltweiten Booms, und die Bevölkerungen hatten dafür oft einen sehr hohen Preis zu zahlen. Das Ende des Booms und die aufeinanderfolgenden wirtschaftlichen Krisen Mitte der 1970er , Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre weihten solche Anstrengungen dem Untergang. Regierende, die sich bisher zu staatskapitalistischer „Planung“ bekannt hatten, wechselten früher oder später zu Versuchen, sich in den Weltmarkt zu integrieren. Das begann in Ägypten, Polen, Ungarn und Jugoslawien Mitte der 1970er, in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und in Indien in den 1980ern, im ganzen früheren sowjetischen Block und in großen Teilen Afrikas in den 1990ern. Diejenigen, die für die staatlich geschützten oder staatlich geführten Industrien verantwortlich waren, kamen mit ihren Freunden in den staatlichen Bürokratien überein, die nahezu monopolistische Beherrschung der einheimischen Wirtschaft zugunsten der größeren persönlichen Belohnung, Juniorpartner des einen oder anderen Teils des multinationalen Kapitals zu werden, aufzugeben.
Es war Sadat, der als Mitglied der Gruppe der „Freien Offiziere“ Nassers Verstaatlichung in den 1950ern und 1960ern mitgetragen hatte, der Ägypten Mitte der 1970er dem Markt öffnete. In Indien begann dieselbe Kongresspartei, die in den 1960ern staatliche Kontrolle gepredigt hatte, Ende der 1980er Jahre mit der Zerstörung dieser Kontrolle. In China ergriff Deng Xiaoping, der Anfang der 1950er geholfen hatte, die monolithische staatskapitalistische Wirtschaft einzuführen, Ende der 1970er und in den 1980er die Initiative zur Hinwendung zum Markt und dann zu den westlichen Multis.
Susan George hat angemerkt, dass die herrschenden Klassen der Dritten Welt bei der Anwendung der Strukturanpassungsprogramme des IWF/der Weltbank sehr zufrieden waren:
Reiche und einflußreiche Leute in den Schuldnerländern sind nicht notwendigerweise unglücklich über die Art, wie mit dieser Krise umgegangen wurde. Die strukturelle Anpassung hat die Arbeiterlöhne nach unten gedrückt und Gesetze bezüglich Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Sicherheit und Umwelt können, so wie sind, leicht verspottet werden ... Nachdem sie weitgehend den mit der Verschuldung verbundenen Schwierigkeiten entkommen sind, streben sie danach, zur zunehmend globalisierten Elite zu gehören, um auf denselben Plätzen wie ihre Gegenspieler in New York, Paris oder London zu spielen. [77]
In Ländern wie Indien oder Mexiko beginnen bestimmte Unternehmen, die sich in den vergangenen 20 Jahren in geschützten Märkten aufgebaut haben, sich in selbständige multinationale Unternehmen umzuwandeln. Sie sind zwar nicht so groß wie General Motors, Microsoft oder Monsanto, aber ihre Bestrebungen gehen in dieselbe Richtung.
Die letzte Gruppe, die neoliberale Lehrmeinungen annahm, waren viele der Intellektuellen, die zuvor an staatlich gelenkte Reformen innerhalb nationaler Wirtschaften geglaubt hatten. In Großbritannien waren viele Mitglieder der gegenwärtigen Regierung, die so eifrig Privatisierungen durchdrücken, in den späten 1970ern und frühen 1980ern genauso enthusiastisch für eine „alternative Wirtschaftspolitik“ auf der Grundlage von Staatsintervention und Importkontrollen. Genauso enthusiastisch war zu dieser Zeit Marxism Today, eine Gruppe von Intellektuellen, die der Kommunistischen Partei nahe standen. Diese bereitete damit, dass sie die Vorzüge des Marktes und der Designermode entdeckte, den ideologischen Boden für die Ideen Blairs.
Petras und Morley haben berichtet, wie eine sehr große Zahl lateinamerikanischer Intellektueller von der staatsgläubigen „Entwicklungstheorie“ der 1970er auf den Neoliberalismus der 1990er umschalteten. Dabei machten sie aufmerksam auf eine „sichtbare Rechtswendung vieler linker (sozialdemokratischer, populistischer, sozialistischer) Parteien und ihrer intellektuellen Ideologen – die letzteren in erster Linie ex-marxistische Intellektuelle der 1960er“. [78]
In Teilen der Welt findet dieses Umschalten von Intellektuellen und einstmals radikalen Politikern immer noch statt. In Südafrika hat die ANC-Regierung die Großkonzerne und die Privatisierungen für sich entdeckt. Erst kürzlich hat mir ein sudanesischer Kommunist die Stellungnahme eines seiner Parteiführer gezeigt, in der argumentiert wird, dass allein durch exportorientierte Marktpolitik „Entwicklung“ erreicht werden kann. Zu dieser Frage sagt Vandana Shiva völlig richtig: „Die Mächtigen dieser Welt – in der Regierung, der Politik, den Medien und der Wirtschaft – treten als globales Bündnis auf, das Nord-Süd-Spaltungen überwindet.“ [79]
Zwei oder drei Generationen kleinbürgerlicher Intellektueller haben darauf gehofft, dass der Staat den Kapitalismus in eine Form reformieren würde, die wirtschaftliches Wachstum auf der Grundlage eines „nationalen Konsens“ zwischen den verschiedenen Klassen möglich machen würde (selbst wenn in der Dritten Welt gesagt wurde, dass dies nur einen Teil, nicht die ganze Bourgeoisie umfassen würde). Als deutlich wurde, dass dieses Programm nicht länger funktionieren würde, wendeten sich die meisten – so wie die Herrschenden – einem anderen Modell zu, welches auf Markt und Öffnung gegenüber internationalem Kapital basierte. Sie waren nicht Opfer der Verschwörung der multinationalen Konzerne, sondern begeisterte Teilnehmer.
Solche Intellektuelle erfüllten eine wertvolle Funktion für die Klassen, die in den 1980ern und frühen 1990ern aus dem Neoliberalismus Nutzen zogen. Sie verschafften nicht nur dem letzten Stadium einer Tendenz, die so alt ist wie der Kapitalismus selbst, dass sich nämlich das System über nationale Grenzen hinweg ausdehnt, eine Rechtfertigung. Sie rührten auch die Trommel für Angriffe auf die Verbesserungen bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen, die diejenigen, die für das Kapital arbeiteten, im „Goldenen Zeitalter“ von Mitte der 1940er bis Mitte der 1970er erreicht hatten.
Die Bedeutung der neuen Welle von Kritikern des Neoliberalismus liegt in der Art und Weise, wie sie ein irreführendes Argument nach dem andern zurückgewiesen haben, das diese Intellektuellen in die Welt gesetzt hatten. Es ist ihr großer Verdienst, dass sie sehen, was so falsch ist am Neoliberalismus, selbst wenn sie sich nicht klar sind, woher er kommt und wofür er steht. Sie erkennen, dass hinter dem Gerede über „Globalisierung“ die Wirklichkeit eines Systems liegt, das in der ganzen Welt Verwüstungen hinterläßt. Doch ihre Unfähigkeit, seine Wurzeln genauer zu bestimmen, läßt sie widersprüchliche Standpunkte einnehmen, wenn es darum geht, eine Alternative aufzustellen.
Die Organisation des Handels, die Finanzflüsse und die Schuldenlast sind einzelne Merkmale des umfassenderen Systems. Wenn man versucht, ein einzelnes dieser Merkmale isoliert zu bekämpfen, können die Herrscher dieses Systems sich oftmals leicht herauswinden – oder gar die Schrecken von einer Gruppe von Opfern zu einer anderen umlenken.
Das zeigt sich an den Debatten über „fairen Handel“ und Kinderarbeit. Niedriglöhne und Kinderarbeit in Ländern der Dritten Welt (oder auch der Ersten Welt) zu dulden, bedeutet, den großen und kleinen Arbeitgebern zuzugestehen, dass sie das Leben von Menschen ruinieren, indem sie die Ausbeutung bis an die äußerste Grenze steigern. Aber wenn man nur um diese Fragen kämpft, bleiben die Bedingungen, die arme Menschen in die Hände solcher Arbeitgeber treiben, unangetastet. Die Armut in großen Teilen Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und des früheren Ostblocks besteht weiter, ob mit oder ohne Kinderarbeit und Niedriglöhne. Sie kann mit Kampagnen bekämpft werden, die sich auf diese Fragen beschränken. Kleine Siege gegen Kinderarbeit und Niedriglöhne machen nur Sinn, wenn sie ein Sprungbrett zu größeren Kämpfen und größeren Siegen darstellen.
Dasselbe gilt für Kämpfe, mit denen Arbeitgeber daran gehindert werden sollen, Fabriken zu schließen und die Produktion irgendwohin zu verlagern, wo sie niedrigere Löhnen zahlen können. Solche Kämpfe nicht zu führen bedeutet, Teilen des Kapitals freie Hand zu lassen, mit einer globalen Strategie der „verbrannten Erde“ in einem Teil der Welt nach dem anderen das Leben von Menschen zu zerstören, auf der niemals endenden Jagd nach Profit. Aber sich auf solche Kämpfe zu beschränken bedeutet bestenfalls, eine Atempause zu gewinnen, und schlimmstenfalls, wie so viele Gewerkschaftsführer und Kommunalpolitiker dabei zu enden, dass man den Staat anbettelt, damit er die Firmen mit Bestechung zum Bleiben bewegt. Währenddessen verschwindet allerdings nicht die Armut, die anderswo die Menschen zwingt, für niedrigere Löhne zu arbeiten. Nur eine Strategie, die sich der Macht des Kapitals weltweit entgegenstellt, anstatt bloß seine Bewegungsfreiheit einzuschränken, kann mit diesem Problem fertig werden.
Die Debatten, die in den Schuldenkampagnen aufkommen, haben einen ganz ähnlichen Ursprung. Nicht gegen die Schuldenlast aufzutreten, heißt, sich zum Komplizen der Ausplünderung der ärmsten Völker der Welt durch die reichsten Banken zu machen. Sich allein auf dieses Thema zu beschränken, bedeutet, alle anderen Ursachen der Armut in der Dritten Welt auf sich beruhen zu lassen. Vor allem heißt es, die Ressourcen in den Händen der großen Konzerne und herrschenden Klassen der entwickelten Länder zu belassen – jene Ressourcen, die benötigt werden, damit man überhaupt beginnen kann die Probleme zu überwinden, ohne den Arbeitern, Bauern und eingeborenen Völkern der Dritten Welt unermessliches Leid und der Umwelt gewaltigen Schaden zuzufügen.
Eine Forderung, die von vielen Aktivisten erhoben wird, ist die „Tobin-Steuer“ auf Finanztransaktionen über nationale Grenzen hinweg. Das ist die zentrale Forderung von ATTAC in Frankreich. Die Idee wurde vor 22 Jahren von dem US-Wirtschaftswissenschaftler James Tobin entwickelt. Er behauptet, eine Steuer von nur 0,5 Prozent auf solche Transaktionen würde die Finanzleute davon abhalten, gegen schwache Währungen zu spekulieren, und damit die Fähigkeit der Regierungen stärken, ihre nationale Wirtschaft zu stabilisieren. Dieses Argument ist immerhin so ernsthaft, dass Anthony Giddens daran Gefallen gefunden hat, und dass es die sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament in zwei gleich große Lager spalten konnte. Gleichzeitig sehen viele Aktivisten darin eine radikale Lösung für die Probleme, die sie mit der Globalisierung verbinden. Robin Round schreibt:
Die internationale Finanzwelt ist ein globales Casino geworden, wo Investoren rund um die Uhr hohe Summen einsetzen, um schnellen Profit zu machen. Anders als Investoren in Güter und Dienstleistungen machen die Spekulanten ihr Geld allein aus Geld. Keine Jobs werden geschaffen, keine Dienste geleistet, keine Fabriken gebaut ... Das Spiel hat weitreichende Folgen für die Verlierer ... wie die Finanzkrisen in Mexiko, Südostasien, Rußland und Brasilien deutlich gemacht haben ...
Indem diese Krisen weniger wahrscheinlich würden, würde die Steuer helfen, die Verwüstung zu vermeiden, die einer Finanzkrise auf dem Fuß folgt. Sie wäre auch eine bedeutende globale Einnahmequelle ... Vorsichtige Schätzungen zeigen, dass die Steuer zwischen 150 und 300 Mrd. Dollar jährlich einbringen könnte. Die UN schätzt, dass die Beseitigung der schlimmsten Formen von Armut und Umweltzerstörung weltweit ungefähr 225 Mrd. $ kosten würde. [80]
Jeder Versuch, Regierungen dazu zu bringen, die Steuerlast von Armen zu Reichen zu verlagern, ist begrüßenswert, und das ist das Gute an Organisationen wie ATTAC. Sie eröffnen Debatten, die den gewaltigen Reichtum in privaten Händen infrage stellen. Aber die Idee, dass die Steuer an sich die Antwort auf die Probleme der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts darstellt, ist ein schwerwiegender Irrtum.
Erstens bilden die Finanzflüsse nur eine Krisenursache unter anderen. Wichtiger ist die Art und Weise, wie die blinde Konkurrenz der Industrie- und Handelsunternehmen diese dazu treibt, die Profite durch Beschränkung des Lebensstandards zu steigern, und gleichzeitig ihre Kapazitäten mit Hochdruck zu erweitern. Weltweite Überproduktionskrisen sind das unvermeidliche Ergebnis. Die Schurken, die dahinter stecken, sind nicht nur „spekulative“ Finanzinstitute, sondern eben auch „produktive“ Unternehmen wie General Motors, Toyota, Monsanto, Shell oder DaimlerChrysler.
Zweitens ist die Tobin-Steuer einfach kein ausreichend mächtiges Werkzeug, um auch nur die Aktivitäten der Finanzspekulanten zu stoppen. Wie der keynesianische Wirtschaftswissenschaftler P. Davidson gezeigt hat, ist der vorgeschlagene Steuersatz nicht annähernd hoch genug, um sie von grenzüberschreitenden Transaktionen abzuhalten, wenn sie Währungsabwertungen in einem Ausmaß erwarten, wie sie in den Krisen von Mexiko, Südostasien, Rußland und Brasilien statt gefunden haben. „Sandkörner im internationalen Finanzgetriebe,“ sind nicht ausreichend, schreibt er, „wenn Felsblöcke gebraucht würden“. [81] Selbst Robin Round gibt zu: „Die von Tobin vorgeschlagene Steuer hätte die Krise in Südostasien nicht verhindert.“ [82]
Es gibt tatsächlich einen zentralen Widerspruch in der Idee, dass eine Steuer das große Allheilmittel zur Behandlung der Folgen der Globalisierung sein könnte. Wenn sie wirkungsvoll ist, um spekulative Transaktionen zu vermindern, dann wird sie keinesfalls die in Aussicht gestellten Summen einbringen, weil die zu versteuernden Geldflüsse viel geringer wären als derzeit. Wenn sie die Summen einbringen kann, dann nur deswegen, weil sie die Transaktionen und ihren zerstörerischen Einfluß auf nationale Wirtschaften nicht stoppt.
Allerdings würde jeder Versuch, diese Steuer einzuführen, auf ungeheuren Widerstand bei den Reichen der Welt stoßen. Gegen Regierungen, die sich ernsthaft mit der Idee beschäftigen, würden sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen – ideologische, politische und wirtschaftliche. Und um wirksam zu sein, müsste die Steuer gleichzeitig von allen wichtigen Regierungen in Kraft gesetzt werden. Das bedeutet, dass die Steuer nicht ohne gewaltige Kämpfe eingeführt werden könnte. Sie erfüllt damit sicher nicht das Versprechen ihrer Befürworter, einen schmerzlosen Weg zu bieten, wie man mit der Währungsspekulation fertig werden kann, geschweige denn mit all den anderen Schrecken des Systems.
Sie kann, wie die Themen des „fairen Handels“, der Kinderarbeit, der Schulden und der Produktionsverlagerungen, Menschen dazu bringen, einzelne Gesichtspunkte des Systems infrage zu stellen. Aber auch hier wird die Herausforderung nur wirksam sein, wenn man zu weitergehenden, radikaleren Fragestellungen kommt.
Ähnliche Wurzeln hat die Debatte zwischen „Entwicklungstheoretikern“ und „Traditionalisten“. Sie bestehen darin, dass man nur Teilelemente einer Gesamtsituation betrachtet. Die Armut großer Teile der Dritten Welt hat ihren Ursprung in der Art und Weise, wie die Entwicklung des Kapitalismus in den letzten fünf Jahrhunderten den Reichtum der Welt – das Produkt des weltweiten menschlichen Schaffens vergangener Generationen – in den Händen der herrschenden Klassen einer Handvoll westlicher Länder konzentriert hat.
Die „Entwicklungstheorie“ entsprang Versuchen von Herrschern in der Dritten Welt, diese Armut zu bewältigen, indem sie ihren Völkern ähnliche Formen der Industrialisierung und der Agrarreform aufzwangen, wie sie der Westen erlebt hatte – mit der enthusiastischen Unterstützung durch viele Intellektuelle. Aber weil sie so spät in das Spiel eintraten, waren die „Opfer“, die sie ihrem eigenen Volk zumuteten, und die Zerstörung, die sie der Umwelt brachten, noch größer als die während der industriellen Revolution des Westens. Und selbst dabei war die Industrialisierung nur selten erfolgreich. Für die große Mehrheit der Arbeiter und Bauern dort ist eine Rückkehr auf diesen Weg keine Alternative zu den schrecklichen Folgen von Strukturanpassungsprogrammen und Öffnungen für die Multis. Aber das gilt auch für das Bekenntnis zu „traditionellen“ Methoden. Es bedeutet, ein verklärendes Bild der Vergangenheit hochzuhalten, anstatt wirklich das Weltsystem herauszufordern, das hinter der Verwüstung der Gegenwart steht.
Karl Marx musste sich vor anderthalb Jahrhunderten mit ähnlichen Debatten auseinander setzen. Einige der schärfsten Verurteilungen dessen, was der Kapitalismus den Menschen antat, wurden von romantischen Kritikern der industriellen Revolution verfasst, die erkannten, wie der Kapitalismus die Leute entmenschlichte, aber die Alternative in der Vergangenheit suchten. Über sie schrieb Marx:
Es ist lächerlich, sich danach zu sehen, zu diesem ursprünglichen Reichtum zurückzukehren, genauso wie es lächerlich ist zu glauben, daß mit dieser vollendeten Leere die Geschichte zum Stillstand gekommen ist. Die bürgerliche Sichtweise ist niemals über die Antithese zwischen sich selbst und diesem romantischen Standpunkt hinausgegangen und deshalb wird der letztere sie als ihre legitime Antithese bis zu ihrem gesegneten Ende begleiten. [83]
Man wird mit der Unmenschlichkeit des gegenwärtigen Systems nicht fertig, indem man versucht, in eine Welt traditioneller bäuerlicher Landwirtschaft und örtlicher Produktion zurückzugehen. Statt dessen muss man Mittel und Wege finden, sich die gewaltigen produktiven Ressourcen anzueignen, die durch kapitalistische Ausbeutung geschaffen wurden, und sie zur Befriedigung wirklicher menschlicher Bedürfnisse einzusetzen. Allein die Beträge, die für den US-amerikanischen Militärhaushalt aufgewendet werden, könnten das Leben jedes einzelnen Arbeiter und Bauern in der Dritten Welt verändern. Zählen wir die Verschwendung für Werbung und Verkaufsförderung dazu, plus den Luxuskonsum der 200 oder 300 Milliardäre, deren Reichtum dem Einkommen der halben Weltbevölkerung entspricht, und schon haben wir genug, um die Armut der Dritten Welt zu überwinden und auch den Arbeitern in den fortgeschrittenen Ländern ein besseres Leben zu verschaffen. Es gibt keine Notwendigkeit, sich auf Regionalismus und Traditionalismus zurückzuziehen. Und ein solcher Rückzug kann auch nicht funktionieren.
Die Akkumulation von Kapital hat im Weltmaßstab stattgefunden. Man kann ihren Auswirkungen nicht mit Regionalismus begegnen, weder in der „entwicklungstheoretischen“ noch in der traditionalistischen Form. In der heutigen Welt gibt es dafür genau so wenig Platz wie vor einem halben Jahrhundert für den „Sozialismus in einem Land“. Das Entscheidende an der Stimmung von Seattle bestand darin, dass sich gezeigt hat, dass es eine globale Opposition zu einem globalen System gibt.
Gezielte Kämpfe gegen einzelne Auswirkungen des Systems sind von enormer Bedeutung. Sie können das Vorankommen des kapitalistischen Molochs verzögern, ihn gelegentlich sogar zum Stehen bringen. Sie können das Leben wenigstens für einige, die im System schuften, ein wenig erträglicher machen. Aber ihre wirkliche Bedeutung besteht darin, dass sie die Schwungkraft einer breiteren Bewegung gegen das System erhöhen, dass sie Menschen, die sich irgendwo in der Umklammerung des Systems befinden, ermutigen, dagegen zu kämpfen.
Dies lässt immer noch die Frage unbeantwortet, wer die Kämpfe führen wird, welche Kräfte mobilisiert werden können, und welche Kräfte die Macht haben, Veränderungen zu bewirken. Darüber gibt es unter den Kritikern des Neoliberalismus und der Globalisierung genausoviele Ansichten wie über die Frage, worin die Alternativen bestehen.
Viele Aktivisten von Seattle sahen den Weg vorwärts noch darin, auf die bestehenden Regierungen Druck auszuüben. So legt William Greider starke Betonung auf gesetzliche Reformen, die den Multis mehr Rechenschaft abverlangen sollen, und argumentiert für „Reformgesetzgebung sowohl auf Staats- als auch auf Bundesebene“. Der Kongress soll verlangen, dass „Firmen harte, präzise Daten über Umweltschäden an die ausländischen Gemeinden und Bürger herausgeben, die normalerweise darüber im Dunkeln gelassen werden“. [84] Steven Shryber hofft auf den Druck der öffentlichen Meinung, um die Regierungen zur Reform der WTO zu zwingen. [85]
Andere Aktivisten sehen die Schwierigkeit, die Großmächte für eine Änderung ihres Handelns zu gewinnen. Statt dessen erwarten sie, dass die Regierungen der Dritten Welt den Großmächten irgend etwas entgegensetzen. Walden Bello spricht von den „Anstrengungen von Gemeinschaften und Nationen, die Kontrolle über ihr Schicksal wieder zu gewinnen“ und sieht den Schlüsselmechanismus darin, dass die UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD), in der die Regierungen der Dritten Welt eine Mehrheit haben, „eine aktive Rolle bei der Verminderung der Macht der WTO und des IWF übernimmt“. [86]
Eine solche Herangehensweise schreckt vor einer ehrlichen Einschätzung der Regierungen der Dritten Welt zurück. Sie werden fast alle von einheimischen Eliten beherrscht, die ihre Zukunft in der Integration in den Weltkapitalismus sehen, auch wenn sie um die Bedingungen dieser Integration feilschen. Die wenigen Ausnahmen sind Diktaturen wie die im Irak oder in Rest-Jugoslawien, deren herrschende Klassen der Masse der Bevölkerung ebenso fern stehen wie irgendeine im Westen und die gewöhnlich Überreste des Staatskapitalismus mit einem gewaltigen Ausmaß an Korruption verbinden. In solchen Regierungen die Kraft zu sehen, mit der die Welt in positiver Richtung verändert wird, zeugt von außerordentlicher Naivität. Und genau so naiv ist es, sich vorzustellen, dass die Motive dieser Regierungen irgendwie zum Besseren verändert sind, wenn sie in internationalen Gremien zusammenkommen. Wenn IWF, WTO und Weltbank Räuberhöhlen sind, dann gilt das auch für UNCTAD, auch wenn die Räuber weniger erfolgreich sind.
Angesichts der offenkundigen Schwierigkeit, Regierungen zu überzeugen, sprechen manche Aktivisten davon, dem Staat und den Multis durch „Vor-Ort-Aktivitäten“ auszuweichen. Susan George beschreibt, wie das geht:
Unzählige Aktivitäten finden auf örtlicher Ebene statt, wenn die Menschen hier gegen eine Giftmüllkippe kämpfen, dort gegen eine lästige, unnötige Autobahn, woanders gegen eine Fabrikschließung. Einige dieser Initiativen können zum Beispiel durch die viel versprechende ‚Sustainable and Self Reliant Communities Movement‘ miteinander verbunden werden. Je mehr wirtschaftliche Aktivitäten zurückgewonnen und aus der transnationalen Umlaufbahn herunter geholt werden können, desto besser.
Dutzende von Städten unterschiedlicher Größe experimentieren schon mit Aktiengesellschaften in örtlichem Besitz, um Güter und Dienstleistungen zur Befriedigung örtlicher Bedürfnisse zu liefern. [87]
Aber die wirtschaftlichen Ressourcen, die solche örtlichen Aktivitäten einsetzen können, sind winzig im Vergleich mit denen, über die Multis und Staaten verfügen. Sie können gar nicht daran denken, die Bedürfnisse der großen Mehrzahl der Menschen zu erfüllen – es sei denn, die Menschen wären bereit, mit dem Existenzminimum zu leben, unter Bedingungen, die kaum besser wären als die mittelalterlicher Einsiedler. Daraus können bestenfalls kleine Enklaven werden, von denen die Verheerungen des Weltsystems nicht berührt werden. Susan George bringt dieses Argument selbst:
Wenn wir nicht sicherstellen können, dass der Staat seine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt, kann ich niemanden erkennen, der zwischen dem einfachen Menschen und der organisatorischen Tyrannei steht. Ohne den Staat – wenn auch nicht notwendigerweise denjenigen, den wir jetzt haben, wird es bald McSchools, McHealth und McTransport geben. [88]
Das entspricht ihrer früheren, absolut richtigen Beobachtung:
Wir müssen Wege finden, Menschen aufzuhalten, die vor nichts Halt machen. Der transnationale Kapitalismus kennt kein Halten. Mit transnationalen Unternehmen und unbeschränkten Finanzbewegungen hat er das Stadium eines bösartigen Krebsgeschwürs erreicht und wird fortfahren, menschliche und natürliche Ressourcen zu verschlingen und zu vernichten, auch wenn das den Körper – den Planeten selbst – zerstört, von dem er abhängig ist. [89]
Aber trotz des Hinweises, dass wir einen anderen Staat brauchen, kehrt sie nach diesem Argument dazu zurück, Druck auf die bestehenden Staaten auszuüben. Sie hofft auf die Tobin-Steuer und eine „geringfügige Beschaffungs-/Verkaufssteuer auf Aktien, Schuldverschreibungen, Optionen und ihre fantasievollen Derivate“, um „Geld in die Koffer der UN und der Agenturen zu schaffen“. [90]
Der Druck auf Regierungen soll von „Bündnissen“ ausgeübt werden. Im „Schuldenbumerang“ schreibt sie:
Brücken bauen im Norden zwischen Umweltschützern, Gewerkschaftern, Menschen, die über Drogen besorgt sind, Aktivisten für die Rechte der Einwanderer, Mitgliedern von Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen oder Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), und der größten Gruppe von allen – Steuerzahlern. Wir hoffen, dass jede dieser unterschiedlichen Gemeinschaften die Notwendigkeit erkennt, für alternative Politikmodelle zusammenzuarbeiten, und gleichzeitig die Notwendigkeit, wirksam mit ihren Gegenstücken im Süden zu arbeiten. [91]
Viele Aktivisten sahen Seattle als Beispiel, wie ein solches Bündnis geschaffen werden kann, indem Vertreter der Bauern der Dritten Welt, französische Kleinbauern, Ökologie-Organisationen, NGOs, Arbeiter aus der Dritten Welt, Eingeborenengruppen und – für die meisten Teilnehmer am erstaunlichsten – die amerikanischen Gewerkschaften zusammenkommen. Aber wenn die Aktivisten alle diese Bestandteile in einen Topf werfen, übersehen sie oft die Unterschiede zwischen ihnen.
Einige sind Organisationen von Minderheiten, deren Macht gerade deshalb begrenzt ist. Andere sind Organisationen, die eine viel größere Zahl von Menschen vertreten wollen. Aber auch diese sind unterschiedlich. Bauernorganisationen zum Beispiel vertreten selten eine homogene Gruppe von Menschen, denn in dem Maße, in dem der Kapitalismus die Länder in seinen Bann gezogen hat, hat er eine Differenzierung innerhalb der Bauernschaft gefördert, bei der die besser gestellten Bauern danach trachten, kapitalistische Farmer zu werden, das Land der ärmeren Bauern aufzukaufen und einige von diesen in Lohnarbeit zu beschäftigen. Wenn Luis Hernandez Navarro von „ländlichen Produzenten in Europa und Japan, die das Rückgrat der neuen Mobilisierungen bilden“ [92] ‚ schreibt, dann übersieht er das Ausmaß, in dem die Landwirtschaft in den fortgeschrittenen Ländern zu einer kapitalistischen Industrie geworden ist, einer sehr lukrativen übrigens, die wenig echte Bauern übrig gelassen hat. Und auch in Ländern der Dritten Welt wie Indien werden die Bauernorganisationen allzu oft von den großen Farmern beherrscht, weil diese dafür die Zeit und die Mittel haben. Sie können gemeinsam mit ärmeren für bestimmte unmittelbare Ziele mobilisieren (z. B. Preise für Düngemittel niedrig zu halten), aber sie haben trotzdem grundlegend andere Interessen.
In den Nachbarschaftsgruppen armer Menschen aus Ländern der Dritten Welt wie Mexiko oder Brasilien kann die Situation ähnlich wie bei den Bauern sein. Die Gruppen entstehen oft aus dem gemeinsamen Bedarf an bestimmten Gütern wie Trinkwasser oder Elektrizität. Das kann zu sehr militanten Kämpfen führen. Aber allzu oft werden diese von korrupten politischen Apparaten adoptiert, die sich gegen eine begrenzte Versorgung mit den benötigten Diensten Gefolgschaft erkaufen und auf diese Weise in jedem Viertel ihre eigenen Vertrauensleute aufbauen. Daher rührt die Fähigkeit korrupter, autoritärer Regimes, oppositionelle Bündnisse zu untergraben und in der Bauernschaft und unter den Armen der Städte ihre eigenen Netzwerke aufzubauen.
Einige Leute sehen in den NGOs an sich eine Kraft, die Veränderungen erreichen kann. Hernandez Navarro behauptet, dass „moderne Computernetzwerke, die Ausbreitung von Hunderten von NGOs und das einfache Reisen in der Welt die Bildung von Widerstandsnestern ermöglicht haben, die über nationale Grenzen hinweg gehen“. [93] Viele Aktivisten machen ein großes Brimborium um die Möglichkeit der NGOs, die Internet-Technologie zur Kommunikation untereinander zu nutzen, dezentralisierte, aber gut informierte Netzwerke zu bilden, die kurzfristig um strategische Ziele mobilisieren können. Aber die NGOs einfach in dieser Weise zu feiern, in ihnen die Kraft der Veränderung zu sehen, bedeutet, etwas Wesentliches zu vergessen. Die NGOs sind selbst Minderheitsorganisationen, die Wege finden müssen, breitere Schichten der Bevölkerung zu mobilisieren, wenn sie über Lobbyismus und „Druck machen“ hinausgehen wollen, um Staaten und Multis zu etwas zu zwingen. Sie können nicht aus sich selbst heraus Susan Georges Zielvorgabe erfüllen, den multinationalen Kapitalismus zu „stoppen“. Sie können ein geringeres Ziel erreichen, über das man nicht spotten soll – veröffentlichen, was der globale Kapitalismus im Schilde führt. Aber ihn zu stoppen erfordert, dass sie andere Kräfte mobilisieren. Genau deshalb haben sich einige NGOs in den letzten Jahren vom einfachen Lobbyismus zur aktiven Agitation weiter entwickelt.
Anhänger einer Strategie, die sich auf die NGOs konzentriert, weisen oft auf das mexikanische Beispiel hin, wo eine Mobilisierung von NGOs es der mexikanischen Regierung schwer machte, 1994/95 die zapatistische Bewegung der Mayas von Chiapas zu zerschlagen. Sie vergessen hinzuzufügen, dass die NGOs nicht im Stande waren, den Staat daran zu hindern, die Verfolgung der Bewegung fortzusetzen. Sie blieb auf eine Region beschränkt, die weit von den wichtigsten Industrie- und Landwirtschaftsgebieten des Landes entfernt ist, und der mexikanische Kapitalismus war bald in der Lage, die Rebellion zu ignorieren. Bei den Wahlen im Juli 2000 profitierte der neoliberale Kandidat Fox von der Schwächung des alten Autoritarismus, nicht die Gegenkräfte gegen den Neoliberalismus.
Man muss auch noch hinzufügen, das Beschäftigung der meisten NGOs mit Einzelthemen bedeutet, dass sie gelegentlich von Anhängern des bestehenden Systems vereinnahmt werden können. Dies ist das Argument, das Susan George zu den Schuldenkampagnen angeführt hat – angesichts der von Regierungen angebotenen Zugeständnisse sind NGOs manchmal dabei gelandet, Konzepte zu unterstützen, die an der Armut in der Dritten Welt in Wirklichkeit nicht ändern. Dasselbe ist auch schon Menschenrechtsorganisationen passiert. Während des Golfkrieges 1991 und des Balkankrieges 1999 kamen manche dazu, die von den USA geführten Bündnisse zu unterstützen, weil deren Gegner für schreiende Verletzungen der Menschenrechte bekannt waren. Tatsächlich benutzen die USA schon lang das Gerede über Menschenrechte als Deckmantel für ihr Ziel einer weltweiten Hegemonie der USA. Einige Menschenrechtsorganisationen haben diesen Vorwand durchschaut – andere nicht. Der springende Punkt ist: Solange sie sich um einzelne Fragen kümmern anstatt um Opposition gegen das weltweite System, solange können sie mit der Entwicklung der Ereignisse in die eine oder andere Richtung gezogen werden. Deshalb kommt eine neuere Studie der Rand Corporation des US-Außenministeriums über die Zapatista-Bewegung in Mexiko dazu, eine Strategie vorzuschlagen, die versucht, NGOs zur Verteidigung der westlichen kapitalistischen Interessen zu benutzen. [94]
Susan George hat die Beschränkung der bestehenden Bündnisse erkannt, wenn sie auf eine weitere Ausweitung drängt. Im Lugano-Report schreibt sie: „Verschiebungen des Machtgleichgewichts erfordern, dass man Rechenschaft ablegt über die eigene Anzahl, die Kräfte und über die Fähigkeit, Bündnisse zu schließen ... Die Bündnisse ... müssen über Generationen, Teilbereiche und Grenzen hinweg gehen und manchmal die merkwürdigsten Bettgenossen hervorbringen.“ [95] Aber stellenweise schlägt sie vor, die Bündnisse bis hin zu rechten Politikern auszudehnen, die gegen bestimmte multinationale Konzepte auftreten, wie jene Republikaner in der USA, die sich mit einigen Demokraten zusammen taten, um Clintons „Überholspur“-Berechtigung zur Unterzeichnung von Freihandelsabkommen zu Fall zu bringen, und „manchmal können die Bündnispartner sogar ... Multis sein“ wie die Versicherungsindustrie. [96]
Das Übel ist, dass solche Bettgenossen nichts dazu beitragen werden, die zerstörerische Dynamik des Systems aufzuhalten, die Susan George so gut beschrieben hat, auch wenn sie bereit sind, einige „Auswüchse“ zu beschneiden. Denn diese Dynamik entspringt dem blinden Antrieb zu akkumulieren, den sie genauso wie jeder andere kapitalistische Politiker oder jeder andere Multi verkörpern. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sie alle anderen menschlichen oder ökologischen Erwägungen hintanstellen, aus genau den Gründen, die Susan George erklärt – auch wenn sie bereit sind, bestimmten Aktivitäten rivalisierender Politiker oder Multis gewisse Hindernisse in den Weg zu stellen. Um die Bewegung gegen das globale System wirklich zu stärken, müssen wir uns anderswo umschauen.
Ein wichtiger Faktor in Seattle war, dass viele Aktivisten zum ersten Mal Arbeiter als mögliche Kraft der Veränderung sahen. Die Erfahrung der amerikanischen Protestbewegungen vom Vietnamkrieg bis heute war gewesen, dass die organisierte Arbeiterklasse ihren Forderungen entweder indifferent oder sogar feindlich gegenüberstand. Und sogar unter europäischen Aktivisten, die öfter erfahren hatten, dass Teile der Gewerkschaften an Protesten teilnahmen, gab es eine starke Tendenz, Arbeiter in fortgeschrittenen Ländern als „Arbeiteraristokratie“ zu betrachten, die auf Kosten der Dritten Welt lebte. In Seattle aber mobilisierten die US-amerikanischen Gewerkschaften ihre Mitglieder zur Unterstützung und Stärkung der Proteste. Plötzlich dämmerte vielen Menschen, dass der Kampf um Arbeitsplätze und gegen Flexibilisierung in den fortgeschrittenen Ländern ein Teil des Kampfes gegen Armut in der Dritten Welt und Umweltzerstörung sein könnte.
Trotzdem fehlt in den meisten Texten von Aktivisten nach Seattle jegliches Verständnis dafür, warum Arbeiter in die Bewegung mit einbezogen werden konnten, und man neigt noch immer zu der Ansicht, dass sie einfach ein weiterer Bündnispartner unter vielen sind, wenn es darum geht, den Machenschaften der Multis entgegenzutreten. Der Grund dafür ist, dass man nicht ganz versteht, dass der Weltkapitalismus mehr ist als bloß eine Verschwörung einiger Konzernbosse. Das Weltsystem wird nicht als System akkumulierten Mehrwerts betrachtet, in dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts der allergrößte Teil des Mehrwerts aus der Ausbeutung von Lohnarbeit kommt. Es fehlt der Sinn dafür, dass die Triebkraft des Systems darin besteht, möglichst immer mehr Mehrwert herauszupressen, so dass Arbeiter nirgendwo innerhalb des Systems sicher sein können, dass ihre Bedingungen morgen noch dieselben sein werden wie heute.
Noch immer gibt es die Tendenz, Arbeiter in fortgeschrittenen Ländern als privilegierte Teilhaber des Systems zu betrachten. Die Tatsache, dass sie in der Regel über einen höheren Lebensstandard verfügen als die große Mehrheit der Menschen in der Dritten Welt, scheint diese Sichtweise zu bestätigen. Sie beruht dennoch auf einer falschen Analyse der Funktionsweise des Systems. Kapitalistische Firmen werden von dem Zwang angetrieben, Mehrwert anzuhäufen, und investieren deshalb dort, wo sie die Menschen am profitabelsten ausbeuten können. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind diese Investitionen in den fortgeschrittenen Ländern und einer Handvoll „Schwellenländer“ konzentriert. Hier können die Kapitalisten am leichtesten Mehrwert abschöpfen. Der Grund hierfür ist, dass Arbeit in den fortgeschrittenen Ländern produktiver ist als anderswo und deshalb auch einen größeren Mehrwert schafft. Dafür gibt es eine ganze Reihe von historischen Gründen: Die bereits vollzogene Kapitalkonzentration in diesen Ländern, ihr Verkehrsnetz, die Energie- und Wasserversorgung und die große Anzahl von Arbeitskräften, die lesen, schreiben und rechnen können, ein Ergebnis der seit vier oder fünf Generationen bestehenden Schulpflicht.
Im Kapitalismus sind die Ärmsten oftmals nicht diejenigen, die am meisten ausgebeutet werden, sondern diejenigen, die durch die Entwicklung des Systems ins Abseits gedrängt werden. Dies gilt für Langzeitarbeitslose, die deshalb in Armut leben, weil der Kapitalismus es für nicht profitabel hält, sie zu beschäftigen und auszubeuten. Es gilt desweiteren für die große Zahl der Armen in den Megastädten der Dritten Welt, die deswegen leiden, weil der Kapitalismus ihnen allenfalls zeitweiligen Zugang zu Möglichkeiten erlaubt, sich selbst einen Lebensunterhalt und dem Kapitalismus Profite zu beschaffen. Ihr bedauernswertes Dasein ist eine Anklage gegen das System, doch die Quellen, aus denen sich das System speist, liegen größtenteils anderswo: bei den Arbeitern, die es beschäftigt. Und der Zwang des Systems, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Profite zu erhöhen, führt zu ständigen Zusammenstößen mit diesen Arbeitern.
Da die meisten Investitionen in den fortgeschrittenen Ländern getätigt werden, muss das Kapital Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Arbeiter dort ausüben. Deshalb das beständige Drängen auf mehr „Flexibilität“, deshalb die Bemühungen, Arbeiter in einen Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze zu bringen, deshalb die „Reformen“, mit denen Leistungen im Krankheitsfall, im Alter oder bei Arbeitslosigkeit beschnitten werden. Dies wirkt sich über längere Zeiträume auf die Sozialpsychologie der amerikanischen und europäischen Arbeiter aus. In den 60er und 70er Jahren blickten Arbeiter in den USA oder Deutschland drei oder vier Jahrzehnte zurück und spürten, um wie viel besser ihre Situation geworden war. Heute blicken Arbeiter drei oder vier Jahrzehnte zurück und merken, dass sie viel mehr arbeiten und viel weniger Sicherheit haben. Das ist zum Beispiel auch das Gefühl, das die Interviews beherrscht, die Pierre Bourdieu und seine Kollegen im Frankreich der frühen 90er Jahre geführt und unter dem Titel Das Elend der Welt [97] veröffentlicht haben.
Unterdessen tun sich die Herrscher der Dritten Welt und der ehemaligen kommunistischen Länder mit IWF und Weltbank zusammen, um ihre Arbeiter und Bauern noch mehr auszupressen als dies mit Arbeitern in den fortgeschrittenen Ländern geschieht. Daher die aufeinanderfolgenden Strukturanpassungsprogramme, der Kahlschlag bei den Sozialetats, die Privatisierung von Gesundheit und Bildung und die Abschaffung von Subventionen für Nahrungsmittel und öffentlichen Verkehr.
Der Neoliberalismus ist versessen darauf, das Leben der Menschen im Interesse des Kapitalismus zu verschlechtern. Doch nur selten lehnen sich die Menschen einfach zurück und lassen das mit sich geschehen. Sie versuchen auf die eine oder andere Art ihre Lebensbedingungen zu verteidigen. Ihre Reaktion ist oftmals örtlich begrenzt und defensiv. In jeder lokalen Zeitung, praktisch überall auf der Welt, wird man vereinzelte Berichte von solchen Reaktionen finden – Proteste gegen die Schließung eines Krankenhauses, gegen Mangel an Medikamenten in einer Klinik, erhöhte Busfahrpreise, das Einfrieren von Nahrungsmittelsubventionen, die Einführung von Studiengebühren, höhere Preise für Leitungswasser oder Arbeitsplatzabbau in einer Fabrik oder staatlichen Behörde. Häufig ziehen die Menschen keine Verbindung zwischen ihrem lokalen Protest und dem großen Bild des weltweiten Systems. Sie sehen die Ursache ihrer Probleme einfach bei korrupten Politikern, einem besonders boshaften Unternehmer, einer unfähigen Stadtverwaltung oder einem autoritären Regime. Diese eingeengte Sichtweise kann es erschweren, dass sich verschiedene Proteste zu einem gemeinsamen Angriff auf die tatsächliche Ursache der Probleme vereinigen.
Doch die Verbitterung kann auch verallgemeinerte Reaktionen hervorrufen, die das Augenmerk der Menschen auf Aspekte des Gesamtsystems richten. Dies geschah zu einem gewissen Grad in den ersten Abwehrkämpfen gegen den Neoliberalismus in den 80er Jahren – zum Beispiel beim einjährigen Streik der britischen Bergarbeiter 1984/85 und der Drucker von News International 1986/87, und dann wieder bei der Explosion wütender Proteste und Streiks, die Frankreich im November und Dezember 1995 erschütterten.
Die erste Hälfte des Jahres 2000 erlebte den zeitweiligen Sturz der ecuadorianischen Regierung durch eine Protestwelle von Arbeitern und eingeborenen Völkern, Generalstreiks in Argentinien, Südafrika und Nigeria, massive Proteste der Landlosen in Brasilien, Krawalle um Fahrpreiserhöhungen in Guatemala, einen Streik im öffentlichen Dienst Norwegens und eine Streikdrohung in Deutschland. Dies waren ebenso Reaktionen auf die Entwicklung des globalen Kapitalismus wie die Proteste in den Straßen von London, Seattle, Washington und anderswo.
Arbeiter haben eine Macht, das System herauszufordern, die Demonstranten auf der Straße nicht haben. Sie sind am Arbeitsplatz und in den Wohnsiedlungen in ständigem Kontakt miteinander. Und es ist ihre Arbeit, die den Wert und den Mehrwert schafft, der das System vorantreibt. Wenn sie ihre Macht nicht einsetzen, so liegt das an mangelndem Selbstvertrauen und am mangelnden Verständnis dieser Tatsache. Ernsthafte Antikapitalisten müssen weiter gehen als einfach in Opposition zum System zu demonstrieren, sie müssen Wege finden, sich diese Macht zu erschließen. Die polnisch-deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg schrieb kurz vor ihrer Ermordung im Januar 1919: „Die Ketten des Kapitalismus müssen dort zerbrochen werden, wo sie geschmiedet werden.“
Jede erfolgreiche Protestbewegung durchlebt zwei Phasen. Die erste besteht darin, dass sie über die Welt hereinbricht, ihre Gegner überrascht und Euphorie bei jenen auslöst, die mit ihren Zielen übereinstimmen. Je länger die letzte Protestbewegung zurückliegt, desto größer die Euphorie. Und die schiere Triebkraft der Bewegung trägt sie von Erfolg zu Erfolg. Dies schweißt ihre Anhänger zusammen, und man spielt alte Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen über Fragen der Taktik herunter.
Doch diejenigen, gegen die sich die Proteste richten, geben nicht einfach auf. Sobald der anfängliche Schock erst einmal vorüber ist, verstärken sie ihre Verteidigungsposition, bemühen sich sicherzustellen, dass sie nicht nochmals überrascht werden, und versuchen den Vorwärtsdrang der Bewegung aufzuhalten. In diesem Augenblick tauchen in der Bewegung notwendigerweise Debatten über taktische Fragen auf, auch unter jenen, die sich geschworen hatten, alten Streit im Interesse des Konsenses zu vergessen.
Dies geschah beispielsweise in der Bewegung gegen Atomwaffen in den späten 50er Jahren in England. Auf die Euphorie über unerwartete Erfolge folgten nach drei Jahren bittere Auseinandersetzungen über die Taktik zwischen jenen, die die Politik der Labour Party verändern wollten und jenen, die an gewaltlose direkte Massenaktion glaubten. Ähnliche Debatten brachen ein Jahrzehnt später in den USA in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aus. War es der richtige Weg, zu versuchen, die Regierung unter Druck zu setzen, oder sollte man versuchen die Kräfte zu finden, die die Gesellschaft umwälzen können?
Wenn man es versäumt, diese Streitfragen zu klären, ist nur allzu leicht die Folge, dass die Bewegungen – gerade wenn sie ihren Höhepunkt erreichen – zersplittern und auseinanderzufallen beginnen. Tony Cliff pflegte es so auszudrücken: Sie steigen auf wie eine Rakete und fallen herunter wie ein Stein. Die Bewegung, die in Seattle über die Welt hereingebrochen ist, ist noch nicht an ihrem Höhepunkt angelangt. Doch Uneinigkeit und Polarisierung zeichnen sich bereits ab, weil Fragen aufgeworfen werden, die zu Zersplitterung und Niedergang führen können, wenn sie nicht geklärt werden. Am heftigsten waren die Debatten unter den verschiedenen Kräften, die an der 1. Mai-Demonstration in London beteiligt waren.
Geringfügige Sachbeschädigungen – eingeworfene Scheiben eines McDonald´s, eine bemalte Statue von Winston Churchill und ein paar Kritzeleien am Kriegerdenkmal Cenotaph – verursachten erwartungsgemäß einen Aufschrei in den Medien. Weniger vorhersehbar war jedoch, dass sie auch eine qualvolle Debatte auf der Website von Reclaim The Streets, dem Organisationszentrum für den 1. Mai hervorrief – und einen bitteren Angriff auf das Verhalten der Demonstranten durch den prominentesten Sympathisanten, den die Bewegung in der Presse hat, George Monbiot vom Guardian: „Die Bewegung ... hat die Orientierung verloren“, schrieb er. „Sie hat sich zu einem Zusammenschluss von unvereinbaren Mitgliedern entwickelt, die leichtsinnig und bedrohlich zugleich sind ... Spinner in der Menge zerstörten Geschäfte und verunstalteten den Cenotaph.“ [98]
Die Diskussionen, die nach dem 1. Mai ausbrachen, waren allerdings nicht völlig neu. Sie hatten sich bereits direkt nach Seattle angekündigt. Medea Benjamin, eine der führenden Personen bei „Global Exchange“, die bei der Vorbereitung von Seattle eine wichtige Rolle spielten, schrieb später: „Die gewaltlosen Massenproteste von Seattle stellten den Höhepunkt eines monatelangen Prozesses dar, der Organisationen zu einem Bündnis zusammenführte.“ Aber „eine kleine Anzahl von Demonstranten entschied sich, den Geist von Solidarität und kollektivem Zusammenhalt ... in äußerst sektiererischer Form zu brechen“, indem sie „Scheiben einschlug, Mülltonnen umkippte, plünderte, WTO-Delegierte sowie Angestellte und Kunden in Geschäften brutal behandelte und die Innenstadt von Seattle mit Graffitis übersäte.“ Dies war „negativ in den Augen der breiten Öffentlichkeit“. [99]
Medea Benjamin macht anarchistische Gruppen dafür verantwortlich – obwohl sie sich beeilte hinzuzufügen, dass sie keineswegs alle Anarchisten meint. George Monbiot ging weiter. Nicht nur die anarchistischen Gruppen, die Eigentum angegriffen hatten, trügen Schuld, sondern auch die Organisatoren von Reclaim the Streets, auch wenn sie einen friedlichen Protest gewollt hätten. Ihr Fehler sei, dass sie die Grenzen dessen, was Aktionen erreichen können, nicht erkannten:
Gewaltfreie direkte Aktion ist die falsche Bezeichnung. Sie ist kein direkter Versuch, die Welt durch physische Aktion zu verändern, sondern ein graphisches und symbolisches Mittel, um auf vernachlässigte Themen aufmerksam zu machen und Herzen und Köpfe durch politisches Theater zu erobern.
Dadurch könne man manchmal begrenzte Ziele zu erreichen, wie zum Beispiel „den Bau einer Straße oder eines Flughafens“ zu verzögern, doch um mehr zu erreichen, müssten die Aktionen „Teil eines breiteren demokratischen Angriffs auf die politischen Konzepte sein, durch die sie hervorgerufen wurden.“ Reclaim the Streets „wäre vielleicht in der Lage gewesen, einen nachhaltigen Angriff gegen den Weltkapitalismus zu führen, wenn sie eine gangbare Alternative benannt hätten. Aber ohne klare Vorschläge für politische Veränderung waren die Proteste sowohl vom 18. Juni letzten Jahres als auch die vom 1. Mai diesen Jahres nichts als katastrophal.“ Die Bewegung sei dabei geendet, „sich mit riesigen, schwierigen Themen abzuquälen, die Sprache und die Aktionen von Revolutionären nachzuäffen, aber ohne ein revolutionäres Programm.“ Mehr noch:
Die Probleme werden vom Mythos des Konsens übertüncht. Die Bewegung der direkten Aktion besteht darauf, dass sie nicht hierarchisch sei – das jedoch hat niemals gestimmt. Es ist unvermeidbar, dass manche Leute härter als andere arbeiten und dabei Tatsachen schaffen, ob nun alle anderen in der Bewegung einverstanden sind oder nicht. Doch weil sie sich selbst einreden, dass es keine Hierarchie gibt, und dass die Proteste, die sie auslösen, spontane Volksaufstände sind, entledigen sich die Organisatoren der Verantwortung für ihr Handeln.
Dieser Mangel an Voraussicht und Verantwortung habe dem Verhalten der Anarchisten den Weg geebnet, argumentiert er weiter: „Parliament Square umzugraben, um das globale Kapital zu stoppen, ist derart sinnlos und so extrem frustrierend und entmutigend, dass man die hitzköpfigeren Demonstranten fast schon dafür entschuldigen kann, dass sie etwas Spektakuläres tun wollten.“ [100]
Gegen Monbiots Logik ist bis zu einem bestimmten Punkt nichts einzuwenden. Demonstrationen und gewaltlose Blockaden sind Symbole, die sehr wichtig sein können um der Wut und den Ambitionen der Menschen einen Fokus zu bieten. Das tat Seattle mit Sicherheit – und das taten auch die antikapitalistischen Proteste in London im Juni 1999, trotz Monbiots Behauptungen. Aber sie sind nur Symbole. Und das gilt auch für gewaltsame Aktionen kleiner Gruppen, auch wenn sie von scheinbar ernsthafteren Absichten zeugen. Denn sie können in keiner Weise das System in seinem Lauf stoppen und der Produktion und Zirkulation von Mehrwert mit all den daraus folgenden Schrecken ein Ende machen. Eine ganze Welt der entfremdeten Arbeit kann durch das Einwerfen von Fensterscheiben genauso wenig zum Stillstand gebracht werden wie durch passives Sitzen auf der Straße.
Doch Monbiot und viele andere versäumen es, ihre eigene Alternative zu bloßen symbolischen Aktionen darzustellen. Monbiot kritisierte den Protest auf Westminster Square, der anlässlich der Londoner Kommunalwahlen stattfand, mit dem Vorwurf, damit sei „es gelungen, die besten Wahlchancen, die radikale Politik in Großbritannien seit 15 Jahren hatte, zu gefährden.“ [101] Medea Benjamin sagte, dass „positive, offene und demokratische“ Kampagnen „die Konzerne zwingen, einige ihrer schlimmsten Praktiken zu ändern.“ [102] Doch indem man ein paar Stadtratssitze gewinnt oder einige der schlimmsten Formen von Konzernpolitik verhindert, wird man den krankhaften Irrsinn des globalen Systems nicht aufhalten und schon gar nicht beenden können. In der Tat haben sowohl Monbiot als auch Benjamin dies seit ihren Polemiken erkannt. Er unterstützt noch immer einige Formen von direkter Aktion. Sie spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der Demonstrationen, die in Los Angeles vor den Türen des Parteitags der Demokraten stattfanden, und sie bot der neuen Bewegung einen Fokus indem sie bei den kalifornischen Wahlen im November gegen beide etablierte Parteien antrat. Richtige Kritik am Verhalten der Anarchisten sollte einen nicht dazu bringen, zu glauben, es gäbe eine leichte, bequeme Form des Kampfes gegen die Multis und ihre Vorkämpfer in IWF, Weltbank, WTO und Regierungen.
Wir können etwas aus dem Schicksal der Bewegungen gegen das System lernen, die es in den 70er Jahren in einer ganzen Anzahl von Ländern gab. Zumeist gingen sie in den 80ern in zwei verschiedene Richtungen. Auf der einen Seite schlugen viele Aktivisten den parlamentarischen Weg ein und behaupteten, neue, an Frieden und Umwelt orientierte, nicht-hierarchische Parteien würden das Wesen des Parlaments verändern. Am Ende der 90er saßen ihre „grünen“ Parteien in den Regierungen von Deutschland, Frankreich und Italien, unterstützten NATO-Kriege und verwarfen Pläne zur Stillegung von Atomkraftwerken, während sie intern nach den gleichen hierarchischen Prinzipien funktionierten wie die anderen etablierten Parteien.
Auf der anderen Seite reagierten kleine Gruppen auf den Parlamentarismus, indem sie sich für „autonome“ Politik entschieden und versuchten, auf ihren eigenen Inseln am Rande der kapitalistischen Gesellschaft zu leben. Ein ums andere Mal gingen sie vermummt auf die Straße, zu ritualisierten Angriffen auf Eigentum und Zusammenstößen mit der Polizei. Rauchbomben und Molotowcocktails flogen, die Polizei ging zum Gegenangriff über und feuerte fröhlich Tränengas und Gummigeschosse auf alle, die sich in Sichtweite befanden, die Ausschreitungen wurden in den Fernsehnachrichten breit abgehandelt, und dann ... kehrte alles wieder zur Normalität zurück. Das Einzige, was sich änderte, war, dass die Bewegungen aus denen sie einst hervorgegangen waren, immer kleiner wurden, dass diejenigen, die den Weg über Wahlen gesucht hatten, immer parlamentarischer wurden und die Polizei immer stärker.
Die parlamentarische und die anarchistisch-autonome Herangehensweise scheitern beide aus denselben Gründen: Sie sind unfähig zu erkennen, dass es Kräfte gibt, die dem System entgegentreten können, und sie bemühen sich deshalb zu wenig, diese zu mobilisieren. Und jede Bewegung, die nicht über die Fähigkeit verfügt, einen echten Kampf gegen das System zu führen, gegen das sie sich richtet, steht unter dem enormen Druck, einen Weg zu finden, irgendwie mit dem System zurechtzukommen. Friedliches Nebeneinander oder gar Duldung des Systems ersetzen dann systematische Opposition.
Um eine solche Opposition aufrecht zu erhalten, ist es notwendig, die Initiative, die Energie und den Idealismus der antikapitalistischen Minderheiten, die auf die Straße gehen, mit den tagtäglichen Kämpfen gegen die kapitalistische Globalisierung, die überall im System stattfinden, wo Menschen ausgebeutet und unterdrückt werden, zu verbinden.
Um diese Verbindungen zu schaffen, sind gewalttätige Aktionen einer Avantgarde keine große Hilfe. Sie bieten den Verteidigern des Systems eine willkommene Entschuldigung, um gegen ihre Gegner ein deutlich höheres Maß an staatlicher Gewalt einzusetzen. Oft kann die gewaltfreie Aktion einer disziplinierten Massenbewegung dazu dienen, den Menschen die grundlegend gewalttätige Natur der Konzerne und des Staates vor Augen zu führen. Das bedeutet aber nicht, dass Gewaltlosigkeit allein das System besiegen kann. In der Geschichte des Kapitalismus haben herrschende Klassen immer wieder Gewalt in schrecklichstem Ausmaß eingesetzt, um Bewegungen zu zerstören, die stolz auf ihre eigene Gewaltlosigkeit waren. Dies widerfuhr der Pariser Kommune 1871, der deutschen Arbeiterbewegung 1933 und jüngst der Allende-Regierung in Chile 1973. Wenn die Antwort auf die Gewalt des Systems nicht in der Gewalt einer kleinen Avantgarde liegt, so liegt sie ebensowenig im Prinzip der Gewaltlosigkeit. Sie liegt vielmehr in der Entwicklung von Massenbewegungen, denen bewußt ist, dass alle nötigen Mittel eingesetzt werden müssen, um der Gewalt der Gegenseite zu begegnen. So schrieb der Chartist Bronterre O´Brien in den 1830er Jahren: „Die Reichen heute sind, was sie immer schon waren ... gnadenlos und unverbesserlich ... Es ist eine Farce, so einem Feind gegenüber von moralischer Stärke zu sprechen. Einzig ihre überwältigende Angst vor einer überwältigenden Kraft wird sie je für die Menschlichkeit gewinnen.“
Immer wenn eine neue Massenbewegung entsteht, ist ihr beeindruckendster Aspekt die Art und Weise, wie Menschen spontan die Initiative ergreifen, sich an phantasievollen Aktionen beteiligen und immense Kreativität beweisen. Die ganze geistige Energie, die sie zuvor für tausenderlei Formen von oftmals nebensächlichem Zeitvertreib vergeudet haben, wird nun darauf verwendet, die Bewegung voranzubringen und ihre Probleme zu lösen. Oft verführt dies manche Leute zu dem Glauben, die Bewegung sei weit über die „alten“ Fragen – Organisationsfrage und die Frage ideologischer Ausrichtung – hinausgegangen. So sieht Naomi Klein zum Beispiel in der Bewegung, die in Seattle und Washington auf die Straße ging, die Überwindung alter Formen der Organisation:
Die Protestbewegung gegen die Konzerne, die auf den Straßen von Seattle letzten November weltweite Aufmerksamkeit erregte, ist nicht durch eine politische Partei oder ein landesweites Netzwerk mit Zentrale, jährlichen Wahlen und untergeordneten Abteilungen und Ortsgruppen vereint. Sie wird von den Vorstellungen einzelner Organisatoren und Intellektueller geformt, beugt sich aber keinem von diesen als ihrer Führung.
Diese Massenzusammenkünfte waren wie Radnaben für Aktivisten, mit hunderten, vielleicht tausenden unabhängigen Speichen. Die Tatsache, dass diese Kampagnen so dezentralisiert sind, führt nicht zu Widersprüchen oder Zersplitterung. Es handelt sich vielmehr um eine vernünftige, ja geniale Reaktion sowohl auf die Zersplitterung innerhalb fortschrittlicher Netzwerke in der Vergangenheit als auch auf Veränderungen in der allgemeinen Kultur.
Eine der großen Stärken dieses Modells der laissez-faire-Organisation ist, dass sie sich als außerordentlich schwer zu kontrollieren erwiesen hat, vor allem, weil es sich so sehr unterscheidet von den Organisationsprinzipien der Institutionen und Konzerne, die sie ins Visier nimmt. Sie reagiert auf die Konzentration der Konzerne mit labyrinthartiger Aufsplitterung, auf Globalisierung mit ihrer eigenen Form der lokalen Beschränkung, auf Machtkonsolidierung mit radikaler Machtverteilung.
Sie zitiert Joshua Karliner vom Transnational Resource and Action Center, der diese Organisationsform als „eine ungewollt brilliante Antwort auf die Globalisierung“ beschreibt und Maude Barlow vom Council of Canadians, die behauptet, „Wir stehen einem Felsblock gegenüber, den wir nicht beseitigen können, also versuchen wir unter ihm, über ihn und um ihn herum zu gehen.“ Die dezentralisierte Bewegung sei ein „Schwarm“, der in der Lage ist, sich urplötzlich zu sammeln und die Institutionen der Globalisierung so zu zerrütten, wie es keine zentralisierte Bewegung könnte:
Wenn Kritiker sagen, den Demonstranten fehle die Vision, so meinen sie in Wirklichkeit, ihnen fehle eine übergeordnete revolutionäre Philosophie, mit der sie alle überein stimmten – wie Marxismus, demokratischer Sozialismus, linksökologische Ideologien oder Anarchismus. Das stimmt absolut, und wir sollten dafür außerordentlich dankbar sein.
Es ist das Verdienst dieser jungen Bewegung, dass sie bis dato all diese Pläne abgewehrt hat und jedes großzügig angebotene Manifest zurückgewiesen hat ... Vielleicht besteht ihre wirkliche Herausforderung nicht darin, eine Vision zu finden, sondern vielmehr der Versuchung zu widerstehen, sich zu früh auf eine festzulegen.
Doch in demselben Artikel erkennt Naomi Klein an, dass die „dezentralisierte“ Organisationsform der „Schwärme“ auch Probleme verursachte:
Natürlich hat das System der vielen Köpfe auch seine Schwächen, und die offenbarten sich auf den Straßen von Washington während der Proteste gegen Weltbank und IWF. Am 16. April, dem Tag der größten Proteste, wurde eine Versammlung des Sprecherrats der Bezugsgruppen einberufen, die gerade dabei waren, alle Kreuzungen um das Hauptquartier von Weltbank und IWF herum zu blockieren. Die Kreuzungen waren seit 6 Uhr morgens blockiert, doch die Aktivisten hatten gerade erfahren, dass die Delegierten bereits vor 5 Uhr hinter die Polizeibarrikaden geschlüpft waren. Angesichts dieser neuen Information dachten die meisten Sprecher, es sei an der Zeit, die Blockaden aufzugeben und sich am offiziellen Marsch bei der Ellipse zu beteiligen. Das Problem war, dass damit nicht alle einverstanden waren. Eine Hand voll Bezugsgruppen wollten versuchen, die Delegierten auf dem Rückweg von der Konferenz zu blockieren.
Der Kompromiss des Sprecherrats war bezeichnend. ‚O.K., alle mal herhören!‘, rief Kevin Danaher ins Megaphon. ‚Jede Kreuzung ist autonom. Wenn ihr die Blockade aufrechterhalten wollt, ist das super. Wenn ihr zur Ellipse kommen wollt, dann ist das auch gut. Es ist eure Entscheidung.‘
Das war einwandfrei fair und demokratisch, aber da war ein Problem – es machte absolut keinen Sinn. Die Blockade der Zugänge war eine koordinierte Aktion. Wenn nun einige freigegeben würden und andere besetzt blieben, müsstenn die Delegierten einfach rechts- statt linksherum gehen, um herauszukommen. Und natürlich passierte genau das.
Als ich Gruppen von Aktivisten aufstehen und weggehen sah, während andere sitzen blieben, zur trotzigen Bewachung von, nun ja, eigentlich gar nichts, erschien mir das wie eine passende Metapher für die Stärken und Schwächen dieser jungen Bewegung. [103]
Wenn die Bewegung aber sowohl „Schwächen“ als auch „Stärken“ hat, so muss es eine Diskussion darüber geben, wie mit ihnen umzugehen ist. Andernfalls werden die Schwächen immer wiederkehren und denen, die die Bewegung unterdrücken wollen, die Möglichkeit dazu geben. Die Lehre aus Washington – und noch mehr aus dem 1. Mai in London – ist, dass es nicht ausreicht, wenn jeder „sein eigenes Ding durchzieht“. Es muss eine gewisse Bereitschaft geben, zu demokratisch beschlossenen Entscheidungen zu kommen, die für alle Beteiligten bindend sind. Sonst kann jede beliebige Minderheit, wenn sie nur entschlossen genug ist, Aktionen unternehmen, die Konsequenzen für die Mehrheit haben, obwohl sie gar nicht mit ihnen einverstanden ist.
Die Arbeitsweise der NGO‘s, dezentrale Netzwerke zu bilden, ist historisch nicht wirklich neuartig. Das war genau die Art, wie die Aktivisten zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts operierten – mit den korrespondierenden Zirkeln in England oder auch den Jakobinerklubs in den früheren Phasen der französischen Revolution – indem sie das zur damaligen Zeit am weitesten entwickelte Kommunikationsmittel nutzten, nämlich Briefe schreiben. Aber um von dezentraler Propaganda und Agitation hin zu einer Form von ernsthaftem Kampf gegen die bestehenden Machtverhältnisse überzugehen, mussten sie zu stärker zentralisierten Organisationsformen greifen – die Jakobiner von 1792 bis 1794, die United Irishmen, Babeufs „Verschwörung der Gleichen“. [104] Dies lag genau daran, dass das dezentrale Modell es der Bewegung nicht ermöglichte, gemeinsam eine Entscheidung zu fällen, wenn es darum ging, die Kräfte darauf zu konzentrieren, in die eine oder die andere Richtung zu marschieren. Vielmehr ließ es zu, dass Minderheiten jede Aktion zu Grunde richten konnten, indem sie sich entweder zu früh in Bewegung setzten oder zurückblieben, wenn alle anderen vorwärts gingen.
Die Institutionen des globalen Kapitalismus mögen wie „Felsblöcke“ sein, die man schwer zerbrechen kann. Aber wenn du sie einfach umgehen willst, lässt du ihnen die Möglichkeit, plötzlich auf dich loszugehen und dich zu zerstören. Und sie zerstören doch tagtäglich Tausende von Existenzen durch ihre Strukturanpassungsprogramme, ihre Schuldeneintreibungen, ihre Kürzungen der Sozialleistungen, ihre Umweltzerstörung, ihre Kriege. All das können wir nicht einfach „umgehen“.
Es reicht auch nicht zu sagen, es gebe eben eine ganze Menge Ideen in der Bewegung und es dabei zu belassen. Selbstverständlich gibt es eine ungeheure Anzahl von Ideen in der Bewegung. Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen beginnen zum ersten Mal das globale System herauszufordern. Sie kommen aus den verschiedensten Bereichen, was Hintergrund und Erfahrungen betrifft und bringen die verschiedensten Ideen mit, die sich dort entwickelt haben. Niemand kann vorschreiben, was sie denken und wie sich ihre Ideen entwickeln. Aber das heißt nicht, dass es keine Auseinandersetzung über Ideen gibt oder dass irgendeiner von uns sich aus diesen Debatten heraushalten sollte. Tatsächlich wird sich die Bewegung nicht über einen gewissen Punkt hinaus entwickeln können, solange diese Meinungsverschiedenheiten nicht behoben sind. Es ist unsinnig, angesichts einer wichtigen Meinungsverschiedenheit über den nächsten Schritt einfach nur zu sagen „Ist es nicht wunderbar, dass wir diese Auseinandersetzung haben?“. Man muss sich mit ihr beschäftigen und sie nicht einfach kommentieren. Und wenn du denkst, die Erfahrung zeigt, dass „demokratischer Sozialismus“ oder „Anarchismus“ in der Vergangenheit schrecklich versagt haben, dann musst du das so wirkungsvoll wie möglich aussprechen.
Das ist besonders wichtig, wenn die neue Generation von Antikapitalisten es schaffen soll, die Verbindung zu den Millionen von Arbeitern und Armen herzustellen, die sich tagtäglich an großen oder kleinen Aktionen gegen Neoliberalismus und kapitalistische Globalisierung beteiligen. In diesen Kämpfen steht ihre gesamte Lebensgrundlage und manchmal ihr Leben auf dem Spiel. Sie müssen in der Lage sein, eine gemeinsame Richtung zu erarbeiten und Wege zu finden, wie sie Solidarität von ihren Mitstreitern bekommen und feindlichen Attacken der Gegenseite begegnen können. Klarheit in den Ideen ist in solchen Fällen kein Luxus. Sie ist vielmehr eine Notwendigkeit, wenn schreckliche Niederlagen vermieden werden sollen. Der einzige Weg, diese Klarheit bei den verschiedenen Standpunkten in der Bewegung zu erlangen, führt über solidarische Debatte, während man gleichzeitig gemeinsam kämpft.
Die Spitzen der riesigen multinationalen Konzerne und der Staaten haben sich wegen Seattle zu Recht Sorgen gemacht. Dort hat eine neue Stimmung der Opposition gegen das, was ihr System den Menschen zufügt, klare Konturen angenommen. Seattle repräsentierte die Sehnsucht einer beachtlichen Minderheit auf jedem Kontinent und in jedem Land. Und allein in den zehn Monaten, die seither vergangen sind, hat sich diese Stimmung fortgepflanzt. Während ich diesen Artikel schrieb, gab es weitere Massenproteste in Millau in Südfrankreich, gegen das G8-Treffen in Okinawa in Japan, vor dem Parteitag der Demokraten in Los Angeles und die Vorbereitungen für die Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum in Melbourne und gegen IWF und Weltbank in Prag liefen auf Hochtouren.
Nur eine Minderheit derer, die diese Proteste aufgebaut haben, betrachten sich selbst als Marxisten. Viele, insbesondere in den USA, sehen sich nicht einmal als Sozialisten. Dennoch folgen sie, indem sie eine Bewegung gegen das System aufbauen, demselben Pfad, auf dem Karl Marx und Friedrich Engels vor etwa 160 Jahren aufgebrochen sind. Nach und nach werden sie gezwungen sein, sich mit vielen Fragen auseinanderzusetzen, denen Marx und Engels begegnet sind, und andere, die seither den selben Weg beschritten haben. Es liegt an uns allen mitzuwirken, diese neue Bewegung aufzubauen – und ihr dabei zu helfen, den Umgang mit diesen Fragen zu erlernen.
1. Siehe z. B.: J. Charlton, Talking Seattle, in: International Socialism 86 (Frühjahr 2000); C. Kimber, Socialist Worker, 12. Dezember 1999; J. St. Clair, Seattle Diary, in: New Left Review 238 (November–Dezember 1999); What Happened in Seattle and What Does it Mean?, in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), Globalize This! The Battle Against the World Trade Organization and Corporate Rule (Monroe, Maine 2000).
2. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 41.
3. Ebenda, auf dem Umschlag.
4. Ebenda, S. 27. Siehe auch Susan George in: Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, Januar 2000.
5. Innerhalb des neoliberalen Lagers gibt es theologische Divergenzen zwischen Monetaristen und einigen anderen neoliberalen Ökonomen. Einige habe ich dargestellt in: The Crisis in Bourgeois Economics, in: International Socialism 71 (Sommer 1996).
6. Näheres siehe in: G. de Selys/N. Hirtt, Tableau noir, resister à la privatisation de l’enseignment (Brüssel 1998), S. 24–56.
7. Vgl. z. B.: Blue Gold of the 21st Century, in: Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, März 2000.
8. Näheres siehe: G. Palast, Tony Rushes In Where Bill Fears To Tread, The Observer, 21. Mai 2000, Business section, S. 6.
9. Diese Zusammenfassung der AFL-CIO Position wurde von David Bacon besorgt, der nicht mit dem Ansatz in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 124 übereinstimmt.
10. Ebenda, S. 161–162.
11. Ebenda, S. 201.
12. Ebenda, S. 104.
13. Ebenda, S. 118.
14. Laut Paul McGarr, der für Socialist Worker über Millau berichtete.
15. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 144.
16. Eine Darstellung der Lebensbedingungen der Arbeiter und der Entwicklung der Kampagnen gegen Billiglohnarbeit und für fairen Handel gibt N. Klein in: No Logo (London 2000), S. 206–221, 325–379, 397–419.
17. Deborah James bezeichnet das als ‚fairen Lohn im regionalen Bezug‘, in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 189.
18. Ebenda, S. 127.
19. N. Klein, No Logo, a. a. O., S. 421–422.
20. Ebenda, S. 435.
21. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 125.
22. Ebenda, S. 126.
23. Vgl. Karl Marx‘ Darstellung von Seniors Argumenten – und deren vernichtende Widerlegung, in: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1962, S. 237–243.
24. S. George, A Fate Worse Than Debt (Harmondsworth 1994), S. 239–240.
25. Vgl. das Interview mit Jamil Mahaud in: Hoy (Quito), 21. Juli 2000.
26. Interview in: Socialist Worker, 19. August 2000.
27. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 144.
28. Ebenda, S. 101.
29. Ebenda, S. 198.
30. Ebenda, S. 164–170.
31. Indigenous People’s Seattle Declaration, wiederabgedruckt in: Ebenda, S. 90.
32. S. George, A Fate Worse Than Debt, a. a. O., S. 270.
33. Z. B. Premchand, The Gift of a Cow (London 1987), The Temple and the Mosque (Neu Delhi 1992), ‚Deliverance‘ and Other Stories (Neu Delhi 1990). Deliverance wurde von dem indischen Regisseur Satyajit Ray in einen hervorragenden Film umgesetzt. Einen jüngeren Versuch, die elende Wirklichkeit des ‚traditionellen‘ bäuerlichen Lebens in Indien zu schildern, hat Shrilal Shukla in ihrer Erzählung Raag Darbari unternommen, die erstmals 1968 in Hindi veröffentlicht wurde und unter demselben Titel ins Englische übersetzt wurde (Neu Delhi 1992).
34. Die Zitate sind aus Shivas Reith-Vorlesung am 12. Mai 2000, Poverty and Globalisation, zu finden in: http://news.bbc.co.uk/hi/english/static/events/reith_2000/lecture5.stm. Zu Hos Auffassung vgl. ihr häufig sehr informatives Genetic Engineering: Dream or Nightmare? (Dublin 1999), S. 143–145.
35. V. Shiva, Poverty and Globalisation, a. a. O.
36. Habib, The Agrarian System of Mughal India (London 1963), S. 328.
37. Im Fall von Vandana Shiva beruht die Nostalgie, möglicherweise unabsichtlich, auf Religiosität und Kasten-Denken. Ihr Buch Stolen Harvest (Cambridge, Massachusetts 2000), das mit Zitaten aus religiösen Hindu-Texten durchsetzt ist, erklärt, daß Indien eine ‚vorherrschend vegetarische Gesellschaft‘ ist, und unterstützt das Verbot der Kuh-Schlachtung. In Wirklichkeit ist das strenge Vegetariertum auf eine Minderheit der Bevölkerung beschränkt, die Hindus oder Jains der oberen Kaste sind, während mittlere (‚rückständige‘) und untere (‚schedule‘) Kasten und ‚Stammes‘-Hindus, wie auch die Christen und die mehr als 100 Millionen Moslems alle Fleisch essen, wenn sie es sich leisten können. Staatlich durchgesetzte Verbote der Kuh-Schlachtung sind in Indien deshalb immer diskriminierende Maßnahmen, die von Hindu-Gemeindevertretern gegen islamische und christliche Minderheiten durchgeführt werden.
38. Die Zahlen sind aus dem Bericht der Weltbank, Trends in Developing Economies (1992), S. 226.
39. V. Shiva, Stolen Harvest (Cambridge, Massachusetts 2000), S. 103.
40. Angabe in: K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 138.
41. Le Monde diplomatique, englische Ausgabe, Januar 2000.
42. V. Shiva, Poverty and Globalisation, a. a. O.
43. Interview in: Socialist Review 242 (Juni 2000), S. 18.
44. Pierre Tatowksy in einer Rede auf einem Treffen der britischen Studentengewerkschaft in Blackpool, April 2000.
45. S. George, The Lugano Report: Preserving Capitalism in the 21st Century (London 1999).
46. V. Forrester, The Economic Horror (London 1999) S. 38. Dt. Ausgabe: V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997.
47. Ebenda.
48. E. Toussaint, Your Money or Your Life: The Tyranny of Global Finance (London 1999), S. 254.
49. Das ist sein Argument in: C. Hines, Localisation: A Global Manifesto (London 2000).
50. C. Harman, The State and Capitalism today, International Socialism 51 (Sommer 1991), deutsch: Staat und Kapitalismus heute, in: Internationaler Sozialismus 1, Hannover 1992; und Globalisation: a Critique of a New Orthodoxy, International Socialism 73 (Winter 1996).
51. Die Zahlen stehen im IMF Report zur US-Wirtschaft vom Juni 1999, zu finden auf der IMF Website: http://www.imf.org.
52. C.H. Feinstein, Structural Change in the Developed Countries in the 20th Century, Oxford Review of Economics (2000), No. 1, S. 53.
53. V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, a. a. O., S. 33/34.
54. N. Klein, No Logo, a. a. O., S. 223.
55. Ebenda.
56. Ebenda, S. 205.
57. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 216.
58. Zitiert in: Introduction, A. Arnove (Hg.), Iraq under Siege (London 2000), S. 11.
59. A. Smith, The Wealth of Nations (London 1986), S. 169.
60. P. Bourdieu, Acts of Resistance (Cambridge 1998), S. 6–7. Dt. Ausgabe: Pierre Bourdieu, Gegenfeuer, Frankfurt 1999.
61. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 513/514.
62. K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 400/401.
63. K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 621.
64. Marx/Engels, Collected Works (London 1996), Bd. 34, S. 398.
65. Ebenda, S. 399.
66. K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 416.
67. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 465/466.
68. K. Marx, Das Kapital, a. a. O., S. 744–761.
69. Ebenda, S. 773–777.
70. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 467.
71. K. Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: MEW 9, S. 226.
72. R. Hilferding, Das Finanzkapital.
73. R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Ges. Werke, Bd. 5, Berlin 1990.
74. Dieser Punkt wurde von C. Harman ausgearbeitet in: Explaining the Crisis (London 1999) und: Der Irrsinn der Marktwirtschaft (Frankfurt 1999).
75. Financial Times, 15. Mai 2000.
76. Vgl. z. B.: E. Crooks/A. Beattle, Global Warning, Financial Times, 17. Mai 2000.
77. S. George, A Fate Worse Than Debt, a. a. O., S. XIII.
78. J. Petras/M. Morley (Hg.), Latin America in the Time of Cholera (New York 1992), S. 27. Vgl. auch das Kapitel des Buches: The Retreat of the Intellectuals.
79. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 121/122.
80. Ebenda, S. 175–177.
81. P. Davidson, Are Grains Of Sand Sufficient To Do The Job When Boulders Are Required?, Economic Journal, Mai 1997, S. 639–662.
82. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 177.
83. K. Marx, Grundrisse (Harmondsworth 1973), S. 162.
84. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 150.
85. Ebenda, S. 158–162.
86. Ebenda, S. 174.
87. S. George, The Lugano Report, a. a. O., S. 185.
88. Ebenda.
89. Ebenda, S. 183.
90. Ebenda, S. 187.
91. S. George, The Debt Boomerang (London 1992), S. XX. Dt. Ausgabe: Susan George, Der Schuldenbumerang, Hamburg 1993.
92. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 42.
93. Ebenda.
94. Das zappatistische ‚Social Netwar‘ in Mexiko (Rand Arrayo Center, Strategy and Doctrines Program, 1998), erhältlich über: http://rand.org/publications/mr/mr994/mr994.pdf.
95. S. George, The Lugano Report, a. a. O., S. 184.
96. Ebenda.
97. P. Bourdieu, The Weight of the World (London 1999). Dt. Ausgabe: Pierre Bourdieu, Das Elend der Welt, Konstanz 1997.
98. G. Monbiot, Streets Of Shame, The Guardian, 10. Mai 2000.
99. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 68–71.
100. G. Monbiot, Streets Of Shame, a. a. O.
101. Ebenda.
102. K. Danaher/R. Burbach (Hg.), a. a. O., S. 72.
103. N. Klein, The Nation, Juni 2000.
104. Zu der Art und Weise, wie Babeuf versuchte, eine Partei-Organisation aufzubauen, vgl.: Ian Birchall, The Spectre of Babeuf (London 1997), S. 54–70.
Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021