Ursprünglich: The Prophet and the Proletariat, International Socialism 2 : 64, Herbst 1994.
Übersetzung: David Paenson
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
„Islamischer Fundamentalismus“, „politischer Islam“, „Islamismus“. Verschiedene Ausdrücke für ein Phänomen, das seit der Zerstörung des World Trade Centers am 11. September 2001 durch Selbstmordattentäter und der Bombardierung Afghanistans im Rahmen von George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“ enorm viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat.
Millionen Worte in Hunderten von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern sind inzwischen über das Thema geschrieben worden.
Aber nur wenige haben zu einer Aufklärung beigetragen. Überall wird der Islam, als eine Glaubensrichtung von vielleicht einem Fünftel der Weltbevölkerung, mit politischen Gruppierungen verwechselt, deren Anhängerschaft wesentlich kleiner ist. Der Islam kann genauso wenig mit einer besonderen islamistischen Gruppierung gleichgesetzt werden wie der Katholizismus mit den christlich-demokratischen Parteien Westeuropas oder der Protestantismus mit den Ausfällen eines Ian Paisleys.
Ein Großteil der Berichterstattung geht einfach davon aus, dass diese Gruppierungen aus „Fanatikern“, „Irren“ und „verrückten Mullahs“ bestehen, die allesamt Vertreter des „Bösen“ sind. Das Wort „Faschist“ kommt wieder in Mode. Es war die Rechtfertigung für die republikanische Rechte in Bushs Weißem Haus, für die Demokratische Partei im US-Kongress und für New Labour und die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, sich die Hand zu reichen für einen Krieg zur „Verteidigung der Zivilisation“.
Es sind aber nicht nur Regierungen, die solche Ansichten vertreten. Auch manche ihrer ehemals linken Widersacher tun das. Zumindest ein Kritiker früherer US-Militärabenteuer, nämlich Christopher Hitchens, verwendete das Wort „Faschist“ als journalistische Entschuldigung für jene Bomben, unter denen afghanische Kinder lebendig begraben wurden. Diese Begriffsverwirrung hat freilich weitere Kreise erfasst als nur jene New Yorker Gesellschaften, in denen er sich mittlerweile so gerne zeigt.
Es genügt ein schnelles Durchblättern der linken und liberalen Publikationen der letzten Jahre und man wird auf zahlreiche Äußerungen stoßen über die vermeintliche Irrationalität und Barbarei des Islams und über den „mittelalterlichen Faschismus“ der politischen Gruppierungen, die sich auf ihn berufen. Susan George beispielsweise, prominente Kämpferin gegen die Auswirkungen der Globalisierung, hält die Islamisten anscheinend für noch gefährlicher als den internationalen Kapitalismus. Sie schreibt von „faschistischen Fundamentalisten“ unter der Führung eines „Größenwahnsinnigen, der die Weltherrschaft anstrebt“, von „einem schattenhaften, sich nicht erklärenden, heimatlosen Feind, der nicht für traditionelle Ziele kämpft, der keine der ‚Kriegsregeln‘, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte herausgebildet haben, respektiert und ganz unvorhergesehen den Schrecken über Heim und Arbeitsstätte der Wohlhabenden, der Demokraten und der Gesetzestreuen hereinbrechen lässt.“
Solche Gedankengänge brachten sie dazu zu erklären, sie sei „unsicher“ in der Frage, ob sie Bushs Bombardierung Afghanistans ablehnen sollte – eine Bombardierung, unter der weitaus mehr Zivilisten ums Leben gekommen sind als im World Trade Center.
Schimpfworte reichen nicht aus, um einem bedeutenden politischen Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Worte, die wir verwenden, müssen klärende sein.
Etwas zu verstehen heißt nicht unbedingt, es zu billigen. Zu verstehen, wie jemand krebskrank werden kann, bedeutet nicht, sein Leiden und seinen Tod zu rechtfertigen. Zu verstehen, was eine Gruppe junger Männer der arabischen Halbinsel dazu bewog, sich selbst und drei Tausend weitere Menschen in den Tod zu reißen, bedeutet nicht, ihre Tat gut zu heißen. Zu verstehen, warum eine Minderheit von muslimischen Männern Frauen zwingen will, den Schleier zu tragen, und warum manche muslimische Frauen damit einverstanden sind, bedeutet nicht, den Kampf um Frauenbefreiung aufzugeben.
Vorliegende Broschüre hatte sich beim Ersterscheinen als Artikel in der Quartalszeitschrift für marxistische Theorie International Socialism genau das Ziel gesetzt, zu einem solchen Verständnis beizutragen. Ihre Argumente sind heute nach dem 11. September und inmitten eines angeblich endlosen „Krieges gegen den Terror“ wichtiger denn je.
Ganz wesentlich dabei ist, man kann den Islamismus nur begreifen vor dem Hintergrund des westlichen Imperialismus und seiner Auswirkungen auf das Leben hunderter Millionen Menschen, von der Atlantikküste Nordafrikas bis zur Bucht von Bengalen und darüber hinaus. Angefangen mit der britischen Eroberung Bengalens 1757 und Napoleons Einmarsch in Ägypten 1798 haben die Westmächte fortwährend Militärgewalt eingesetzt, um diesen Gebieten ihren Willen aufzudrücken: 1830, 1882, 1919, 1936, 1947, 1956, 1958, 1967, 1982, 1991 – das sind einige der Schlüsseldaten, als, mit westlicher Unterstützung, Militär oftmals mit schrecklichen und blutigen Folgen eingesetzt wurde.
Diese Konsequenzen halten heute noch an. Mehr als eine halbe Million Kinder sind infolge der Sanktionen gegen den Irak sinnlos gestorben. Der Ölreichtum der arabischen Halbinsel befindet sich vorwiegend in den Händen westlicher multinationaler Konzerne, an deren Tisch mittlerweile eine dünne Schicht von lokalen Herrschern sitzen darf, während die Masse der Bevölkerung in Armut verharrt. Der Weltwährungsfonds und die Weltbank diktieren Ländern wie Ägypten oder Algerien nach wie vor ihre Wirtschaftsprogramme – ganz wie seinerzeit Lord Cromer, als er Ägypten im Namen seiner britischen und französischen Kreditgeber in den 1880er Jahren verwaltete. Am widerwärtigsten ist aber, wie sich eine ehemalige, unter britischem Schutz stehende Siedlerkolonie zu jener ungezügelten Diktatur des Staates Israel über das Volk von Palästina fortentwickelt hat, dessen Häuser und Land sie fortlaufend enteignet, um Raum für ihre Siedlungen zu schaffen.
Der Nahe Osten ist nicht die einzige Region, die unter dem westlichen Imperialismus leiden musste. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch das Afrika südlich der Sahara, Zentralamerika und Südostasien. Weil aber die meisten Einwohner des Nahen Ostens und fast die gesamte Elite dem muslimischen Glauben als gemeinsamen über tausend Jahre alten kulturellen Erbe angehören, war es ein Leichtes, die Geschehnisse als einen Kampf des Christentums gegen den Islam darzustellen und nicht als imperialistische Besetzung durch Kapitalisten, die sich um die Religion derer, die sie ausbeuten, einen Dreck scheren.
Der Islamismus ist also eine Antwort auf die Verwüstungen durch den Imperialismus. Er ist allerdings eine Antwort, die mal rückwärtsgewandt ausfällt, um sich einige der reaktionärsten Züge vorkapitalistischer Gesellschaften zu eigen zu machen, mal nach vorne blickt, um den Imperialismus zu bekämpfen.
Die enorme Vielfältigkeit innerhalb des Islams wird durch die religiöse Sprache der Fundamentalisten und deren Verteufelung durch ihre Gegner überdeckt. Eine islamistische Organisation, die im Kampf um die Abschüttelung der israelischen Besatzungsmacht im Südlibanon groß geworden ist, kann eine ganz andere politische Rolle spielen als beispielsweise eine, die mehr als zwei Jahrzehnte lang mit dem militärischen Geheimdienst Pakistans zusammengearbeitet hat.
Die Gründe für den Aufschwung des Islamismus in den 1980er und 1990er Jahren werden meistens ebenfalls verschleiert.
In früheren Jahrzehnten schienen nicht-religiöse politische Bewegungen auf der Grundlage des Nationalismus und des Sowjet-Kommunismus Teilen der Mittelschichten, des Bauerntums und der Arbeiterschaft in der Dritten Welt eine Alternative zur imperialistischen Unterdrückung zu bieten. Aber spätestens ab den 1980er Jahren hatten die nationalistischen Regime ihren Frieden mit dem Weltsystem geschlossen und setzten fortan ihre Kräfte vorzugsweise gegeneinander ein. Dann zerfiel die Sowjetunion.
Der Islamismus konnte das entstandene Vakuum füllen, indem er wichtigen sozialen Gruppen eine einfache Erklärung für das, was schief gelaufen war, bot: die enorme Korruptheit von Regimen, die sich westlichen, nicht-islamischen Werten verschrieben hatten.
Viele ältere, konservativere Gruppierungen folgerten daraus, man müsse versuchen, diese Regime zu reformieren und der Masse der Bevölkerung strengere Verhaltensregeln aufzwingen. Jüngere, radikalere Gruppen zogen die Konsequenz, sich in einen offenen Krieg sowohl gegen den lokalen Staat als auch gegen die dahinter stehenden imperialistischen Mächte zu stürzen.
Aus Gründen, die ich in dieser Veröffentlichung aufzuzeigen versuche, haben die radikalen Gruppierungen im Großen und Ganzen versagt. Es ist ihnen zwar gelungen, ihren Gegnern Schaden zuzufügen, nicht aber, sie zu stürzen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels hat die FIS in Algerien Frieden mit dem Regime geschlossen; Turabi, der Anführer der sudanesischen Islamisten, sitzt im Gefängnis; und die islamistischen Netzwerke in Ägypten sind zerschlagen worden.
Das Al Qaida-Netzwerk, das angeblich hinter den Anschlägen vom 11. September steckt, war ein Produkt dieser Niederlagen. Es entstand als eine Koalition von versprengten Grüppchen, die durch die massive und im allgemeinen erfolgreiche Repression ins Exil getrieben worden waren. Bin Laden gelang an prominente Stelle und konnte dank seiner Ressourcen als Millionär und dank seines persönlichen Einsatzes diese international verstreuten Gruppen zusammenziehen und ihnen vorübergehend eine geographische Basis in Afghanistan verschaffen.
Der Anschlag auf das World Trade Center war in mancherlei Hinsicht der logische Endpunkt eines Jahrzehntes von Niederlagen. Er war ein Akt der Verzweiflung, kein Akt der Stärke. Er war der Versuch, die Verheerungen, die der US-Staat seinen vermeintlichen Feinden (Vietnam, Libyen, Serbien und Afghanistan) zuteil werden ließen, gegen die USA selbst zu richten. Daher der furchtbare Blutzoll an zivilen Opfern. Er schwächte aber in keinster Weise die enorme Macht des US-Staates, der den Anschlag als Vorwand für die Bombardierung eines der ärmsten Länder der Welt missbrauchte und so unter dem Deckmantel eines endlosen „Krieges gegen den Terror“ seine Fähigkeit beweisen konnte, jeden zu bestrafen, der es auch nur entfernt wagen sollte, seinen wirtschaftlichen oder strategischen Zielen in die Quere zu kommen.
Es kam in vielen Ländern zu großen Bewegungen gegen den Krieg. In anderen wiederum waren die potenziellen Initiatoren einer solchen Bewegung durch ihr eigenes Unvermögen, den Islamismus zu verstehen, gelähmt: Sie machten sich die Argumente von Susan George zu eigen und ordneten den Islamismus jenen Übeltätern zu, die noch schlimmer als der Imperialismus seien. Solche Kurzsichtigkeit hat ungewollt den Spielraum des US-Imperialismus, den armen Ländern seinen Willen aufzuzwingen, noch erweitert – ob mit Hilfe des Pentagons und der NATO oder mit Hilfe des IWF und der Welthandelsorganisation. Ihre Kurzsichtigkeit macht es auch für die Islamisten einfacher, gegenüber den Opfern des Imperialismus und seiner befreundeten Diktaturen vor Ort zu behaupten, ihr Schicksal sei der Linken weltweit gleichgültig. Dabei haben im Gegenteil die Fernsehbilder von Sozialisten und Gewerkschaftern unterschiedlichster Herkunft, die in westlichen und Dritte-Welt-Ländern gegen den Krieg auf die Straße gegangen sind, die Behauptungen der Islamisten, es handele sich um einen Religionskrieg des Christentums gegen den Islam, ganz sicher in Frage gestellt.
Die erbitterte Unzufriedenheit, auf der der Islamismus gedeiht, wird nicht verschwinden. Die Verzweiflung wird womöglich weitere Angriffe in der Art vom 11. September hervorbringen, die der Imperialismus dann als Vorwand benutzen wird, seine Macht weiter auszubauen.
Dieser Teufelskreis kann nur gebrochen werden, wenn die Linke sich imstande zeigt, die Führung im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung weltweit zu übernehmen. Das wird ihr allerdings nur gelingen, wenn sie sich absolut im Klaren darüber ist, wer der Hauptfeind ist und in welchem Verhältnis die islamistische Frage dazu steht.
Der Hauptteil dieser Broschüre wurde 1994 verfasst und seitdem nicht mehr verändert. Manche Dinge, auf die sie sich bezieht, gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Ihre zentralen Argumente sind aber heute genauso relevant wie zum Zeitpunkt ihres Erscheinens. Ich habe allerdings im Anhang einen Artikel über Afghanistan beigefügt, den ich drei Jahre später geschrieben habe und den ich inzwischen auf den neuesten Stand gebracht habe, um die Ereigniskette, die zum US-Angriff gegen die Taliban führte, nachzuzeichnen.
Islamistische Bewegungen beherrschen die politische Landschaft des Nahen Ostens mindestens seit der iranischen Revolution von 1978–79. Im Westen verschiedentlich als „islamischer Fundamentalismus“, „Islamismus“, „Integrismus“, „politischer Islam“ und „islamische Erweckung“ etikettiert, treten diese Bewegungen für die „Erneuerung“ der Gesellschaft durch eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Lehre des Propheten Mohammeds ein. Sie sind zu einem Machtfaktor im Iran und im Sudan geworden, wo sie immer noch an der Macht sind, in Ägypten, Algerien und Tadschikistan, wo sie einen erbitterten bewaffneten Kampf gegen den Staat führen, in Afghanistan, wo sich seit dem Zusammenbruch der pro-russischen Regierung konkurrierende islamistische Bewegungen gegenseitig bekriegen, in der Westbank, wo sie der alten PLO ihre Führerschaft im palästinensischen Widerstand streitig machen, in Pakistan, wo sie einen bedeutenden Teil der Opposition bilden, und neuerdings in der Türkei, wo die Wohlfahrtspartei die Kontrolle über Istanbul, Ankara und viele andere Städte erlangt hat.
Der Aufstieg dieser Bewegungen war ein regelrechter Schock für die liberale Intelligenz, er versetzte alle in Panik, die geglaubt hatten, die „Modernisierung“ im Windschatten der siegreichen anti-kolonialen Kämpfe der 1950er und 1960er Jahre würde unaufhaltsam aufgeklärtere und weniger repressive Gesellschaften hervorbringen. [1]
Statt dessen müssen sie mit ansehen, wie Kräfte heranwachsen, die der Gesellschaft Fesseln anlegen, Frauen die Schleier aufzwingen, die Gedankenfreiheit mit Terror unterdrücken und mit barbarischsten Strafen drohen für den Fall, dass man ihren Gesetzen trotzen sollte. In Ländern wie Ägypten oder Algerien unterstützen die Liberalen mittlerweile ausgerechnet jenen Staat, der sie in der Vergangenheit verfolgt und eingekerkert hat, bei seinem Krieg gegen die islamistischen Parteien.
Der Aufstieg des Islamismus hat aber nicht nur unter Liberalen für Verwirrung gesorgt, sondern auch unter den Linken. Angesichts einer in ihren Augen obskurantistischen Doktrin, die sich auf traditionell reaktionäre Kräfte stützt und unter manchen der ärmsten gesellschaftlichen Gruppierungen Anhänger findet, weiß sie nicht, wie sie reagieren soll. Zwei entgegengesetzte Haltungen haben sich herausgeschält.
Die erste sieht im Islamismus die personifizierte Reaktion, eine Form von Faschismus. Das war beispielsweise die Haltung von Fred Halliday, damals noch linker Akademiker, kurz nach der iranischen Revolution, als er das iranische Regime als „Islam mit faschistischem Antlitz“ bezeichnete. [2] Das war die Haltung eines Großteils der iranischen Linken nach der Festigung des Khomeini-Regimes und ist heute noch die Haltung einer Mehrheit der ägyptischen und algerischen Linken. Eine revolutionäre marxistische Gruppe in Algerien beispielsweise hat den Standpunkt vertreten, dass Prinzipien, Ideologie und politische Handlungen der islamistischen FIS „denen der Front National in Frankreich ähneln“ und sie eine „faschistische Strömung“ sei. [3]
Eine solche Analyse führt leicht zu der praktischen Konsequenz, politische Bündnisse um jeden Preis aufbauen zu wollen, um diese Faschisten zu bekämpfen. So kam Halliday zu dem Schluss, die iranische Linke hätte 1979 bis 81 den Fehler begangen, sich nicht mit der „liberalen Bourgeoisie“ als Gegengewicht zu den „reaktionären Ideen und Politik Khomeinis“ verbündet zu haben. [4] Die ägyptische Linke heute, die noch unter dem Einfluss der Hauptströmung der kommunistischen Tradition des Stalinismus steht, unterstützt praktisch den Staat bei seinem Krieg gegen die Islamisten.
Die entgegengesetzte Haltung sieht die islamistische Bewegung als eine „progressive“, „antiimperialistische“ Bewegung der Unterdrückten. Das war die Einstellung der überwiegenden Mehrheit der iranischen Linken in der ersten Phase der 1979er Revolution: Ob die unter sowjetischem Einfluss stehende Tudeh-Partei, die Mehrheit der Fedajin-Guerillaorganisation oder die linksislamistischen Volksmudschaheddin – sie alle charakterisierten die Kräfte um Khomeini als „progressive Kleinbourgeoisie“. Ihre Schlussfolgerung war, dass man Khomeini quasi vorbehaltlos unterstützen müsse. [5] Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte die Kommunistische Partei Ägyptens für kurze Zeit die gleiche Haltung zur Muslimbruderschaft eingenommen und sie zum „gemeinsamen Kampf gegen die ‚faschistische Diktatur‘ Nassers und seine ‚anglo-amerikanischen‘ Hintermänner aufgerufen“. [6]
Ich will versuchen darzulegen, dass beide Standpunkte falsch sind.
Beide übersehen den Klassencharakter des modernen Islamismus und
seine Beziehung zu Kapital, Staat und Imperialismus.
Die Verwirrung beginnt meistens schon bei der Frage, welchen Einfluss eigentlich Religion hat. Religiöse Menschen sehen in ihr eine selbständige historische Macht, zum Guten wie zum Schlechten. Das meinen auch die meisten bürgerlichen Antiklerikalen und Säkularisten. Für sie ist der Kampf gegen den Einfluss religiöser Institutionen und obskurantistischer Ideen der erste entscheidende Schritt zur menschlichen Befreiung.
Natürlich spielen religiöse Institutionen und Ideen eine große Rolle in der Geschichte, sie tun das aber nicht unabhängig von der übrigen materiellen Wirklichkeit. Religiöse Institutionen mit ihren Hierarchien von Priestern und Gelehrten entstehen in einer bestimmten Gesellschaft und stehen mit ihr in Wechselwirkung. Gesellschaftliche Veränderungen können sie nur überdauern, sofern es ihnen gelingt, ihre gesellschaftliche Basis zu wechseln. Eine der weltweit größten religiösen Institutionen, nämlich die katholische Kirche, hatte ihren Ursprung in der späten Antike. Sie überlebte, indem sie sich erst Tausend Jahre lang der Feudalgesellschaft und dann, mit großen Anstrengungen, der an deren Stelle tretenden kapitalistischen Gesellschaft anpasste. Im Rahmen dieses Prozesses veränderte sich auch der Inhalt ihrer Dogmen sehr stark. Menschen haben schon immer die Fähigkeit besessen, ihre religiösen Ideen unterschiedlich zu interpretieren, in Abhängigkeit von der eigenen materiellen Lage, von ihren Beziehungen zu anderen Menschen und von den Konflikten, in die sie hineingeraten. Die Geschichte ist voller Beispiele von Menschen, die eigentlich dem gleichen religiösen Glauben anhängen und doch im Zuge großer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikaden landen. Das war der Fall während der großen sozialen Umwälzungen in Europa inmitten der großen Krise des Feudalismus im 16. und 17. Jahrhundert, als Luther, Calvin, Münzer und viele andere „religiöse“ Führer ihre jeweiligen Anhänger mit einer neuen Weltanschauung wappneten – unter Bezugnahme auf eine Neuinterpretation der biblischen Texte.
Der Islam unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Religionen. Er entstand in einem ganz bestimmten Kontext, in den Handelszentren Arabiens des siebten Jahrhunderts, inmitten einer noch vorrangig nach Stämmen gegliederten Gesellschaft. Er gedieh weiter in einer Reihe riesiger Imperien, die von Anhängern seiner Doktrin erobert wurden, und lebt heute fort als die offizielle Ideologie zahlreicher kapitalistischer Staaten (Saudi Arabien, Sudan, Pakistan, Iran etc.) oder aber als Inspiration für zahlreiche oppositionelle Bewegungen.
Er konnte in solch unterschiedlichen Gesellschaften überleben, weil er sich konträren Klasseninteressen anzupassen vermochte. Die Geldmittel für den Bau seiner Moscheen hat er nacheinander von den Handelsleuten Arabiens, den Bürokraten, Grundbesitzern und Kaufleuten der großen Imperien und den Industriellen des modernen Kapitalismus erhalten. Zugleich gelang es ihm aber, die Masse der Bevölkerung für sich zu gewinnen, indem er den Armen und Unterdrückten Trost spendete. In jeder Phase war seine Botschaft eine doppelte, für die Armen die einer gewissen Fürsorge und für die ausbeutende Klasse die eines Schutzes gegen revolutionäre Umtriebe.
So betont der Islam, dass die Reichen zur Linderung der Lage der Armen eine islamische Steuer, den Zakat, in Höhe von 2,5 Prozent zahlen sollen, dass die Herrschenden auf gerechte Weise regieren müssen und dass Ehemänner ihre Ehefrauen nicht schlagen dürfen. Gleichzeitig betrachtet er die Enteignung der Reichen durch die Armen als Diebstahl, behält sich vor, Ungehorsam gegenüber einer „gerechten“ Regierung mit der ganzen Härte des Gesetzes zu bestrafen und stattet Frauen innerhalb der Ehe, in Erbschaftsangelegenheiten und in Bezug auf die Kinder im Fall einer Scheidung mit weniger Rechten aus als Männer. Armen und Reichen kommt er gleichermaßen entgegen mit seinem Angebot, die Unterdrückung in geregelte Bahnen zu lenken – den einen als Bollwerk gegen eine noch härtere Unterdrückung, den anderen als Bollwerk gegen eine Revolution. Wie das Christentum, der Hinduismus oder der Buddhismus ist er zugleich das Herz einer herzlosen Welt und Opium für das Volk.
Ein Ideengerüst muss aber voller Zweideutigkeiten sein, um eine solche Anziehungskraft auf verschiedene Klassen ausüben zu können, vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Erschütterungen. Es muss verschiedene Interpretationen zulassen, auch wenn sich seine Anhänger in seinem Namen gegenseitig an die Gurgel gehen.
Das gilt für den Islam praktisch ab seiner Geburtsstunde. Nach Mohammeds Tod 632, gerade zwei Jahre, nachdem der Islam Mekka erobert hatte, entbrannte eine Zwist zwischen den Anhängern des ersten Kalifen Abu Bakr, Nachfolger Mohammeds als Führer des Islams, und Ali, Ehemann von Mohammeds Tochter Fatima. Ali behauptete, dass manche Verfügungen Abus repressiv seien. Der Ton verschärfte sich, bis schließlich rivalisierende Muslimische Armeen in der Schlacht von Kamel aufeinander prallten und 10.000 Tote hinterließen. Aus diesem Dissens entstanden der sunnitische und der schiitische Zweig des Islams. Das war allerdings nur die erste in einer ganzen Reihe von Spaltungen. Es entstanden immer wieder neue Gruppierungen, die das Leid der Unterdrückten in den Händen der Gottlosen beklagten und eine Rückkehr zum ursprünglichen, „reinen“ Islam der Prophetenzeit verlangten. Dazu Akbar S. Ahmed:
Während der gesamten islamischen Geschichte haben Muslimische Führer eine Annäherung an das Ideal gepredigt ... Sie dienten oftmals vagen ethnischen, sozialen oder politischen Bewegungen als Sprachrohr ... Die Grundlage für die ganze schismatische Bandbreite des islamischen Denkens, von den Schia mit ihren Ablegern wie die Ismailis bis hin zu zeitlich begrenzteren Bewegungen wurde gelegt ... Die Muslimische Geschichte kennt zahllose Revolten gegen die etablierte Macht unter der Führung von Mahdis, die für ihre Bemühungen allzu oft mit dem Tod bezahlten ... Die Anführer waren oft arme Bauern oder stammten aus unterprivilegierten ethnischen Gruppen. Der Gebrauch der islamischen Diktion hat ihr Bewusstsein für die eigene Benachteiligung geschärft und die Bewegung zementiert. [7]
Aber sogar der Mainstream-Islam, zumindest in seinen populären Formen, ist keine homogene Glaubenslehre. Seine Ausbreitung von der Atlantikküste Nordwestafrikas bis zur Bucht von Bengalen ging einher mit der Eingliederung ganzer Völker, die viele ihrer althergebrachten religiösen Praktiken in den Islam einfügten, auch wenn diese im Widerspruch zur Originallehre des Islams standen. So schließt der populäre Islam oft die Verehrung lokaler Heiliger bzw. Heiligtümer ein, obwohl der orthodoxe Islam solche Praktiken als religiösen Götzendienst verurteilt. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die Sufi-Bruderschaften, die mystische und magische Erlebnisse stark betonen, was viele Fundamentalisten als anstößig empfinden, obwohl die Sufisten selbst sich nicht als Konkurrenz zu der Hauptströmung des Islams betrachten. [8]
In einer solchen Situation bedeutet der Aufruf, zu den Praktiken der Prophetenzeit zurückzukehren, in Wirklichkeit nicht die Konservierung der Vergangenheit, sondern die Umformung des menschlichen Verhaltens zu etwas ganz Neuem.
Das trifft auf die islamische Erneuerung im letzten Jahrhundert zu. Sie entstand als Versuch, die materielle Eroberung und die kulturelle Transformation Asiens und Nordafrikas durch das kapitalistische Europa zu bewältigen. Die Anhänger der Erneuerungsbewegung argumentierten, dass es nur deshalb so weit kommen konnte, weil die ursprünglichen islamischen Werte durch die weltlichen Handlungen der großen mittelalterlichen Reiche verdorben worden seien. Eine Regenerierung sei nur möglich, wenn der Gründergeist des Islams, vertreten durch die ersten vier Kaliphen (bzw. für die Schiiten durch Ali), wiederbelebt würde. In diesem Sinne konnte Khomeini beinahe die gesamte Geschichte des Islams der letzten 1.300 Jahre verurteilen:
Der wahre Islam konnte sich leider nur für eine kurze Zeit nach seiner Entstehung halten. Zuerst waren es die Umayyaden [die erste arabische Dynastie nach Ali] und dann die Abbasiden [die diese im Jahr 750 besiegten], die dem Islam alle möglichen Schäden zufügten. Später gingen die im Iran herrschenden Monarchen den gleichen Weg: Sie haben den Islam vollkommen entstellt und etwas gänzlich Anderes an seine Stelle gesetzt. [9]
Obwohl der Islam in den Augen seiner Verteidiger wie auch seiner Gegner eine traditionalistische, auf Ablehnung der modernen Welt gegründete Doktrin ist, verhalten sich die Dinge in Wirklichkeit komplizierter. Der Wunsch, eine mythische Vergangenheit neu zu erschaffen, schließt die Umprägung der bestehenden Gesellschaft ein, denn sie soll keineswegs außen vor gelassen werden. Hinzu kommt, dass diese Umprägung nicht die Schaffung einer Eins-zu-Eins-Kopie des Islams des siebten Jahrhunderts zum Ziel haben kann, denn die Islamisten lehnen nicht alle Aspekte der bestehenden Gesellschaft ab. Im Großen und Ganzen akzeptieren sie die moderne Industrie, die moderne Technologie und einen Großteil der Wissenschaft, die ihnen zugrunde liegt – fürwahr, sie argumentieren, dass der Islam als rationellere und weniger abergläubische Lehre als das Christentum mehr im Einklang mit der modernen Wissenschaft steht. Die „Wiedererwecker“ versuchen in Wirklichkeit etwas herbeizuführen, das es zuvor niemals gegeben hat, nämlich etwas, das altertümliche Traditionen mit den Formen modernen gesellschaftlichen Lebens verschmilzt.
Daher ist es falsch, alle Islamisten einfach als „reaktionär“ abzustempeln oder den „islamischen Fundamentalismus“ als Ganzes mit jenem christlichen Fundamentalismus gleichzusetzen, der die Bastionen des rechten Flügels der Republikanischen Partei in den USA kennzeichnet. Führerfiguren wie Khomeini, die Köpfe der rivalisierenden Gruppen in Afghanistan oder die Anführer der algerischen FIS mögen traditionalistische Themen aufgreifen und das Nostalgiegefühl scheidender sozialer Schichten ansprechen, sie finden aber genauso Gehör bei radikaleren Strömungen, die die kapitalistische Transformation der Gesellschaft hervorbringt. Olivier Roy stellt in Bezug auf die afghanischen Islamisten fest:
Der Fundamentalismus ist etwas ganz Anderes [als der Traditionalismus]: Für den Fundamentalismus ist es oberste Priorität, zu den Schriften zurück zu finden und mit dem Dunkel der Tradition aufzuräumen. Er möchte immer zu einem früheren Stadium zurückkehren, ihn kennzeichnet die Praxis des Studiums alter Texte und die Suche nach den Ursprüngen. Der Feind ist nicht die Moderne, sondern die Tradition, genauer gesagt im islamischen Kontext alles, was nicht die Tradition des Propheten ist. Dies ist die wahre Reform ... [10]
Der traditionalistische Islam ist eine Ideologie, die eine durch die kapitalistische Entwicklung bedrohte soziale Ordnung zu verewigen sucht bzw. sich zumindest auf die alte Ordnung beruft, um die Verwandlung der traditionell herrschenden Klasse in moderne Kapitalisten besser zu verschleiern wie im Fall der von der saudi-arabischen Herrscherfamilie propagierten Version. Der Islamismus hingegen will die Gesellschaft transformieren und nicht in den alten Bahnen konservieren, auch wenn er teilweise die gleichen Themen aufgreift. Aus diesem Grund ist der Begriff „Fundamentalismus“ eigentlich unpassend. Abrahamian stellt fest:
Die Bezeichnung „Fundamentalismus“ impliziert religiöse Inflexibilität, intellektuellen Purismus, politischen Traditionalismus, sogar sozialen Konservatismus und die Zentralität textueller-doktrinärer Prinzipien. „Fundamentalismus“ impliziert Ablehnung der modernen Welt. [11]
In Wirklichkeit stützten sich Bewegungen wie die Khomeinis im Iran auf „ideologische Anpassungsfähigkeit und intellektuelle Flexibilität und umfassten politische Proteste gegen die etablierte Ordnung und sozio-ökonomische Fragen, die zur Massenopposition gegen den Status quo beitrugen“. [12]
Die Trennlinie zwischen Islamismus und Fundamentalismus ist jedoch oft verwischt. Gerade weil die Vorstellung einer sozialen Erneuerung in religiöser Sprache gefasst ist, lässt sie unterschiedliche Interpretationen zu. Gemeint sein kann bloß die Abschaffung „degenerierter Praktiken“ durch Rückbesinnung auf Verhaltensnormen, die angeblich in der Zeit vor der „Korruption“ des Islams durch den „Kulturimperialismus“ noch existierten. In diesem Fall wird die Betonung auf weibliche „Sittsamkeit“, auf das Tragen der Schleier, auf die Abschaffung der „promiskuitiven“ Vermischung der Geschlechter an Schulen und Arbeitsplätzen, auf Ablehnung westlicher Popmusik usw. gelegt. So prangert beispielsweise einer der populärsten Anführer der algerischen FIS, Ali Belhadj, die „Gewalt“ gegen Muslime an, die von der „kulturellen Invasion“ ausgeht:
Wir Muslime glauben, dass die schlimmste Form der Gewalt, die wir zu erleiden hatten, nicht die physische Gewalt ist, auf die wir gefasst sind ... Vielmehr stellt für die muslimische Gemeinschaft die Gewalt in Gestalt einer aufgezwungenen teuflischen Gesetzgebung anstelle der Scharia die größte Herausforderung dar ...
Gibt es überhaupt eine schlimmere Gewalt als die, die darin besteht, das zu fördern, was Gott verboten hat? Sie eröffnen Weinkeltereien, des Teufels Werk, und erhalten Polizeischutz ...
Kannst du dir eine größere Gewalt vorstellen als die jener Frau, die an einem öffentlichen Ort und vor aller Augen ihre Schleier verbrennt, sich über die Bestrafung auf Grund des Familienkodex beschwert und dabei von den Verwestlichten, von den Halbmännern und den Transsexuellen unterstützt wird ...?
Es ist keine Gewalt zu verlangen, dass die Frau zu Hause bleibt in einer Atmosphäre der Enthaltsamkeit, der Zurückhaltung und der Demut und nur im Bedarfsfall, wie es der Gesetzgeber festlegt, ausgeht ... die Geschlechtertrennung in Schulen und die Abschaffung jener stinkenden Vermischung, die sexuelle Gewalt hervorruft, zu verlangen ... [13]
Erneuerung kann aber auch bedeuten, den Staat und manche Aspekte der politischen Dominanz durch den Imperialismus herauszufordern. So haben die iranischen Islamisten beispielsweise den größten amerikanischen „Horchposten“ in Asien geschlossen und die US-Botschaft besetzt. Die Hisbollah im Südlibanon und die Hamas in der Westbank und im Gazastreifen haben eine Schlüsselrolle im bewaffneten Kampf gegen Israel gespielt. Die algerische FIS organisierte riesige Demonstrationen gegen den US-Krieg gegen den Irak, obwohl sie dadurch ihre saudi-arabischen Geldsponsoren verloren. Erneuerung kann unter bestimmten Bedingungen sogar bedeuten, die materiellen Kämpfe von Arbeitern und Bauern gegen ihre Ausbeutung zu unterstützen, wie im Fall der iranischen Mudschaheddin 1979 bis 82.
Die verschiedenen Interpretationen von Erneuerung sprechen natürlich Menschen verschiedener sozialer Schichten an. Die religiöse Phraseologie kann jedoch die Beteiligten daran hindern, ihre verschiedenen Interessen klar zu erkennen. In der Hitze des Gefechts können Individuen die Bedeutungen durcheinanderbringen, so dass sie den Kampf gegen die Entschleierung der Frau als Kampf gegen die westlichen Ölgesellschaften und die abgrundtiefe Armut der Masse der Bevölkerung interpretieren. Belhadj im Algerien der späten 1980er Jahre beispielsweise
machte sich zur Stimme aller, die nichts zu verlieren haben ... Er führte den Islam auf seine ursprünglichste Schrift zurück und predigte die strikte Einhaltung seiner Gebote ... Jeden Freitag führte Belhadj Krieg gegen die ganze Welt: Juden, Christen, Zionisten, Kommunisten, Säkularisierer, Liberale und Agnostiker, Regierungen des Ostens und des Westens, arabische und muslimische Staatsoberhäupter. Verwestlichte Parteiführer und Intellektuelle waren bevorzugte Zielscheiben seiner wöchentlichen Predigten. [14]
Hinter dem Ideenwirrwarr waren aber reale Klasseninteressen am
Wirken.
Die Gesellschaften, in denen der Islamismus entstand, waren durch die Einwirkungen des Kapitalismus – zunächst in Gestalt fremder imperialistischer Eroberungen, später durch die Umwälzung der internen sozialen Beziehungen im Zug des Aufstiegs einer örtlichen kapitalistischen Klasse und der Herausbildung eines unabhängigen kapitalistischen Staates – zutiefst traumatisiert.
Herkömmliche soziale Klassen wurden durch neue ersetzt, allerdings nicht augenblicklich und auch nicht messerscharf. Es geschah, was Trotzki eine „kombinierte und ungleiche Entwicklung“ nannte. Der alte Kolonialismus hat sich zurückgezogen, aber die großen imperialistischen Mächte, allen voran die USA, setzen nach wie vor ihr Militär als Trumpf ein, um die Förderquoten der größten Einzelressource des Nahen Ostens, das Erdöl, zu beeinflussen. Staatliche Fördermittel und nicht zuletzt direktes Staatseigentum ermöglichten die Entstehung einiger moderner und bedeutender Industrien im Lande, aber beträchtliche Sektoren „traditioneller“ Industrien bestehen fort und es gibt eine riesige Anzahl kleiner Werkstätten, in denen der Besitzer mit ein paar Lohnabhängigen, oft die eigenen Familienmitglieder, arbeitet. Die Landreform ließ manche Bauern zu modernen kapitalistischen Farmern werden, verdrängte dafür eine weitaus größere Anzahl und beraubte sie mehr oder minder ihres Landes, so dass sie gezwungen wurden, ein Leben in ungesicherten Arbeitsverhältnissen in den Werkstätten oder auf den Märkten ausufernder städtischer Slums zu fristen. Eine massive Expansion des Bildungswesens produzierte eine enorme Anzahl Abiturienten und Hochschulabsolventen, die aber unzureichende Arbeitsmöglichkeiten in den modernen Wirtschaftszweigen vorfinden und deshalb ihre ganzen Hoffnungen auf Jobs in der Staatsbürokratie richten und in der Zwischenzeit ihr Auskommen mit Gelegenheitsjobs im informellen Sektor als Kundenwerber für Ladeninhaber, als Touristenführer, Lotteriescheinverkäufer, Taxifahrer usw. verdienen.
Die Weltwirtschaftskrisen der letzten 20 Jahre haben diese Widersprüche noch verschärft. Die modernen Industrien mussten die schmerzhafte Erfahrung machen, dass der heimische Markt zu klein für eine effiziente Produktion ist, der Wettbewerb auf Auslandsmärkten zugleich aber zu hart, um ihn ohne staatlichen Schutz bestehen zu können. Die traditionellen Industrien haben es in der Regel nicht geschafft, sich ohne staatliche Unterstützung zu modernisieren, und bieten der explodierenden städtischen Bevölkerung keinen ausreichenden Ersatz für die in der modernen Industrie fehlenden Arbeitsplätze. Einigen Sektoren ist das Knüpfen eigenständiger Verbindungen mit dem internationalen Kapital dennoch gelungen und diese ärgern sich wiederum über staatliche Restriktionen. Währenddessen konsumieren die städtischen Reichen immer begieriger die auf dem Weltmarkt angebotenen Luxusgüter und ziehen dadurch zunehmend den Unmut der Gelegenheitsarbeiter und Arbeitslosen auf sich.
Der Islamismus ist der Versuch von Menschen, die in Ehrfurcht vor den traditionellen Ideen des Islams erzogen wurden, mit diesen Widersprüchen zu Rande zu kommen. Er stößt allerdings nicht in allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen auf Zuspruch. Denn manche entscheiden sich doch für eine moderne, weltliche, bürgerliche bzw. nationalistische Ideologie, während andere zu irgendeiner nicht-religiösen klassenkämpferischen Antwort neigen. Die islamische Erneuerung hat ihre Wurzeln in vier unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, die jede für sich den Islam auf eigene Art interpretiert.
i) Der Islamismus der alten Ausbeuter. Das sind die Angehörigen der traditionellen privilegierten Klassen, die sich davor fürchten, im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung leer auszugehen – die Grundbesitzer (dazu gehört auch der von den Einkünften aus den Ländereien der religiösen Stiftungen abhängige Klerus), die traditionellen Handelskapitalisten und die Besitzer der zahlreichen kleinen Läden und Werkstätten. Diese Gruppierungen bildeten traditionell die Finanzierungsquelle für die Moscheen, und in ihren Augen ist der Islam ein Mittel, ihre etablierte Lebensweise zu wahren und sich bei den verantwortlichen Stellen Gehör zu verschaffen. Es waren diese Gruppen, die im Iran und im Algerien der 1960er und 1970er Jahre dem Klerus die Mittel zur Verfügung stellten, um sich der staatlichen Landreform zu widersetzen.
ii) Der Islamismus der neuen Ausbeuter. Zur zweiten Gruppierung, die nicht selten aus der ersten hervorgegangen ist, gehören manche Kapitalisten, die es trotz der feindseligen Haltung regierungsnaher Kreise zu etwas gebracht haben. In Ägypten zum Beispiel gelang es der heutigen Muslimbruderschaft, „sich im wirtschaftlichen Gefüge von Sadats Ägypten einzunisten zu einer Zeit, als bereits ganze Sektoren dem deregulierten Kapitalismus ausgeliefert worden waren. Uthman Ahmad Uthman, der ägyptische Rockefeller, machte keinen Hehl aus seinen Sympathien für die Brüder.“ [15]
Die Wohlfahrtspartei in der Türkei unter der Führung eines ehemaligen Mitglieds der wichtigsten konservativen Partei kann auf die Unterstützung eines Großteils des mittelständischen Kapitals zählen. Unter den Basaris im Iran, die Khomeini gegen den Schah unterstützten, befanden sich bedeutende Kapitalisten, die daran Anstoß nahmen, dass ökonomische Entscheidungen der Krone nahestehende Kreise begünstigten.
iii) Der Islamismus der Armen. Diese dritte Gruppierung bilden die ländlichen Armen, die, von der fortschreitenden Kapitalisierung der Landwirtschaft betroffen, auf verzweifelter Arbeitssuche in die Städte getrieben wurden. So brachte die Landreform in Algerien lediglich für zwei Millionen Menschen einer ländlichen Bevölkerung von insgesamt 8,2 Millionen Vorteile. Die übrigen sechs Millionen wurden vor die Wahl gestellt zwischen zunehmender Armut auf dem Land und Arbeitssuche in den Städten. [16] In den Städten aber ist „die am schlechtesten gestellte Gruppierung die der Langzeitarbeitslosen, die sich aus verdrängten ehemaligen Bauern auf der Suche nach Arbeit und sozialen Auswegen zusammensetzt ... sie wurden aus der ländlichen Gesellschaft herausgerissen, ohne in der urbanen Gesellschaft wirklich Fuß gefasst zu haben.“ [17]
Sie tauschten das mit der althergebrachten Lebensweise verbundene Sicherheitsgefühl, das sie mit der traditionellen Muslimischen Kultur verbanden, gegen eine unsichere materielle Existenz und prekäre Lebensumstände ein: „Klare Verhaltens- und Glaubensregeln haben für Millionen Algerier ihre Bedeutung verloren. Sie sind in einem Niemandsland gelandet, hin und hergerissen zwischen einer Tradition, die sich ihrer Loyalität nicht länger sicher ist, und einem Modernismus, der die seelischen und psychischen Bedürfnisse vor allem der Jugend nicht befriedigen kann.“ [18]
Solche Umstände machten die von den alten Grundbesitzern in den 1970er Jahren betriebene Agitation gegen die Landreform in den Augen der Bauern und Ex-Bauern plötzlich attraktiv. Denn die Landreform mit all ihren Umwälzungen konnte leicht zum Symbol für die Zerstörung einer gesicherten, wenn auch verarmten, Lebensweise werden. „Den Landbesitzern und den landlosen Bauern boten die Islamisten die gleiche Aussicht. Der Koran stigmatisierte die Enteignung fremder Güter; er empfahl den Reichen und den nach den Regeln der Sunna Herrschenden Anderen gegenüber großzügig zu sein.“ [19]
Die Anziehungskraft des Islamismus wuchs während der 1980er Jahre mit der ökonomischen Krise der damit zunehmenden Kluft zwischen den verarmten Massen und der Elite von einem Prozent der Bevölkerung, die Staat und Wirtschaft lenkt. Ihr Reichtum und ihr verwestlichter Lebensstil passten schlecht zu ihrem Anspruch, die Erben des Befreiungskampfes gegen die Franzosen zu sein. Für die Ex-Bauern lag es nahe, das „unislamische“ Benehmen dieser Elite für die eigene Misere verantwortlich zu machen.
Auch im Iran kam die kapitalistische Transformation der Landwirtschaft im Zuge der Landreform durch den Schah in den 1960er Jahren nur einer Minderheit der Schaffenden zugute, während der Rest leer ausging oder noch schlechter dastand. Sie nährte den Antagonismus der ländlichen und der neu in die Städte gekommenen Armen gegen den Staat, was die Sache der islamischen Kräfte, die gegen die Landreform opponiert hatten, begünstigte. Der Einsatz der Staatsmacht gegen islamische Persönlichkeiten durch den Schah 1962 beispielsweise machte sie zum Fokus für eine sehr große Anzahl von Menschen.
Die „Öffnung“ der ägyptischen Wirtschaft für den Weltmarkt infolge von Vereinbarungen mit der Weltbank und dem IWF ab Mitte der 1970er Jahre verschlimmerte drastisch die Lage der Masse der Bauern und Ex-Bauern und schuf eine enorme Verbitterung. Die nach ihrem Staatsstreich von 1978 von der Kommunistischen Partei Afghanistans PDPA aufoktroyierte Landreform gab Anlass zu einer Serie spontaner Aufstände aller ländlichen Bevölkerungsschichten:
Die Reformen machten Schluss mit der traditionellen, auf gegenseitigem Eigeninteresse beruhenden Arbeitsweise, aber ohne irgendeine Alternative zu bieten. Die ihres Landes enteigneten Grundeigentümer weigerten sich, ihren Farmpächtern Saatgut zur Verfügung zu stellen; Menschen, die in der Vergangenheit Geld verliehen hatten, waren auf einmal nicht mehr dazu bereit. Es gab Pläne für die Schaffung einer Bank für Agrarentwicklung und für die Einrichtung einer Aufsichtsbehörde für die Verteilung von Saatgut und Futter, diese lagen aber zum Zeitpunkt der Reformen noch in der Schublade ... Allein schon die Ankündigung der Reformen schnitt daher die Bauern von ihren Saatgutlieferanten ab ... Die Reform zerstörte nicht nur das ökonomische, sondern das gesamte soziale Gefüge der Produktion ... Es kann daher nicht überraschen, wenn diese Reformen, weit davon entfernt, 98 Prozent der ländlichen Bevölkerung gegen die restlichen zwei Prozent der ausbeutenden Klassen aufzubringen, vielmehr eine allgemeine Revolte von 75 Prozent der Menschen provozierten. Als das neue System dann versagte, meinten schließlich sogar jene Bauern, die die Reformen anfänglich begrüßt hatten, eine Rückkehr zum alten System wäre für sie von Vorteil. [20]
Es ist aber nicht allein ihre feindselige Haltung zum Staat, die die Ex-Bauern für die Botschaft der Islamisten empfänglich macht. Die Moscheen bieten einen sozialen Zufluchtsort für Menschen ohne sonstigen Halt in einer für sie neuen und fremden Stadt und die islamischen Wohltätigkeitswerke einen Grundstock an sozialen Diensten (Kliniken, Schulen usw.), die staatlicherseits fehlen. Die Ausdehnung der Städte in Algerien in den 1970er und 80er Jahren wurde begleitet vom Bau zahlreicher Moscheen: „Es war ganz so, als ob die Lähmung im Bildungswesen und in der Arabisierung, das Manko an kulturellen und Freizeiteinrichtungen, der Mangel an öffentlichem Freiraum und die unzureichende Wohnraumversorgung Tausende von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern für die Moscheen abgeworben hätten.“ [21]
So konnten Mitglieder der alten landbesitzenden Klasse, Neureiche oder gar die saudische Regierung mit diametral entgegengesetzten Interessen zu denen der Masse der Bevölkerung mit ihren Spenden eine materielle und zugleich kulturelle Heimat für die Armen bieten. „In den Moscheen sah jeder für sich – der alte und der neue Bourgeois, der Fundamentalist, der Fabrikarbeiter – die Möglichkeit, seinen Plänen, seinen ureigenen Träumen und Hoffnungen nachzugehen und sie zu verwirklichen.“ [22]
Damit war die Klassenspaltung innerhalb der Moscheen noch keineswegs aufgehoben. In Algerien beispielsweise war u. a. die Frage, wann eine Spende für den Moscheebau abzulehnen sei, weil sie aus sündhaften (Haran) Quellen stammte, Anlass für unzählige Streitereien unter den Beiratsmitgliedern, die wegen ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft den Moscheebau aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachteten. „Nur selten absolviert ein religiöser Beirat sein in der Regel auf zwei Jahre festgelegtes Mandat in jener Harmonie und Einvernehmlichkeit, die der Kult der Einheit des Heiligen empfiehlt und die die Muezzin unaufhörlich besingen.“ [23] Die Streitereien bleiben aber religiös verbrämt und haben der Vermehrung der Moscheen und dem wachsenden Einfluss des Islamismus keinen Abbruch getan.
iv) Der Islamismus der neuen Mittelschichten. Jedoch bilden weder die „traditionellen“ Ausbeuterklassen noch die verarmten Massen das tragende Element der Erneuerungsbewegung des politischen Islam – jene aktiven Kader, die seine Doktrin verbreiten und dabei Verletzungen, Gefängnisstrafen und sogar den Tod im Verlauf von Konfrontationen mit ihren Gegnern riskieren.
Die traditionellen Ausbeuterklassen sind von Natur aus konservativ. Sie sind zu Geldspenden bereit, damit andere ihre Köpfe hinhalten – vor allem, wenn es darum geht, ihre materiellen Interessen zu schützen. So handelten sie in Algerien, als sie sich mit der Landreform in den 1970er Jahren konfrontiert sahen, in Syrien, als sich das Baath-Regime den Interessen der Kaufleute und Händler im Frühling 1980 quer stellte [24], und im Iran, als sich die Kaufleute und Kleinunternehmer der Basars 1976 bis 78 vom Schah bedrängt und 1979 bis 81 von der Linken bedroht fühlten. Aber sie scheuen davor zurück, ihre eigenen Geschäfte, geschweige denn ihr Leben zu riskieren. Deshalb können sie kaum jene Kraft gewesen sein, die Gesellschaften wie die Algeriens oder Ägyptens auseinander riss, in Syrien eine ganze Stadt, Hamm, zum Aufstand aufwiegelte, im Libanon Selbstmordattentate gegen die Amerikaner und Israelis verübte und im Iran der Revolution eine viel radikalere Wendung aufprägte, als es jemals irgendjemand in der iranischen Bourgeoisie erwartet hätte.
Diese Kraft entstammt in der Tat einer ganz anderen Gesellschaftsschicht – einem Teil der neuen Mittelschicht, die in Folge der Modernisierung überall in der Dritten Welt entstanden ist.
Im Iran hatten die Kader aller drei islamistischen Bewegungen, die die Politik der ersten Revolutionsjahre dominierten, einen solchen sozialen Hintergrund. Über die Anhängerschaft des ersten Premierministers nach der Revolution, Basargan, wird berichtet:
Im Zuge der Expansion des iranischen Bildungswesens in den 1950er und 60er Jahren konnten noch breitere Schichten aus dem Mittelstand die Universitäten des Landes besuchen. In den akademischen Milieus, die unter der Leitung älterer, westlich geprägter Eliten standen, gerieten die Neuankömmlinge wegen ihres Festhaltens am Islam unter starken Rechtfertigungsdruck. Sie traten den [von Basargan geleiteten] Muslimischen Studentenvereinigungen bei ... und beim Eintritt ins Berufsleben wurden die jungen Ingenieure oft Mitglied der Islamischen Vereinigung der Ingenieure, eine ebenfalls von Basargan gegründete Institution. Dieses Netzwerk von Vereinigungen war die materielle, die organisierte gesellschaftliche Grundlage für Basargan und den islamischen Modernismus ... Basargans und Taleqanis Popularität hing von ihrer Fähigkeit ab, aufsteigenden Mitgliedern der traditionellen Mittelschichten ein Gefühl der Würde zu vermitteln, das ihnen ermöglichte, ihre Identität zu behaupten in einer Gesellschaft, die in ihren Augen von einer gottlosen, verwestlichten und korrupten Elite dominiert war. [25]
In seinen Schriften über die Volksmudschaheddin im Iran stellt Abrahamian fest, dass viele Untersuchungen über die ersten Jahre der iranischen Revolution die Anziehungskraft des radikalen Islams auf die „Unterdrückten“ hervorheben. Aber in Wirklichkeit waren es nicht die Unterdrückten im Allgemeinen, die die Basis der Mudschaheddin bildeten, sondern vielmehr jener breite Teil der neuen Mittelschichten, deren Eltern dem traditionellen Kleinbürgertum angehört hatten. Abrahamian untermauert seine These mit Aufstellungen über die Berufe der unter dem Schah verhafteten und unter Khomeini von Unterdrückungsmaßnahmen betroffenen Mudschaheddin. [26]
Die dritte islamistische Kraft, die schließlich siegreiche Islamische Republikanische Partei Khomeinis, wird oft als ein vom Klerus zusammen mit den traditionellen Handelskaufleuten der Basaris angeführtes Bündnis betrachtet. Aber Moaddel konnte nachweisen, dass mehr als die Hälfte ihrer Abgeordneten einem qualifizierten Beruf nachging: Sie waren Lehrer, Regierungsangestellte oder Studenten – auch wenn ein Viertel von ihnen aus Basari-Familien stammte. [27] Und Bayat stellt fest, das sich das Regime in seinem Kampf zur Unterwerfung der betrieblichen Arbeiterorganisationen auf die dort beschäftigten leitenden Ingenieure stützen konnte. [28]
Azar Tabari hebt hervor, dass sich Frauen nach dem Sturz des Schahs in großer Anzahl für das Tragen der Schleier entschieden, auch in den Städten, und sich auf die Seite der Khomeini-Anhänger gegen die Linke schlugen. Sie stellt die These auf, dass diese Frauen aus jenen Teilen der Mittelschichten stammten, die sich in der ersten Generation in einem Prozess der „sozialen Integration“ befanden. Oftmals in traditionellen, kleinbürgerlichen Familien aufgewachsen – Vater Kaufmann oder Basari-Händler usw. – blieb ihnen nur die Alternative einer akademischen Bildung, da die herkömmlichen Möglichkeiten, Geld zu verdienen, im Zuge der Industrialisierung schwanden. Es gab Berufschancen für sie als Lehrerinnen oder als Krankenschwestern. Aber „diese Frauen mussten oft die schmerzliche, traumatische Erfahrung der Anpassung in der ersten Generation durchmachen“.
Als junge Frauen aus solchen Familien ihr Unistudium aufnahmen oder ihre Arbeitsstelle im Krankenhaus antraten, gerieten all diese traditionellen Vorstellungen unter die täglichen Anfeindungen „fremder“ Umgebungen, in denen Frauen mit Männern verkehrten, keine Schleier trugen und sich manchmal nach der neuesten europäischen Mode kleideten. Frauen waren oft hin und her gerissen zwischen übernommenen Familiennormen und dem Druck der neuen Umgebung. Auf der Arbeit mussten sie die Schleier ablegen, daheim sie tragen.
Eine weitverbreitete Reaktion auf diese widersprüchlichen Anforderungen war der „Rückzug in den Islam“, „symbolisiert durch bewusst verschleierte Demonstrantinnen auf großen Demonstrationen.“ Tabari behauptet, dass sich diese Reaktion stark von der jener Frauen unterschied, die den neuen Mittelschichten bereits in der zweiten oder dritten Generation angehörten, die sich weigerten, die Schleier zu tragen, und sich mit den Liberalen oder den Linken identifizierten. [29] In Afghanistan, so Roy, wurde
die islamistische Bewegung in den modernen Sektoren der Gesellschaft geboren und entwickelte sich aus der Kritik an ihr vorausgegangenen populären Bewegungen ... Die Islamisten sind Intellektuelle, das Produkt modernistischer Inseln inmitten einer traditionellen Gesellschaft; die Gesellschaftsschicht, der sie entstammen, haben wir als Staatsbürokratie bezeichnet – sie sind das Produkt eines staatlichen Bildungssystems, das ihnen Berufschancen lediglich im Staatsdienst eröffnet ... Die Islamisten sind Produkte des staatlichen Bildungswesens. Nur eine kleine Minderheit hat Geisteswissenschaften studiert. Auf dem Campus verkehren sie meistens mit den Kommunisten, mit denen sie tief verfeindet sind, viel eher als mit den Ulama [Religionsschüler], zu denen sie eine eher ambivalente Haltung haben. Sie teilen viele Glaubenssätze mit den Ulama, das islamistische Denken ist aber aus der Berührung mit den großen westlichen Ideologien entstanden, die in ihren Augen der Schlüssel zur technischen Entwicklung des Westens sind. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine moderne politische Ideologie zu entwickeln, die auf dem Islam gründet. Darin sehen sie die einzige Möglichkeit, mit der modernen Welt zurechtzukommen, und auch das letzte Mittel, den ausländischen Imperialismus zu konfrontieren. [30]
Das wichtigste Rekrutierungsfeld für die algerische FIS waren die Arabisch sprechenden (im Gegensatz zu den Französisch sprechenden) Gymnasialschüler und Hochschulstudenten und jene breite Schicht von Jugendlichen, die studieren wollte aber keinen Studienplatz fand:
Die FIS rekrutiert ihre Mitglieder aus drei Bevölkerungsschichten: die handeltreibenden Mittelschichten, darunter einige ziemlich Wohlhabende, die Masse der Jugend ohne Arbeit und ohne Zugang zu einer Hochschulausbildung, die das neue Lumpenproletariat auf den Straßen bildet, und schließlich eine Schicht aufsteigender Arabisch sprechender Intellektueller. Die beiden letztgenannten Gruppierungen sind die zahlreichsten und wichtigsten. [31]
Die islamischen Intellektuellen haben Karriere machen können dank ihrer Vorherrschaft in den Fakultäten für Theologie und Arabistik, die sie als Sprungbrett benutzten, um zahlreiche Stellen als Imam in den Moscheen oder als Gymnasiallehrer zu ergattern. Sie bilden ein Netzwerk, das die Gewinnung weiterer Islamisten für solche Positionen und die Eintrichterung islamistischer Ideen in neue Studentengenerationen sicher stellt. Dies verschafft ihnen wiederum Einfluss auf eine breite Schicht von jungen Menschen.
Ahmed Rouadia schreibt, dass die islamistischen Gruppen ab Mitte der 1970er Jahre zu wachsen begannen, als sie an den Universitäten Zulauf von Arabisch sprechenden Studenten erhielten, die die leidige Erfahrung machen mussten, dass ihnen ihre mangelnden Französischsprachkenntnisse den Zugang zu Jobs in der Verwaltung, in den fortschrittlicheren Technologiesektoren und im höheren Management versperrten. [32] So kam es beispielsweise zu einem erbitterten Konflikt mit dem Rektor der Universität von Constantine Mitte der 1980er Jahre, dem man vorwarf, die „Würde der arabischen Sprache“ zu verletzen und dem „französischen Kolonialismus die Treue zu halten“, weil er es zuließ, dass Französisch die Hauptsprache an den Wissenschafts- und Technologiefakultäten blieb [33]:
Die qualifizierten arabischen Muttersprachler finden zu keinem der Schlüsselsektoren Zugang, vor allem nicht in den Industriezweigen, die technisches Wissen und Fremdsprachenkenntnisse voraussetzen ... Die Arabisch Sprechenden finden auch mit ihren Diplomen keine Stelle in der modernen Industrie. In der Mehrzahl wenden sie sich schließlich den Moscheen zu. [34]
Die Studenten, die frisch exmatrikulierten Arabisch sprechenden und vor allem die arbeitslosen Ex-Studenten bilden eine Brücke zu einer noch größeren Zahl von unzufriedenen Jugendlichen außerhalb der Universitäten, die trotz jahrelangen Lernens in einem ineffizienten Bildungssystem keinen Studienplatz bekommen. Obwohl die Zahl der Gymnasiasten mittlerweile fast die Millionengrenze erreicht hat, müssen vier Fünftel von ihnen damit rechnen, beim Abitur, der Zugangsvoraussetzung für ein Studium an der Uni, durchzufallen und ein Leben lang mit unsicheren Jobs am Rande des Arbeitsmarktes Vorlieb nehmen zu müssen. [35]
Der Integrismus [Islamismus] bezieht seine Kraft aus den gesellschaftlichen Frustrationen, die ein Großteil der Jugend erlebt, die das soziale und ökonomische System vergessen hat. Seine Botschaft ist einfach: Wenn Armut, Not und Frustration existieren, liegt es daran, dass sich die Machthaber nicht auf die Legitimität der Schorah [Beratung] stützen, sondern einfach auf Gewalt ... Die Wiedereinführung des Islams der ersten Jahre würde diese Ungleichheiten verschwinden lassen. [36]
Durch seinen Einfluss auf eine breite Schicht von Studenten, Diplomierten und arbeitslosen Intellektuellen kann sich der Islamismus ausbreiten und in den Slums und Wellblechstädten, in denen die Ex-Bauern leben, seine Hegemonie etablieren. Eine solche Bewegung kann man nicht als „konservativ“ bezeichnen. Die ausgebildete, Arabisch sprechende Jugend, wendet sich nicht deswegen dem Islam zu, weil sie die bestehenden Verhältnisse aufrechterhalten will, sondern weil sie mit ihm die Hoffnung auf massive soziale Veränderung verbindet. [37]
In Ägypten entwickelte sich die erste islamistische Bewegung vor ca. 65 Jahren, als Hassan al-Banna die Muslimbruderschaft gründete. Sie wuchs in den 1930er und 40er Jahren parallel zur zunehmenden Desillusionierung mit der nicht-religiösen, nationalistischen Wafd-Partei wegen ihres Unvermögens, die britische Herrschaft über das Land abzuschütteln. Die Bewegung hatte ihre Basis in erster Linie unter Beamten und Studenten und war eine der führenden Kräfte der universitären Proteste Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. [38] Sie weitete sich aber auch auf städtischen Arbeiter und Bauern aus und erreichte auf ihrem Höhepunkt eine Mitgliederzahl von schätzungsweise einer halben Million. Beim Aufbau der Bewegung war Banna durchaus bereit, mit manchen der ägyptischen Monarchie nahestehenden Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten. Der rechte Flügel der Wafd betrachtete seinerseits die Bruderschaft als willkommenes Gegengewicht zum kommunistischen Einfluss auf Arbeiter und Studenten. [39]
Die Bruderschaft konnte allerdings mit den Kommunisten um neue Anhänger unter der verarmten Mittelschicht – und über sie hinaus unter den städtischen Armen – nur deswegen konkurrieren, weil ihre religiöse Sprache einen weiterreichenden Reformwillen verriet, als sich ihre rechts von ihnen stehenden Verbündeten wünschten. Ihre Ziele waren „im Endeffekt inkompatibel mit der Aufrechterhaltung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status quo, dem die herrschenden Kreise verpflichtet waren.“ Das erklärt die „Instabilität und Zerbrechlichkeit der Liaison zwischen der Muslimbruderschaft und den konservativen Machthabern.“ [40]
Nachdem ein neues Militärregime um Abdul Nasser zu Beginn der 1950er Jahre die ganze Macht in seine Hände konzentriert hatte, wurde die Bruderschaft fast vollständig ausradiert. Sechs führende Mitglieder wurden im Dezember 1954 gehängt und weitere Tausende in Konzentrationslager geworfen. Der Versuch Mitte der 1960er Jahre, die Bewegung wiederzubeleben, führte zu weiteren Hinrichtungen. Nach Nassers Tod gewährten seine Nachfolger Sadat und später Mubarak der Bewegung eine halblegale Existenz unter der Bedingung, dass sie jede offene Konfrontation mit dem Regime vermeide. Die Führung der gelegentlich als „neo-islamische Bruderschaft“ bezeichneten Organisation hat sich diesen Einschränkungen gefügt und verfolgt einen relativen „moderaten“ und „versöhnlichen“ Kurs, wobei sie beträchtliche Gelder von Mitgliedern kassiert, die in den 1950er Jahren nach Saudi Arabien ausgewiesen wurden und am Ölboom teilhatten. [41] Das ermöglichte den Brüdern den Aufbau eines „alternativen Modells eines Muslimischen Staates“ mit „seinen Banken, sozialen Diensten, Bildungseinrichtungen und ... seinen Moscheen.“ [42]
Gleichzeitig wurde aber dadurch ihr Einfluss auf eine neue Generation radikaler Islamisten geschmälert, die, wie ursprünglich die Bruderschaft selbst, aus den Universitäten und dem verarmten Teil des „modernen“ Mittelstandes hervorgegangen war. Das sind die Islamisten, die für die Ermordung Sadats 1981 verantwortlich zeichneten und seitdem einen ständigen bewaffneten Kampf sowohl gegen den Staat als auch gegen die weltliche Intelligenz führen.
Wenn wir von den Fundamentalisten in Ägypten reden, meinen wir damit eine kleine Minderheit, die sich sogar gegen die Muslimbrüder auflehnt ... Diese Gruppen bestehen mehrheitlich aus Jugendlichen ... Es sind sehr reine Menschen, bereit, ihr Leben zu opfern, alles zu tun ... Und sie werden als Speerspitze der verschiedenen Bewegungen eingesetzt, weil sie zu terroristischen Unternehmungen fähig sind. [43]
Die islamistischen Studentenorganisationen, die während Sadats Präsidentschaft zur dominierenden Kraft an den ägyptischen Universitäten heranwuchsen, „waren die einzigen wirklichen Massenorganisationen der islamistischen Bewegung.“ [44] Sie wuchsen als Reaktion auf die schlechten Studienbedingungen und die düsteren Aussichten, die Studenten auch nach einem erfolgreichen Abschluss erwarteten.
Die Studierendenzahlen schwollen von knapp unter 200.000 im Jahr 1970 auf über eine halbe Million 1977 an ... In Ermangelung notwendiger Ressourcen führte der kostenfreie Universitätszugang für eine möglichst große Anzahl aller Jugendlichen des Landes zu einem System billiger Ramschbildung. [45]
Überfüllung ist für Studentinnen, die allen möglichen Belästigungen in den Hörsälen und überquellenden Bussen ausgesetzt sind, ein ganz besonderes Problem. Als Antwort darauf
stärkten die Dschamaa al-islamija [islamische Verbindungen] ihren Einfluss ganz beträchtlich dank ihrer Fähigkeit [diese Probleme] zu identifizieren und unmittelbare Lösungen dafür zu bieten – beispielsweise die Verwendung von Studienbeiträgen für die Einrichtung eines Minibusdienstes für Frauen [wobei Schleier tragenden Frauen der Vortritt gewährt wurde], die Forderung nach separaten Sitzreihen für männliche und weibliche Studenten in den Vorlesungssälen, die Abhaltung von Repetitorien in den Räumlichkeiten der Moscheen oder die Herausgabe von verbilligten Standardlehrbüchern. [46]
Aber auch mit einem Diplom in der Tasche haben Exmatrikulierte kaum eine Chance, der grassierenden Armut in der ägyptischen Gesellschaft zu entkommen.
Jeder Absolvent hat ein Anrecht auf eine Einstellung im öffentlichen Dienst. Es handelt sich aber in Wirklichkeit um ein gigantisches Programm versteckter Arbeitslosigkeit in den Ämtern einer aufgeblähten Bürokratie, in der der Angestellte schlecht entlohnt wird ... Er kann sich zwar durch den Erwerb von staatlich subventionierten Lebensmitteln ernähren, er wird es aber kaum schaffen, über das bloße Existenzminimum hinauszukommen ... Fast jeder Staatsbedienstete hat einen Zweit- oder Drittjob ... Unzählige Beamte, die den ganzen Vormittag hinter Bürotischen in einem der zahllosen Ministerialbüros verbringen, betätigen sich nachmittags als Klempner oder Taxifahrer, alles Jobs, die sie so unqualifiziert verrichten, sie könnten genauso gut Analphabeten sein ... Eine Bäuerin, frisch vom Land, die weder lesen noch schreiben kann, verdient als Dienstmädchen eines Ausländers ungefähr den doppelten Lohn eines Privatdozenten an der Universität. [47]
Für die meisten Absolventen bietet sich als einziger Ausweg aus diesem Morast eine Stelle im Ausland, zumeist in Saudi Arabien oder den Golfemiraten. Das ist nicht nur der einzige Ausweg aus der Armut, für die meisten ist es auch die Voraussetzung für eine Heirat, in einer Gesellschaft, in der voreheliche Beziehungen die Ausnahme sind.
Die Islamisten artikulieren diese Probleme in religiöser Sprache. Kepel schrieb über einen der Führer der frühen islamischen Sekten, seine „Haltung ist keinesfalls die einer fanatischen Rückbesinnung auf ein vergangenes Jahrhundert ... Er greift – auf seine Art – eine zentrales Problem der ägyptischen Gesellschaft auf. [48]
Wie in Algerien waren die Islamisten, nachdem sie eine Massenbasis
an den Universitäten geschaffen hatten, in der Lage, in andere
Milieus vorzustoßen – in die Armenviertel der Großstädte, in
denen Studenten und Ex-Studenten mit der Masse der übrigen ums
Überleben kämpfenden Menschen verkehrten. Dieser Prozess setzte
ein, nachdem das Regime nach dem Friedensabkommen mit Israel Ende der
1970er Jahre mit aller Härte gegen die islamistische Bewegung an den
Universitäten vorgegangen war. „Anstatt die Dschamaa einzudämmen,
gaben die Repressalien der Bewegung neuen Auftrieb ... Die Botschaft
der Dschamaa begann, sich jetzt außerhalb der Welt der Studenten
auszubreiten. Islamistische Kader und Agitatoren zogen aus, um in den
Armenvierteln zu predigen.“ [49]
Die Klassenbasis des Islams ähnelt der des klassischen Faschismus und des Hindufundamentalismus der BJP, Shiv Sena und RSS in Indien. All diese Bewegungen haben ihre Mitgliederbasis unter Angestellten der Mittelschichten, unter Studenten sowie unter dem traditionellen handeltreibenden und berufstätigen Kleinbürgertum. Dies, gekoppelt mit der Feindschaft der meisten islamistischen Bewegungen gegen die Linke und ihrer Ablehnung von Frauenrechten und der Säkularisierung, hat viele Sozialisten und Liberale veranlasst, diese Bewegungen als faschistisch zu bezeichnen. Das ist allerdings ein Fehler.
Eine kleinbürgerliche Klassenbasis war ein Merkmal nicht nur des Faschismus, sondern auch des Jakobinertums, der nationalen Bewegungen der Dritten Welt, des maoistischen Stalinismus und des Peronismus. Kleinbürgerliche Bewegungen gehen nur dann den Weg des Faschismus, wenn sie in einer bestimmten Konjunktur des Klassenkampfes entstehen und eine spezifische Rolle darin spielen. Die Rolle des Faschismus erschöpft sich nicht in der bloßen Mobilisierung des Kleinbürgertums – er verwandelt die Verbitterung, die es angesichts der Auswirkungen der akuten Krise des Systems spürt, in den Hass organisierter Schurken, die bereit sind, im Auftrag des Kapitals die Arbeiterbewegung zu zerschlagen.
Deshalb waren Mussolinis und Hitlers Bewegungen faschistisch, im Gegensatz zu Perons Bewegung in Argentinien. Peron borgte zwar manche faschistische Bildersymbolik, er ergriff aber die Macht unter außergewöhnlichen Bedingungen, die es ihm erlaubten, die Arbeiterorganisationen zu kaufen, während er gleichzeitig mit staatlichen Interventionsmaßnahmen die Profite der großen Agrarkapitalisten in die industrielle Produktion umleitete. Während seiner ersten sechs Jahre im Amt ließ eine spezifische Kombination von Umständen einen Anstieg der Reallöhne um 60 Prozent zu. Das war das genaue Gegenteil von dem, was unter einem genuinen faschistischen Regime passiert wäre. Die liberale Intelligenz und die argentinische Kommunistische Partei hatten dennoch kein Problem damit, das Regime als „Naziperonismus“ zu bezeichnen, ähnlich wie ein Großteil der Linken weltweit heute den Islamismus faschistisch nennt. [50]
Die islamistischen Massenbewegungen in Ländern wie Algerien und Ägypten spielen ebenfalls eine andere Rolle als der Faschismus. Ihre Zielscheiben sind nicht in erster Linie die Arbeiterorganisationen, und sie dienen sich nicht den zentralen Sektoren des Kapitals als Mittel zur Lösung ihrer Probleme auf Kosten der Arbeiter an. Sie sind oft an direkten Massenkonfrontationen mit den Kräften des Staates beteiligt, in einer Weise, wie es faschistische Parteien nur selten waren. Weit davon entfernt, direkte Agenten des Imperialismus zu sein, haben diese Bewegungen antiimperialistische Losungen aufgenommen und manche antiimperialistische Handlung getätigt, die sehr bedeutsame nationale und internationale kapitalistische Interessen in Verlegenheit gebracht haben (so in Algerien in der Frage des zweiten Golfkriegs, in Ägypten wegen des „Friedens“ mit Israel, im Iran gegen die fortgesetzte amerikanische Präsenz nach dem Sturz des Schahs).
Die CIA konnte in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst und den pro-westlichen Staaten des Nahen Ostens Tausende Freiwillige aus der gesamten Region bewaffnen und in den Krieg gegen die Russen in Afghanistan schicken. Aber jetzt kehren diese Freiwilligen heim und entdecken, dass sie für die USA und nicht „für den Islam“ gekämpft haben, und bilden heute den harten Kern der Opposition gegen die meisten Regierungen, die sie ursprünglich ermuntert hatten, in den Krieg zu ziehen. Sogar in Saudi Arabien, wo die ultrapuritanische wahhabistische Auslegung der islamischen Scharia (religiöse Gesetzgebung) mit der ganzen Härte des Gesetzes angewandt wird, kann sich die Opposition jetzt auf „Tausende Afghankämpfer“ stützen, die von der Verlogenheit einer in die kapitalistische Weltordnung zunehmend integrierten königlichen Familie angeekelt sind. Die königliche Familie schlägt zurück, stellt ihre Zahlungen an die algerische FIS wegen deren Unterstützung für den Irak im zweiten Golfkrieg ein, verweist einen saudischen Millionär, der Islamisten in Ägypten finanziert hat, des Landes und zieht somit noch mehr die Feindschaft von genau den Menschen auf sich, denen sie in der Vergangenheit ihre Unterstützung zukommen ließ.
Diejenigen auf der Linken, die in den Islamisten bloß Faschisten sehen, lassen die destabilisierende Wirkung dieser Bewegungen auf die Interessen des Kapitals im gesamten Nahen Osten außer Acht und landen schließlich auf der Seite von Staaten, die die mächtigsten Unterstützer sowohl des Imperialismus als auch des örtlichen Kapitals sind. Diesen Weg sind beispielsweise jene Teile der Linken gegangen, die noch unter dem Einfluss der Überreste des Stalinismus in Ägypten stehen. Ein Großteil der iranischen Linken hat in der Schlussphase des ersten Golfkriegs diese Haltung eingenommen, als der amerikanische Imperialismus seine Flotte schickte, um auf der Seite des Iraks gegen den Iran zu kämpfen. Die weltliche Linke in Algerien droht angesichts des Quasi-Bürgerkriegs zwischen den Islamisten und dem Staat, den gleichen Fehler zu wiederholen.
Aber wenn es falsch ist, die islamistischen Bewegungen als „faschistisch“ anzusehen, so ist es genauso falsch, sie einfach als „antiimperialistisch“ oder „prinzipiell staatsfeindlich“ zu bezeichnen. Sie kämpfen nicht nur gegen jene Klassen und Staaten, die die Masse der Bevölkerung ausbeuten. Sie kämpfen ebenfalls gegen die Säkularisierung, gegen Frauen, die sich weigern, islamischen Vorstellungen von „Bescheidenheit“ zu folgen, gegen die Linke und nicht zuletzt gegen ethnische oder religiöse Minderheiten. Die algerischen Islamisten festigten ihre Kontrolle an den Universitäten in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren durch das Organisieren von „Strafexpeditionen“ gegen die Linke mit der stillschweigenden Duldung der Polizei, und ihr erstes Todesopfer war kein Staatsvertreter, sondern Mitglied einer trotzkistischen Organisation. Eine weitere Aktion dieser Gruppierung war die Brandmarkung von „Hard Rock Magazine“, von Homosexualität und von Drogen und Punk auf der islamischen Buchmesse 1985. In den algerischen Städten, in denen sie am stärksten organisiert sind, starteten sie Angriffe auf Frauen, die es wagten, ein paar Zentimeter Haut zu zeigen. Die erste öffentliche Demonstration der FIS richtete sich gegen vorausgegangene „feministische“ und „verweltlichte“ Demonstrationen gegen islamistische Gewalt, die Frauen zu ihren ersten Opfern macht. [51] Ihre Feindseligkeit richtet sich nicht nur gegen den Staat und das ausländische Kapital, sondern auch gegen die über eine Million algerischer Bürger, die ganz ohne eigenes Zutun mit Französisch als Muttersprache aufgewachsen sind, und jene zehn Prozent der Bevölkerung, die Berberisch statt Arabisch sprechen.
So ermorden auch in Ägypten bewaffnete islamistische Gruppen Säkularisten sowie Islamisten, die stark abweichende Meinungen vertreten, und stacheln die Muslimischen Bevölkerungsteile zu Rassenhatz und gar Pogromen gegen jene zehn Prozent der Bevölkerung auf, die zufällig der christlichen Minderheit der Kopten angehören. Im Iran hat der Khomeini-Flügel des Islamismus allein in der Zeit von 1979 bis 81 etwa 100 Menschen wegen „Sexualdelikten“ wie Homosexualität und Ehebruch hingerichtet, Frauen aus den Justizbehörden entlassen, Banden von Halbstarken, die sogenannten Hisbollah, organisiert, damit sie unverschleierte Frauen angreifen und die Linken überfallen, und Tausende im Zuge der Repressionswelle gegen die linksgerichteten islamistischen Volksmudschaheddin umgebracht. In Afghanistan richteten die islamistischen Organisationen, die einen langen und blutigen Krieg gegen die russische Besatzung geführt hatten, ihre Waffen aufeinander, sobald die Russen das Land verlassen hatten, und legten ganze Stadtgebiete Kabuls in Schutt und Asche.
Sogar wenn die Islamisten die Betonung auf den „Antiimperialismus“ legen, lassen sie den Imperialismus in der Regel ungeschoren davonkommen. Denn der heutige Imperialismus bedeutet im allgemeinen nicht mehr die direkte Herrschaft westlicher Staaten über Teile der Dritten Welt, sondern ist vielmehr ein Weltsystem unabhängiger – „privatwirtschaftlich“ wie staatlich organisierter – kapitalistischer Klassen, die in einen einzigen Weltmarkt integriert sind. Manche dieser herrschenden Klassen besitzen eine größere Macht als andere und können daher dank ihrer Kontrolle über den Zugang zu Märkten, über das Bankenwesen und gelegentlich durch den Einsatz roher Gewalt ihre eigenen Bedingungen diktieren. Diese bilden die Spitze einer Ausbeutungspyramide, direkt unter ihnen befinden sich aber die herrschenden Klassen ärmerer Länder, die, in den jeweiligen nationalen Volkswirtschaften verwurzelt, ebenfalls vom Weltsystem profitieren, sich verstärkt in die dominierenden multinationalen Netzwerke einklinken und Anteile an den Volkswirtschaften der entwickelten Länder erwerben – auch wenn sie dabei gelegentlich gegen die auf der nächsthöheren Stufe aufmüpfen.
Für das Leid der großen Masse der Bevölkerung können nicht allein die großen imperialistischen Mächte und ihre Helfershelfer wie die Weltbank und der IWF verantwortlich gemacht werden. Es ist auch das Ergebnis der begeisterten Beteiligung leichtgewichtigeren Kapitalisten mitsamt ihren Staatsapparaten am Ausbeutungssystem. Sie sind es, die die Leitlinien umsetzen, die die Menschen in die Armut treiben und ihr Leben zerstören. Sie sind es, die die Polizei und die Gefängnisse organisieren, um jeglichen Widerstand zu unterdrücken.
Das ist ein wichtiger Unterschied zur Situation im klassischen Imperialismus der Kolonialreiche, als westliche Kolonialherren Dienststellen selber besetzten und die Unterdrückung höchst persönlich organisierten. Die lokal herrschenden Klassen waren in zwei entgegengesetzte Richtungen hin und her gerissen, zwischen Widerstand gegen den Staat, wenn er ihre Interessen mit Füßen trat, und Zusammenarbeit mit demselben als Bollwerk gegen die von ihnen ausgebeuteten Schichten. Sie befanden sich aber nicht zwangsläufig an vorderster Front bei der Verteidigung des gesamten Ausbeutungssystems. Ganz anders sieht es heute aus. Sie sind mittlerweile Teil des Systems, auch wenn sie manchmal noch mit ihm streiten, und nicht mehr seine inkonsequenten Gegner. [52]
In einer solchen Situation geht eine Ideologie, die ausschließlich den ausländischen Imperialismus ins Visier nimmt, jeglicher ernsthaften Konfrontation mit dem System aus dem Wege. Sie dient lediglich als Sprachrohr für die Verbitterung und die Frustrationen der Menschen über das System, vermeidet aber, diese Gefühle auf reale Gegner zu lenken. Das trifft auf die meisten Auslegungen des Islamismus genauso zu wie auf die meisten Dritte-Welt-Nationalismen. Sie zeigen mit dem Finger auf einen realen Feind, das Weltsystem, und geraten gelegentlich in heftige Konflikte mit dem Staat. Aber sie sprechen den Großteil der lokalen Bourgeoisie, wichtigster langfristiger Partner des Imperialismus, von ihrer Verantwortung frei.
In einer jüngeren Studie vergleicht Abrahamian den Khomeinismus im Iran mit dem Peronismus und anderen Formen von „Populismus“:
Khomeini besetzte radikale Themengebiete ... Manchmal klang er radikaler als die Marxisten. Bei aller Radikalität in der Sprache blieb er aber der Aufrechterhaltung bürgerlicher Besitzverhältnisse streng verpflichtet. Diese Form des auf die Mittelschichten gemünzten Radikalismus rückt ihn in die Nähe der lateinamerikanischen Populisten, insbesondere der Peronisten. [53]
Abrahamian fährt fort:
Mit „Populismus“ meine ich eine Bewegung der besitzenden Mittelschichten, die die unteren Schichten, insbesondere die städtischen Armen, mit radikaler Rhetorik gegen den Imperialismus, den ausländischen Kapitalismus und das politische Establishment mobilisiert ... Populistische Bewegungen versprechen, den Lebensstandard radikal anzuheben und das Land vollständig von ausländischen Mächten unabhängig zu machen. Ein noch wichtigeres Merkmal ist, dass der Populismus bei seinen rhetorisch radikalen Angriffen auf den Status quo bewusst davor innehält, das Kleinbürgertum und das ganze Prinzip des Privateigentums in Frage zu stellen. Populistische Bewegungen betonen daher unweigerlich die Bedeutung nicht der ökonomischen und sozialen Revolution, sondern des kulturellen, nationalen und politischen Wiederaufbaus. [54]
Solche Bewegungen tragen zur Verwirrung bei, indem sie sich abwenden von jedem realen Kampf gegen den Imperialismus und an seine Stelle den rein ideologischen Streit gegen seine vermeintlichen kulturellen Auswirkungen setzen. Der „Kulturimperialismus“ und nicht die materielle Ausbeutung wird zur Quelle allen Übels ernannt. Der Kampf richtet sich daher nicht gegen Kräfte, die ganz real für die Verarmung der Massen mitverantwortlich sind, sondern gegen all jene, die „fremde“ Sprachen sprechen, „fremdländische“ Religionen akzeptieren oder die „traditionelle“ Lebensweisen ablehnen. Das kommt bestimmten Sektoren des heimischen Kapitals sehr gelegen, denen es leicht fällt, zumindest in der Öffentlichkeit die „indigene Kultur“ zu praktizieren. Es deckt sich auch mit den unmittelbaren materiellen Interessen mancher Sektoren der Mittelschichten, die leichter ihre eigenen Karrieren fördern können, indem sie andere aus ihren Jobs vertreiben. Dies schwächt die Bedrohung, die solche Bewegungen für den Imperialismus darstellen, ganz erheblich ab.
Der Islamismus mobilisiert die allgemeine Verbitterung und lähmt sie zugleich. Er bestärkt die Menschen in ihrer Meinung, dass etwas getan werden muss, nur um sie anschließend in Sackgassen zu lenken. Er destabilisiert den Staat und hält zugleich den realen Kampf gegen ihn in Grenzen.
Der widersprüchliche Charakter des Islamismus folgt aus der Klassenbasis seiner zentralen Kader. Das Kleinbürgertum als Klasse kann nicht eine eigene konsequente, unabhängige Politik verfolgen. Das galt schon immer für das traditionelle Kleinbürgertum – die kleinen Ladenbesitzer, Händler und Freiberufler. Sie waren schon immer Gefangene einer konservativen, rückwärts gewandten Sehnsucht nach Sicherheit einerseits und einer Hoffnung, dass sie von radikalen Veränderungen individuell profitieren könnten, andererseits. Das gilt ganz genauso für die verarmten Mittelschichten und sogar für die neuen Möchtegern-Mittelschichtler der verarmten arbeitslosen Ex-Studenten in den wirtschaftlich weniger entwickelten Staaten heute. Sie können einer vermeintlich goldenen Vergangenheit nachtrauern, sie können aber auch begreifen, dass ihre Zukunft mit dem allgemeinen Fortschritt durch revolutionäre Veränderung verwoben ist. Oder aber sie können andere Bevölkerungsteile für die Enttäuschung ihrer Hoffnungen verantwortlich machen, die ihnen auf „unfaire“ Weise ihre Mittelstandsjobs streitig machen: religiöse und ethnische Minderheiten, Menschen, die eine andere Sprache sprechen, Frauen, die einer „nicht traditionellen“ Arbeit nachgehen.
Welche Richtung sie einschlagen, hängt nicht allein von unmittelbaren materiellen Faktoren ab. Es hängt auch von den Kämpfen auf nationaler und internationaler Ebene ab. So ließen sich große Teile der aufstrebenden Mittelschichten der Dritten Welt durch die Kämpfe gegen den Kolonialismus und Imperialismus in den 1950er und 60er Jahre inspirieren, und es war allgemeiner Konsens, dass eine staatlich gelenkte Wirtschaftsentwicklung den Weg vorwärts weise. Die weltliche Linke – zumindest deren stalinistische oder nationalistische Hauptströmungen – wurde als Hoffnungsträger dieser Vision angesehen und übte einen maßgeblichen Einfluss an den Universitäten aus. Zu jener Zeit fühlten sich sogar Menschen, die zunächst zu einer religiösen Orientierung neigten, angezogen von dem, was als links galt – vom vietnamesischen Widerstand gegen die USA oder von der sogenannten Kulturrevolution in China –, und sie begannen sich loszusagen vom traditionellen religiösen Denken, beispielsweise in der Frauenfrage. So geschah es mit der katholischen Befreiungstheologie in Lateinamerika und den Volksmudschaheddin im Iran. Und sogar in Afghanistan haben islamistische Studenten gegen den Zionismus während des Sechs-Tage-Krieges, gegen die amerikanische Politik in Vietnam und gegen die Privilegien des Establishments demonstriert. Sie bildeten eine unversöhnliche Opposition gegen bedeutende Vertreter der traditionalistischen Seite, gegen den König und vor allem seinen Cousin Daoud ... Sie protestierten gegen fremde Einflüsse in Afghanistan, sowohl seitens der Sowjetunion als auch des Westens, und gegen die Spekulanten während der Hungersnot von 1972 mit ihrer Forderung nach einer Obergrenze für persönlichen Reichtum. [55]
In den späten 1970er und 80er Jahren wechselte die Stimmung. Zum einen gab es die Anfänge einer weltweiten Desillusionierung mit dem „sozialistischen“ Modell der Ostblock-Staaten angesichts der Massengräber Kambodschas, des Kurzkriegs zwischen Vietnam und China und der Annäherung Chinas an das US-amerikanische Lager. Dieser Desillusionierungsprozess beschleunigte sich in den späten 1980er Jahren in Folge der Veränderungen in Osteuropa und des Zusammenbruchs der UdSSR.
Das war verstärkt der Fall in manchen Ländern des Nahen Ostens, weil dort die Illusionen nicht nur eine Frage der Außenpolitik gewesen waren. Die örtlichen Regime hatten von sich behauptet, sie implementierten selbst nationalistische Versionen des „Sozialismus“ mehr oder weniger nach dem osteuropäischen Modell. Sogar manche auf der Linken, die sonst ihren Regierungen kritisch gegenüber standen, tendierten dazu, diese Behauptung zu akzeptieren und sich mit ihr zu identifizieren. In Algerien beispielsweise meldete sich die Linke an den Universitäten in den frühen 1970er Jahren zum freiwilligen Dienst auf dem Land zur Unterstützung der „Landreform“, obwohl das Regime die linken Studentenorganisationen bereits unterdrückte und die Universitäten unter Polizeikontrolle hielt. Und in Ägypten ließen die Kommunisten Nasser immer noch als Sozialisten hochleben, als er sie bereits ins Gefängnis geworfen hatte. So schlug die Desillusionierung mit dem Regime für viele Menschen schnell in Desillusionierung mit der Linken um.
Andererseits trat manch islamischer Staat verstärkt als politische Kraft in Erscheinung: die Machtergreifung Gaddafis in Libyen, das von den Saudis angeführte Ölembargo gegen den Westen zur Zeit des arabisch-israelischen Krieges von 1973 und, von besonderer Dramatik, die revolutionäre Gründung der Islamischen Republik Irans 1979 sind prominente Beispiele.
Der Islamismus gewann allmählich die Oberhand ausgerechnet unter jenen Schichten von Studenten und jungen Menschen, die einst auf die Linke geschaut hatten. In Algerien zum Beispiel „begannen viele junge Menschen so auf Khomeini zu schauen, wie einst auf Mao und Che Guevara.“ [56] Die Unterstützung für die islamistischen Bewegungen wurde von Mal zu Mal stärker, weil sie eine unmittelbare und radikale Veränderung anzubieten schienen. Ihre Anführer jubelten.
Deswegen verschwanden aber die Widersprüche im Islamismus nicht,
vielmehr kamen sie im darauf folgenden Jahrzehnt verstärkt zum
Vorschein. Weit davon entfernt, eine unaufhaltsame Kraft zu sein,
wurde der Islamismus durch interne Widersprüche geplagt, die seine
Anhänger wiederholte Male gegeneinander aufbrachten. Genau wie die
Geschichte des Stalinismus der 1940er und 50er Jahre war auch die des
Islamismus der 1980er und 90er Jahre eine des Versagens, des Verrats,
der Spaltungen und der Unterdrückung.
Der widersprüchliche Charakter des Islamismus drückt sich in der Art und Weise aus, wie er sich „die Rückkehr zum Koran“ vorstellt. Manchmal versteht er darunter lediglich eine Reformierung der „Werte“ der bestehenden Gesellschaft und meint damit eine Rückkehr zu früheren religiösen Praktiken unter Beibehaltung der wichtigsten bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Manchmal meint er den revolutionären Sturz der bestehenden Gesellschaft. Dieser Widerspruch kennzeichnet die Geschichte sowohl der alten islamistischen Bruderschaft der 1930er, 40er und 50er Jahre als auch der radikalen islamistischen Bewegungen der 1970er, 80er und 90er Jahre.
Wie wir bereits gesehen haben, wuchs die Muslimbruderschaft in den 1930er und 40er Jahren schnell heran, als es ihr gelang, neue Anhänger unter denen zu gewinnen, die von der Kompromisshaltung der bürgerlichen nationalistischen Wafd den Briten gegenüber enttäuscht waren. Die Drehungen und Wendungen der kommunistischen Linken unter Stalins Einfluss, die sogar so weit gingen, die Gründung des Staates Israel zu unterstützen, spielten der Bruderschaft dabei in die Hände. Mit der Rekrutierung von Freiwilligen für den Kampf in Palästina und gegen die britische Besatzung der ägyptischen Kanalzone schien sie den antiimperialistischen Kampf zu unterstützen. Aber gerade als die Bruderschaft den Gipfel ihrer Popularität erreicht hatte, geriet sie in erste Schwierigkeiten. Ihre Führung stützte sich auf eine Koalition von Kräften: die Rekrutierung einer Masse kleinbürgerlicher Jugendlicher, Beziehungen zum Königspalast, Abmachungen mit dem rechten Flügel der Wafd und Umsturzpläne mit Junioroffizieren der Streitkräfte, die alle in unterschiedliche Richtungen zogen.
Während Streiks, Demonstrationen, Ermordungen, die militärische Niederlage in Palästina und der Guerillakrieg in der Kanalzone die ägyptische Gesellschaft auseinanderrissen, drohte der Bruderschaft selbst die Gefahr eines Auseinanderbrechens. Viele Mitglieder empörte das persönliche Verhalten des Generalsekretärs, Bannas Schwager Abadin. Banna selbst verurteilte Mitglieder der Bruderschaft, die den Premier Nuqrashi ermordet hatten. Nach Bannas Tod 1949 war sein Nachfolger und „oberster Anführer“ sehr ernüchtert, als er von der Existenz einer geheimen terroristischen Abteilung hörte. Die Machtergreifung durch das Militär unter Nasser 1952 bis 1954 riss einen tiefen Spalt zwischen jenen, die den Coup guthießen, und jenen, die ihn ablehnten, bis es schließlich zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden rivalisierenden Gruppen innerhalb der Bruderschaft um die Kontrolle über die Büros kam. [57] Ein allumfassender Vertrauensschwund in die Führung ermöglichte es Nasser dann, die einst mächtige Organisation zu zerschlagen. [58]
Dieser Vertrauensschwund war aber kein Zufall. Er war die Konsequenz unüberbrückbarer Differenzen, die in jeder kleinbürgerlichen Bewegung angesichts einer sich vertiefenden Gesellschaftskrise zu Tage treten müssen. Auf der einen Seite gab es die Vorstellung, die Krise als Hebel zu nutzen, um der alten herrschenden Klasse einen Deal aufzuzwingen, wonach sie „islamische Werte“ in Gesetze gießt (Banna höchstpersönlich träumte davon, zusammen mit der Monarchie ein „neues Kalifat“ zu gründen, und sicherte einmal der Regierung seine Unterstützung zu – als Gegenleistung für ihr Versprechen, gegen den Alkoholkonsum und die Prostitution einzuschreiten [59]). Auf der anderen Seite waren Kleinbürger rekrutiert worden, die nach realer sozialer Veränderung strebten, welche sie aber nur durch den unmittelbaren bewaffneten Kampf glaubten erzielen zu können.
Die gleichen Widersprüche kennzeichnen den Islamismus im heutigen Ägypten. Die wiedergegründete Muslimbruderschaft begann ihre halblegale Existenz um das Magazin al-Dawa in den späten 1960er Jahren, wobei sie sich vom Ziel eines gewaltsamen Sturzes des ägyptischen Regimes endgültig lossagte. Stattdessen verschrieb sie sich der Reform der ägyptischen Gesellschaft nach islamischen Vorgaben durch Druck von innen. Die Aufgabe bestehe darin, „Prediger, nicht Richter“ zu sein, so der oberste Anführer der Bruderschaft in einem im Gefängnis verfassten Buch. [60] In der Praxis bedeutete das die Annahme einer „reformistischen islamistischen“ Orientierung und die Suche nach einem Modus vivendi mit dem Regime Sadats. [61] Seinerseits setzte das Regime die Islamisten ein, um mit den Linken fertig zu werden, die in seinen Augen damals der Hauptfeind waren: „Das Regime behandelte den Reformflügel der islamischen Bewegungen – gruppiert um das Monatsmagazin al-Dawa und um die islamischen Verbindungen auf den Universitätscampus – mit Wohlwollen, während die Islamisten die Universitäten von allem, was nach Nasserismus oder Kommunismus roch, säuberten.“ [62]
Eine Welle von Demonstrationen, Straßenunruhen und Streiks gegen die staatlichen Preiserhöhungen für Brot und andere lebenswichtige Konsumgüter erschütterte alle dreizehn Hauptstädte Ägyptens im Januar 1977. Das war der größte Aufstand im Lande seit der Erhebung gegen die Briten 1919. Die Muslimbruderschaft und auch die islamischen Verbände verurteilten den Aufstand als „kommunistische Verschwörung“ und versicherten der Regierung ihre Unterstützung.
Für den islamistischen „Reformismus“ zählt die Veränderung der gesellschaftlichen „Moral“ mehr als die Veränderung der Gesellschaft. Die Betonung liegt nicht auf der Wiedererrichtung der islamischen Gemeinschaft (Umma) durch eine gesellschaftliche Umwandlung, sondern auf der Durchsetzung bestimmter Verhaltensweisen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Und der Feind sind nicht der Staat oder interne „Unterdrücker“, sondern externe Kräfte, die für die Aushöhlung religiöser Vorschriften verantwortlich gemacht werden. Für den al-Dawa waren es das „Judentum“, „der Kreuzzug“ (womit Christen einschließlich der Kopten gemeint sind), der „Kommunismus“ und die „Säkularisierung“. Der Kampf gegen diese Einflüsse beinhaltet den Versuch, die Scharia (das von islamischen Juristen auf der Grundlage des Korans und der islamischen Tradition kodifizierte Gesetzessystem) wiedereinzuführen. Es handelt sich also eher um den Versuch, den Staat dazu zu bewegen, der Gesellschaft eine bestimmte Kultur aufzuerlegen, als denselben zu stürzen.
Eine solche Perspektive deckt sich ganz gut mit den Wünschen der traditionellen gesellschaftlichen Gruppierungen, die eine bestimmte Auslegung des Islams vertreten (die Überbleibsel der alten landbesitzenden Klasse, die Kaufleute), aber auch mit denen der ehemals jungen radikalen Islamisten, die mittlerweile einen Platz an der Sonne ergattert haben (es in Saudi Arabien zu Geld gebracht haben oder auf bequemen Sesseln in mittelständischen Berufen sitzen) oder aber angesichts der staatlichen Übermacht mittlerweile die Hoffnung auf radikale soziale Veränderung begraben haben.
Sie bietet aber überhaupt keine Antwort für die enttäuschte Masse der verarmten Studenten und Ex-Studenten oder der mit ihnen in den ärmeren Stadtvierteln verkehrenden Ex-Bauern, für die eine „Rückkehr zum Koran“ wesentlich radikaler ausfallen müsste. Für sie geht es um mehr, als nur fremde Einflüsse auf die bestehenden islamischen Staaten zu bekämpfen, der Staat selbst ist der Feind.
Ein Standardtext für die Islamisten in Ägypten ist das Buch Marksteine am Weg von Sajid Qutb, ein von Nasser 1966 gehängter Muslimbruder. Darin verurteilt er nicht bloß die bankrotten westlichen und stalinistischen Ideologien, sondern behauptet, dass auch ein sich islamisch nennender Staat auf anti-islamischer Barbarei (Dschahilija, der Name, den Muslime für die vor-islamische Gesellschaft in Arabien verwenden) gründen kann. [63]
Einen solchen Missstand kann nur „eine Vorhut der Umma“ korrigieren, indem sie eine Revolution nach dem Beispiel der „ersten koranischen Generation“ [64] vollbringt – das heißt durch Rückzug aus der bestehenden Gesellschaft, so wie es Mohammed praktiziert hat, als er Mekka verließ, um eine Macht aufzubauen, die groß genug war, um einen Umsturz herbeizuführen.
Solche Argumente blieben nicht dabei stehen, den Imperialismus zum Feind zu erklären, sie griffen zum ersten Mal den lokalen Staat direkt an. Sie brachten die moderaten Teile der Neo-Muslimbruderschaft in arge Verlegenheit, für die ihr beliebter Autor doch ein Märtyrer sein sollte. Sie waren aber eine Inspiration für Tausende junger Radikaler. Eine Gruppierung namens „al Taktir Wal Higra“, deren Anführer Shukri Mustafa wegen Entführung eines hohen religiösen Funktionärs 1977 hingerichtet wurde, lehnte Mitte der 1970er Jahre die bestehende Gesellschaft, die bestehenden Moscheen und religiösen Führer und sogar die Neo-Muslimbruderschaft um al-Dawa als „unislamisch“ ab. [65] Sie vertrat die Meinung, dass einzig und allein ihre Mitglieder echte Muslime seien und dass sie mit der bestehenden Gesellschaft brechen, in abgesonderten Gemeinschaften leben und alle anderen als Abtrünnige behandeln müssten.
Die islamischen Verbindungen an den Universitäten standen anfänglich unter dem Einfluss der moderaten Muslimbruderschaft. Sie verurteilten den Aufstand gegen die Preiserhöhungen und distanzierten sich auch noch von Shukri, als dieser später im gleichen Jahr gehängt wurde. Sie änderten aber allmählich ihre Einstellung, vor allem nachdem Sadat den „Friedensprozess“ mit Israel Ende 1977 initiierte. Bald hingen Aktivisten an den Universitäten Ideen an, die in mancherlei Hinsicht radikaler als die Shukris waren: Sie drehten der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht nur den Rücken zu, sondern begannen, sich zwecks deren Umsturz zu organisieren. Die Ermordung Sadats durch die Dschihad-Gruppe um Abd al-Salam Faraj im Oktober 1981 war der sichtbare Ausdruck davon.
Faraj buchstabierte seine herbe Kritik an den Strategien der verschiedenen Teile der islamischen Bewegung wie folgt: Die eine Sektion beschränkt sich darauf, für islamische Wohltätigkeiten zu arbeiten, eine andere (die Neo-Muslimbruderschaft) versucht, eine islamische Partei zu gründen, was nur dazu dient, den bestehenden Staat zu legitimieren, andere wiederum wollen nur „predigen“ und gehen so dem Dschihad aus dem Weg, eine vierte Gruppierung im Geiste Shukris vertritt den Rückzug aus der Gesellschaft und schließlich legt eine weitere Strömung die Priorität auf den Kampf gegen die äußeren Feinde des Islam (in Palästina oder Afghanistan). Gegen all diese Strömungen betonte er, dass der unmittelbare bewaffnete Kampf, der „Dschihad gegen den ungerechten Prinzen“, die Pflicht aller Muslime sei:
Der Kampf gegen den Feind daheim hat Vorrang vor dem Kampf gegen den Feind im Ausland ... Diese abtrünnigen Regierungen tragen die Schuld für den Kolonialismus und den Imperialismus in unseren muslimischen Ländern. Einen Kampf gegen den Imperialismus loszutreten, ist daher nutz- und ruhmlos, reinste Zeitverschwendung. [66]
Farajs Argumentationslinie eröffnete direkt die Perspektive eines Aufstandes gegen den Staat. Das änderte aber nichts daran, dass es auch innerhalb seiner eigenen Gruppierung Differenzen gab zwischen der Kairoer Sektion, die sich vorrangig um das Ziel der Zerstörung des ungläubigen Staates organisierte, und einer anderen Sektion in der mittelägyptischen Stadt von Asyut, die im „christlichen Proselytismus das Haupthindernis für die Propagierung des Islam“ sah. [67]
In der Praxis bedeutete dies, dass die Asyut-Gruppe ihr Feuer in erster Linie auf die koptische Minderheit (zumeist arme Bauern) richtete – eine Politik, die schon einmal im gleichen Jahr mit erschreckendem Erfolg von den Dschamaa-Studenten praktiziert wurde, als sie mörderische Nachbarschaftskämpfe zunächst in der mittelägyptischen Stadt Minya und danach im Kairoer Stadtteil Al-Zawiyya al Hamra entfachten: „Die Dschamaa zögerten nicht, die Flammen der sektiererischen Feindseligkeit anzufachen, um so den Staat in Verlegenheit zu bringen und um zu demonstrieren, dass sie willens seien, sozusagen Schritt für Schritt an die Stelle des Staates zu treten.“ [68]
Die Asyut-Sektion der Dschihad verwendete hier die alterprobte Methode, Rückendeckung in der örtlichen Bevölkerung durch eine Strategie der Mobilisierung kommunaler Hassgefühle zu suchen. Es gelang ihr sogar im Windschatten von Sadats Ermordung sich vorübergehend der Stadt Asyut zu bemächtigen. Im Gegensatz dazu konnten die Kairoer Aktivisten mit ihrer Betonung auf den Staat als Hauptfeind „kein Netzwerk von Komplizen oder Unterstützern ihr eigen nennen, und auf ihren isolierten Akt der Ermordung Sadats folgte nicht der Aufstand der muslimischen Bevölkerung Kairos, den sich Faraj und seine Freunde so heiß herbeigesehnt hatten.“ [69]
Die Ermordung Sadats ebnete den Islamisten keineswegs den Weg zur Machtergreifung im Staat, vielmehr konnte der Staat die anschließende allgemeine Verwirrung ausnutzen, um die Islamisten auszumerzen. Tausende wurden verhaftet, viele Anführer hingerichtet und die gesamte Bewegung entscheidend geschwächt. Die Beweggründe für so viele junge Menschen, sich den Islamisten zuzuwenden, verschwanden allerdings nicht. Schon Ende der 1980er Jahre hatte die Bewegung ihr Selbstvertrauen wiedergefunden und begann in manchen Vierteln Kairos und Alexandrias schnell zu wachsen. Damit einher ging eine wirkungsvolle terroristische Kampagne gegen Polizei und Sicherheitskräfte.
Dann startete der Staat im Dezember 1992 eine neue Unterdrückungskampagne ungeahnten Ausmaßes. Kairoer Slumgebiete wie Imbaba wurden durch 20.000 Soldaten mit Panzern und Schützenfahrzeugen besetzt. Zehntausende wurden verhaftet, Todesschwadronen schwärmten aus, um entkommene Aktivisten zu töten. Die wichtigsten von den Islamisten benutzten Moscheen wurden zubetoniert. Eltern, Kinder und Ehefrauen von Aktivisten wurden verhaftet und gefoltert.
Auch diesmal, wie in den frühen 1980er Jahren, war die Kampagne des Staatsterrors erfolgreich. Die islamistische Bewegung war nicht fähig, ja nicht einmal willens, Solidaritätsdemonstrationen zu organisieren. Stattdessen griffen sie auf eine durch und durch terroristische Strategie zurück, die das Mubarak-Regime nicht ernsthaft erschütterte, auch wenn sie die Tourismusbranche fast vollständig lahmlegte.
Währenddessen setzte die Muslimbruderschaft ihre Politik der
loyalen Opposition fort, verhandelte mit der Regierung über die
schrittweise Aufnahme der Scharia in die Landesgesetzgebung und
distanzierte sich von Protesten gegen die Unterdrückung.
Die Geschichte des Aufschwungs und der Radikalisierung des Islamismus in Algerien ähnelt in vielerlei Hinsicht der in Ägypten. Der algerische Diktator der späten 1960er und 70er Jahre, Boumédienne, förderte den moderaten Islamismus als Gegengewicht zur Linken und zu seinen historischen Widersachern innerhalb der Befreiungsbewegung, die dem französischen Kolonialismus ein Ende gesetzt hatte.
1970 startete der Staat unter der Leitung des Ministers für Bildung und Religion, Mouloud Kassim, eine Islamisierungskampagne, die die „Entartung der Moral“ und „westliche Einflüsse“ hinter dem „Kosmopolitismus, dem Alkoholismus und dem Snobismus, der darin zum Ausdruck kommt, immer dem Westen zu folgen und halb nackt herumzulaufen“ anprangerte. [70] Die Islamisten konnten auf den fahrenden Zug aufspringen, um den eigenen Einfluss zu verbreiten und eine Botschaft zu verkünden, die unter den ärmsten Schichten der Gesellschaft Anklang finden konnte – ohne dafür auf die üppigen Spenden der Landbesitzer verzichten zu müssen, die sich wegen der Landreform Sorgen machten:
Leitmotiv der integristischen Propaganda war das Eindringen des Atheismus und Kommunismus im Geleitzug der Agrarreform und ihre Bedrohung für den Islam ... Die Integristen ... verbreiteten ihre Ideen in den am meisten benachteiligten Gemeinden. Dazu errichteten sie provisorische Moscheen, die später zu festen Gebäuden umgebaut wurden. Mit ihren Lebensumständen unzufriedene Arbeiter und Arbeitslose, für die die Agrarrevolution nichts gebracht hatte, hörten zu, was die Integristen zu sagen hatten. [71]
Dann erhielten sie Mitte der 1970er Jahre Unterstützung von Teilen des Regimes, um die Linke an den Universitäten zurückzudrängen: „Zwischen 1976 und 1980 gelang es den Integristen, mit der stillschweigenden Duldung des Regimes den Einfluss der Marxisten gänzlich auszulöschen.“ [72]
In den frühen 1980er Jahren fuhr eine Sektion des Regimes damit fort, nach „moderateren“ Auslegungen des Islamismus Ausschau zu halten, um damit die eigene Herrschaft zu stützen. Der Minister für religiöse Angelegenheiten bis 1986, Chibane, setzte auf den Aufbau einer solchen islamistischen Tendenz. Zu diesem Zweck half er den Islamisten bei der Suche nach Sponsoren unter Industriellen und Geschäftsleuten für den Moscheebau. [73] Das konnte aber die Entwicklung von radikaleren, regimefeindlichen Interpretationen des Islams nicht aufhalten. Eine Studie über die Stadt Constantine stellt fest:
In breiten Teilen der öffentlichen Meinung Constantines weichen die traditionellen Vorstellungen einer neuen, immer populäreren islamischen Vision von der wiederauferstandenen Gemeinschaft des Propheten. Dieser Integrismus schöpft seine Kraft aus den sozialen Enttäuschungen eines Großteils der Jugend, die das soziale und ökonomische System einfach vergessen hat. [74]
Diese Auslegung des Islams erstarkte so sehr, dass sich das Ministerium für religiöse Bildung genötigt sah, deren Anhänger als Imame (Prediger) in den Moscheen einzustellen, und nicht jene mit „moderaten“ Ansichten.
Das Regime war drauf und dran, die Kontrolle über jenen Mechanismus zu verlieren, den es selber zur Entsorgung der Linken in Gang gesetzt hatte. Anstatt die Massen im Regierungssinne zu kontrollieren, bot der Islamismus einen Fokus für all ihre Verbitterung und ihren Hass gegen die Oberen, die sich ständig auf den Befreiungskrieg der 1960er Jahre beriefen, inzwischen aber selbst zu einer behäbigen herrschenden Klasse geworden waren. Die ökonomische Krise, die die algerische Gesellschaft Mitte der 1980er Jahre erfasste, vertiefte nur diese Verbitterung – gerade als sich die herrschende Klasse ausgerechnet an die westlichen Kapitalisten wandte, die sie zuvor bei ihren misslungenen Versuchen der Krisenbewältigung angeprangert hatte. Die islamistische Agitation gegen Französisch Sprechende und all jene, die durch die „westliche Moral korrumpiert“ seien, konnte leicht umschlagen in einen Angriff auf die Interessen jener „kleinen aber einflussreichen Schicht hoch ausgebildeter Technokraten, die den Kern einer neuen Angestellten- und Bürokratenklasse bildeten“. [75]
Das Regime begann, sich gegen die Islamisten zu wenden, und verhaftete Mitte der 1980er Jahre manche ihrer Führer, wobei der Kopf des Regimes, Chadli, den Imamen „politische Demagogie“ vorwarf. [76] Dadurch wurden die Islamisten allerdings nicht erledigt, vielmehr erstarkte ihre gesellschaftliche Stellung als die Opposition gegen das Regime.
Das wurde deutlich im Oktober 1988. Die ganze Verbitterung gegen die herrschende Klasse und das Regime explodierte in einem Aufstand,p class="quoteb" der denen in Osteuropa ein Jahr später sehr ähnelte. Die Bewegung, die als Serie spontaner Streiks in der Region um die Hauptstadt Algiers begonnen hatte, mündete bald in massive Straßenschlachten zwischen jungen Menschen und der Polizei: „Die Bevölkerung, wie ein befreiter Gefangener, entdeckte wieder ihre eigene Stimme und ihren Freiheitssinn. Sogar die Macht der Polizei schüchterte sie nicht mehr ein.“ [77] „Der Aufstand vom Oktober 1988 war vor allen Dingen eine Revolte junger Menschen gegen ihre Lebensbedingungen nach einem Vierteljahrhundert der Militärdiktatur.“ [78]
Die Revolte erschütterte das Regime in seinen Grundfesten. Wie in Osteuropa betraten allerlei zuvor unterdrückte politische Kräfte die öffentliche Bühne. Journalisten konnten zum ersten Mal frei berichten, Intellektuelle begannen, offen über die wirkliche Lage der algerischen Gesellschaft zu berichten, verbannte Politiker, rechte wie linke, kehrten aus dem Ausland zurück, eine Frauenbewegung meldete sich zu Wort und prangerte die islamische Familiengesetzgebung an, die Frauen weniger Rechte als Männern zuerkannte. Es wurde aber bald klar, dass außerhalb der berbersprachigen Gebiete die Islamisten die vorherrschende Macht innerhalb der Opposition bildeten. Ihr Einfluss ähnelte in vielerlei Hinsicht der der „Demokraten“ in Osteuropa und der UdSSR im darauffolgenden Jahr. Die Duldung, die sie seitens bestimmter Regierungskreise erfahren hatten, und die Unterstützung, die sie nach wie vor von einigen mächtigen Staaten erhielten (Gelder aus Saudi Arabien beispielsweise), verbanden sich mit ihrer Fähigkeit, eine Botschaft zu formulieren, die die Verbitterung der Masse der Bevölkerung auf den Punkt brachte:
Ihre Zahl, ihr Netzwerk von Moscheen und ihre Fähigkeit, spontan wie ein Mann zu handeln, als ob den Befehlen eines geheimen Zentralkomitees gehorchend, ließen die Islamisten als die einzige Kraft erscheinen, die die Massen mobilisieren und den Gang der Ereignisse beeinflussen konnte. Sie waren es, die als Sprecher der Aufständischen hervortraten und sich als die zukünftigen Führer der Bewegung durchsetzen konnten ... Da die Regierung nicht wusste, mit wem sie reden sollte, nachdem die Maschinengewehre verstummt waren, machte sie sich auf die Suche nach führenden „Gesprächspartnern“ mit der Fähigkeit, Forderungen zu formulieren und die Massenbewegung zu kontrollieren, die sich so gewalttätig und unkontrollierbar gezeigt hatte. So empfing Chadli Madani, Belhadj und Nahnah, [die bekanntesten islamistischen Persönlichkeiten]. [79]
Die islamistische Bewegung, jetzt unter dem Dach der FIS organisiert, wurde in den darauffolgenden Monaten so mächtig, dass sie trotz der schweren Repressionsmaßnahmen die Kontrolle über die wichtigsten Stadtverwaltungen bei den Gemeindewahlen vom Juni 1990 und den größten Stimmenanteil bei den Parlamentswahlen vom Dezember 1991 errang. Das algerische Militär annullierte die Wahlen, um eine Regierungsbildung durch die Islamisten zu verhindern. Es ließ sich aber dadurch nicht verhindern, dass die massive Unterstützung für die Islamisten bürgerkriegsähnliche Bedingungen im Land hervorrief, als ganze Landstriche effektiv unter die Kontrolle bewaffneter islamistischer Gruppierungen gerieten.
Mit der Zunahme des islamistischen Einflusses wurde es aber zunehmend unklar, wofür die FIS eigentlich eintrat. Von Juni 1990 bis Mai 1991, die Zeit, als die FIS die wichtigsten Stadtverwaltungen kontrollierte, waren
die Veränderungen, die sie bewirkte, bescheiden: es wurden Lokale geschlossen, musikalische Veranstaltungen abgesetzt, teils gewalttätige Kampagnen organisiert für „weiblichen Anstand“ und gegen die allgegenwärtigen Satellitenschüsseln, die den „Empfang westlicher Pornografie ermöglichen“ ... Weder Madani [der bekannteste Führer der FIS] noch die beratende Versammlung der FIS entwarfen ein wirkliches politisch-soziales Programm oder beriefen einen Kongress ein, um ein solches zu diskutieren. Madani beschränkte sich auf die Aussage, dieser würde nach seiner Regierungsbildung zusammentreten. [80]
Was die FIS allerdings klar zum Ausdruck brachte, war ihre Ablehnung von Arbeiterforderungen nach höheren Löhnen. In jenen Monaten stellte sie sich gegen den Müllarbeiterstreik in Algiers, gegen einen Beamtenstreik und gegen einen von der ehemals „offiziellen“ Gewerkschaftsföderation ausgerufenen eintägigen Generalstreik. Madani rechtfertigte die Niederschlagung des Müllarbeiterstreiks in einem Zeitungsinterview, in dem er sich darüber beschwerte, respektable Menschen wie Ärzte und Ingenieure würden durch ihn gezwungen zum Besen zu greifen:
Die Müllarbeiter haben das Recht zu streiken, aber nicht das Recht, in unsere Hauptstadt einzufallen und unser Land in einen Mülleimer zu verwandeln. Das sind Gewerkschaftsstreiks, die zum Betätigungsfeld für korrupte Elemente, für die Feinde Allahs und des Vaterlands, für Kommunisten und andere geworden sind, die sich überall ausbreiten, weil die FLN-Kader den Rückzug angetreten haben ... Wir erleben wieder die Tage der OAS [eine französische Terrororganisation, die gegen die algerische Unabhängigkeit kämpfte]. [81]
Eine solche anständige Haltung deckte sich ganz gut mit den Interessen jener Klassen, die die Islamisten von der Zeit der Landreform an finanziert hatten. Sie gefiel auch jenen erfolgreichen Mitgliedern des Kleinbürgertums, die Teil der FIS waren – den Professoren, den etablierten Imamen und den Gymnasiallehrern. Und sie fand Anklang bei denen auf dem Lande, die es durch ihre Mitgliedschaft in der ehemals herrschenden FLN zum Wohlstand als erfolgreiche kapitalistische Farmer oder kleine Geschäftsleute gebracht hatten. Sie konnte aber nicht die verarmten städtischen Massen, die die FIS als ihre Rettung ansahen, zufrieden stellen, noch konnte sie die herrschende Klasse und das Militär zwingen, sich zurückzuhalten und eine FIS-Regierung zu dulden.
Angesichts der Drohungen seitens des Militärs, lieber den Wahlprozess sabotieren zu wollen, als einen Sieg der FIS zu riskieren, machten die Führer der FIS Ende Mai 1991 eine Kehrtwendung und „starteten einen authentischen Aufstand, mit Molotow-Cocktails, Tränengas und Barrikaden, der an Oktober 1988 erinnerte. Ali Behadj, der charismatische Imam, schickte Zehntausende Demonstranten auf die Straßen.“ [82] Eine Zeit lang beherrschte die FIS das Stadtzentrum von Algiers, unterstützt von einer riesigen Anzahl junger Menschen, in deren Augen der Islam und der Dschihad die einzigen Alternativen zur Misere einer vom Militär gestützten Gesellschaftsordnung waren.
Jedoch, je mächtiger die FIS wurde, desto mehr geriet sie in den Zwiespalt zwischen Gesetzestreue und Umsturzbestrebungen, zwischen der Aufforderung an die Massen, von Streiks Abstand zu nehmen, wie im März 1991, und ihrem Aufruf, das Regime zu stürzen, gerade zwei Monate später.
Die gleichen Widersprüche plagten die islamistische Bewegung auch in den drei darauffolgenden Jahren, als der Guerillakrieg in den Städten wie auf dem Land an Intensität gewann. „Die Verurteilung von Abasi Madani und Ali Behadj zu 12 Jahren Gefängnis ... führte zu einer entscheidenden Radikalisierung der FIS und einer Fragmentierung ihrer Basis. Die Inhaftierung von Tausenden ihrer Mitglieder und Anhänger in Lagern mitten in der Sahara gab dem städtischen Terrorismus und dem ländlichen Guerillakrieg neuen Auftrieb.“ [83] Zwei bewaffnete Organisationen traten hervor, die Bewaffnete Islamische Bewegung (MIA, kürzlich in AIS umbenannt) und die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), die bald die Unterstützung von bewaffneten Banden im ganzen Land erhielten. „Interne Auseinandersetzungen“ prägten die Untergrundorganisationen [84]:
Entgegen der vermuteten „Mäßigung“ der MIA, die „nur“ die Vertreter des „gottlosen Regimes“ hinrichtet, setzt die GIA auf einen extremen Dschihad, dessen bevorzugte Opfer Journalisten, Schriftsteller, Dichter, Feministinnen und Intellektuelle sind ... und hat seit November 1993 moderate islamische Imame und unverschleierte Frauen getötet ...
Bruderkämpfe zwischen der MIA und der GIA haben Dutzende Opfer gefordert ... der
Tod von sieben Terroristen wird von manchen auf diese Streitigkeiten
zurückgeführt, andere machen die Todesschwadronen der Polizei dafür
verantwortlich ... [85] Die GIA wirft
den historischen Führern der FIS Opportunismus, Verrat und die
Aufgabe ihres Programms einer lückenlosen Anwendung der Scharia vor.
[86]
Die Erfahrung mit dem Islamismus in Ägypten und Algerien zeigt, wie er sich über zwei verschiedene Fragen spalten kann: zum einen in der Frage, ob die mehr oder minder friedliche Reform der bestehenden Gesellschaft oder der bewaffnete Kampf der richtige Weg ist, zum anderen, ob das Kampfziel die Umgestaltung des Staates oder die Bereinigung der Gesellschaft von „Unglaube“ ist.
Die heutige Muslimbruderschaft in Ägypten verfolgt eine am Staat ausgerichtete Reformpolitik. Sie versucht, innerhalb der bestehendenp class="quoteb" Gesellschaft zu arbeiten und ihre eigene Macht zu stärken – als verfassungsmäßige Opposition mit Abgeordneten, einer eigenen Presse, verschiedenen mittelständischen Berufsverbänden unter ihrer Kontrolle, mit Moscheen und islamischen Wohltätigkeitsverbänden, die ihr Einfluss in breiten Teilen der Bevölkerung verschaffen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf Kampagnen für die Übernahme der Scharia ins Gesetzbuch, um der islamischen Frömmigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
Diese Strategie findet scheinbar auch Anklang unter einem Teil der inhaftierten beziehungsweise exilierten FIS-Führung. Anfang 1994 berichtete man von Verhandlungen zwischen ihr und einem Teil des algerischen Regimes zum Zwecke einer Machtteilung und einer teilweisen Einführung der Scharia. So schrieb die Guardian im April 1994, dass Rabah Kebir, ein exilierter Führer der FIS, die Ernennung des „Technokraten“ Redha Malek als neuen Premierminister Algeriens als „positiven Schritt“ begrüßte [87] – gerade zwei Tage, nachdem die FIS die jüngste Vereinbarung zwischen der Regierung und dem IWF verurteilt hatte. [88]
Manche scharfsinnige Kommentatoren sehen in einem solchen Deal das beste Mittel für die algerische Bourgeoisie, der Instabilität ein Ende zu setzen und ihre Stellung zu halten. Juan Goytisolo zum Beispiel vertritt die These, dass sich das Militär eine Menge Ärger hätte ersparen können, wenn es eine Regierungsbildung der FIS nach den Wahlen von 1991 gestattet hätte:
Die Bedingungen, unter denen sie an die Macht gekommen wäre, hätten der Umsetzung ihres Programms höchst effektive Schranken gesetzt. Die Verschuldung Algeriens, seine finanzielle Abhängigkeit von seinen europäischen und japanischen Gläubigern, das wirtschaftliche Chaos und die feindseligen Vorbehalte der Streitkräfte wären eine Hürde gewesen, die eine FIS-Regierung nur schwerlich hätte überspringen können ... Es war durchaus absehbar, dass die FIS ihre Wahlversprechen nicht hätte halten können. Nach einem Jahr an der Regierung, eingezwängt zwischen ihren Feinden, hätte die FIS einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit verloren. [89]
Der „islamistische Reformismus“ deckt sich mit den Bedürfnissen einiger wichtiger sozialer Schichten – der traditionellen Landbesitzer und Kaufleute, der neuen islamischen Bourgeoisie (z. B. Anhänger der Muslimbruderschaft, die Millionen in Saudi Arabien gescheffelt haben) und jenes Teils der neuen islamischen Mittelschichten, der die gesellschaftliche Stufenleiter hinaufgeklettert ist. Er stellt aber nicht die übrigen Schichten zufrieden, die auf den Islamismus gesetzt haben – die Studenten und verarmten Ex-Studenten oder die städtischen Armen. Je mehr die Muslimbruderschaft oder die FIS nach einem Kompromiss Ausschau halten, desto mehr schauen sich diese Schichten nach Alternativen um und betrachten dabei jede Verwässerung der Forderung nach Einführung des Islams der Koranzeit als Verrat.
Ihre Reaktion kann aber unterschiedliche Richtungen einschlagen. Sie kann eine passive Haltung zum Staat und eine Strategie des Rückzugs aus der Gesellschaft beinhalten, die eher die Betonung auf das Predigen und die Reinhaltung der islamischen Minderheit legt als auf Konfrontation. Das war die ursprüngliche Strategie der Shukri-Gruppe in Ägypten Mitte der 1970er Jahre und ist die Herangehensweise mancher radikaler Prediger, die sich der Macht des heutigen Staates bewusst sind.
Oder sie kann in einen bewaffneten Kampf überleiten. Aber genauso wie sich der friedliche Kampf gegen den Staat als ganzen oder aber allein gegen den Unglauben richten kann, so kann auch der bewaffnete Kampf den Sturz des Staates zum Ziel haben oder aber nur bewaffnete Aktionen gegen „die Feinde des Islams“ inmitten der Bevölkerung beinhalten – gegen ethnische und religiöse Minderheiten, unverschleierte Frauen, ausländische Filme, gegen den Einfluss des „Kulturimperialismus“ usw. Man sollte meinen, dass die Logik der Gesamtsituation die Menschen zu der Option des bewaffneten Kampfes gegen den Staat drängt. Es ist aber auch eine mächtige Gegenlogik am Wirken, die ihre Wurzeln in der Klassenzusammensetzung der islamistischen Anhängerschaft hat.
Wie wir gesehen haben, neigen die Anhänger aus den ausbeutenden Klassen ganz natürlich zum reformistischen Flügel des Islamismus. Sogar wenn ihnen keine andere Alternative als der Griff zu den Waffen bleibt, versuchen sie das auf eine Weise zu tun, die die Wahrscheinlichkeit breiter sozialer Unruhen minimiert. Sie ziehen Staatsstreiche Massenaktionen vor. Und wenn diese ohne ihr Zutun dennoch stattfinden, suchen sie nach Wegen, sie möglichst rasch zu beenden.
Das verarmte neue Kleinbürgertum kann viel eher eine Perspektive der bewaffneten Aktion ins Auge fassen. Aber seine eigene gesellschaftliche Randstellung hindert es daran zu sehen, dass sich diese aus Massenkämpfen wie Streiks entwickeln könnte. Statt dessen hält es Ausschau nach Konspirationen von kleinen bewaffneten Gruppierungen – Verschwörungen, die nicht in jene revolutionäre Umwälzung münden, die sich ihre Initiatoren wünschen, auch dann nicht, wenn sie ihre kurzfristigen Ziele erreichen, wie im Falle der Ermordung Sadats. Sie können die bestehende Gesellschaft enorm stören, sie können sie aber nicht revolutionieren.
Diese Erfahrung mussten die Volkstümler in Russland vor 1917 machen. Diese Erfahrung musste auch eine ganze Generation von Studenten und Ex-Studenten überall in der Dritten Welt machen, die sich dem Guevarismus oder Maoismus in den späten 1960er Jahren zugewandt hatten (und deren Nachfolger heute noch auf den Philippinen und in Peru kämpfen). Diese Erfahrung müssen die bewaffneten staatsfeindlichen Islamisten in Ägypten und Algerien heute machen.
Ein Ausweg aus dieser Sackgasse böte sich nur dann, wenn sich die Islamisten auf die nicht an den Rand gedrängten Gruppen unter den städtischen Armen stützen würden – auf die Arbeiter in der mittelständischen und der Großindustrie. Aber die Grundannahmen des Islamismus schließen eine solche Entwicklung aus, denn der Islam, sogar in seiner radikalsten Auslegung, predigt die Rückkehr zu einer Gemeinschaft (Umma), die die Reichen und Armen miteinander versöhnt, er predigt nicht den Sturz der Reichen. So ist das Wirtschaftsprogramm, das die FIS als vorgebliche Alternative zum „westlichen Kapitalismus“ vertritt, nichts anderes als eine Blaupause für „Kleinunternehmer“, die für „lokale Bedürfnisse“ produzieren, es unterscheidet sich kaum von der Wahlpropaganda unzähliger konservativer und liberaler Parteien aus der übrigen Welt. [90] Und ihr Versuch im Sommer 1990, „islamische Gewerkschaften“ zu gründen, legte die Betonung auf die „Pflichten der Arbeiter“, weil das alte Regime ihnen zu viele Rechte eingeräumt und die „Arbeiter ans Nichtstun gewöhnt“ habe. Der Klassenkampf, behauptet sie, „existiert nicht im Islam“, denn die heiligen Schriften reden nicht davon. Was Not tut, ist, dass der Arbeitgeber seine Arbeiter so behandelt, wie der Koran es vorschreibt, wie die Gläubigen ihre Haussklaven behandeln sollen – als „Brüder“. [91]
Es ist daher kaum verwunderlich, wenn es die islamistischen Gruppen nirgendwo geschafft haben, in den Fabriken eine Basis aufzubauen, die auch nur ein Zehntel so groß ist wie ihre Basis in den Stadtvierteln. Aber ohne diese Basis können sie nicht eigenständig die Richtung der sozialen Veränderung bestimmen, auch dann nicht, wenn es ihnen gelingt, den Zusammenbruch des bestehenden Regimes herbeizuführen. Die am Rande der Gesellschaft können gelegentlich eine große Krise innerhalb eines bereits instabilen Regimes auslösen. Sie können aber den Ausgang dieser Krise nicht bestimmen.
Die islamistischen Gruppen mögen eine solche Krise in einem der bestehenden Regimes provozieren und dessen Führer verdrängen können. Sie werden aber am Ende nicht verhindern können, dass die herrschende Klasse, die unter eben diesen Führern gediehen ist, zwecks Machterhalt einen Deal mit den weniger militanten Islamisten schließt. Und bis es zu einer solchen allumfassenden Krise kommt, werden die militanten Islamisten einen enormen Blutzoll an den Staat zu entrichten haben.
Es ist dieser staatliche Druck, der manche Militante dazu bringt, von einer direkten Herausforderung des Regimes abzusehen und sich der leichteren Aufgabe zu widmen, „Ungläubige“ und Minderheiten zu bekämpfen – eine Vorgehensweise, die sie wiederum näher an die „moderaten“ reformistischen Islamisten heranführen kann.
Hier ist eine gewisse Dialektik innerhalb des Islamismus am Wirken. Militante, staatsfeindliche Islamisten, die die Rechnung für den erfolglosen bewaffneten Kampf zahlen müssen, lernen auf die harte Tour, den Kopf einzuziehen und lieber den Kampf um die Durchsetzung islamischer Gebote aufzunehmen, sei es ganz unmittelbar oder über den Umweg des islamischen Reformismus. Aber weder die Durchsetzung islamischer Gebote noch der Weg der Reformen bietet der enormen Unzufriedenheit der sozialen Schichten, die auf den Islamismus schauen, eine Antwort. Und so entstehen ständig neue Generationen von Militanten, die sich abspalten und den Weg der bewaffneten Aktion einschlagen, bis auch sie die ernüchternde Erfahrung von der Beschränktheit bewaffneter Aktionen machen, die von einer aktiven sozialen Basis losgelöst sind.
Es gibt keinen automatischen Übergang von der Einsicht in die
Unzulänglichkeit des islamischen Reformismus hin zu einer
revolutionären Politik. Vielmehr leitet die Beschränktheit des
Reformismus über zum Terrorismus und Guerillaismus von Gruppen, die
ohne Massenbasis zu agieren versuchen, oder zu reaktionären
Angriffen auf Sündenböcke für die Übel des Systems. Und da sich
jede dieser Herangehensweisen der gleichen religiösen Sprache
bedient, gibt es oft Überschneidungen. Menschen, die das Regime und
den Imperialismus ernsthaft herausfordern wollen, greifen die Kopten,
die Berber oder unverschleierte Frauen an. Menschen, die einen
instinktiven Hass gegen das System spüren, geraten in die Falle,
Verhandlungen über die Einführung der Scharia durch den Staat
aufnehmen zu wollen. Und die rivalisierenden Gruppen konkurrieren
miteinander – gelegentlich so erbittert, dass sie dazu übergehen,
sich gegenseitig als „Apostaten“ (Renegaten des wahren Islams)
umzubringen. Diese Spaltungen werden auf eine Weise ausgedrückt, die
die wirklichen, tiefer liegenden sozialen Ursachen verdeckt: Wenn ein
Islamist mit gesellschaftlichen Ambitionen dem Kampf den Rücken
kehrt, beweise das lediglich, dass er persönlich ein „schlechter
Moslem“ (oder gar Apostat) ist, es beweise nicht, dass ein anderer,
aufrechter Islamist nicht guter „Moslem“ sein kann.
Das islamische Regime im Iran beherrscht die Diskussionen über die islamische Erneuerung, ähnlich wie die Taten des Stalinismus die Diskussion über den Sozialismus dominieren. Und oft werden, auch auf der Linken, ähnliche Schlussfolgerungen gezogen. Islamisten werden, wie einst die Stalinisten, als die gefährlichsten aller politischen Kräfte angesehen, die fähig seien, einen Totalitarismus aufzuzwingen, der jeglichen weiteren Fortschritt im Keim ersticken kann. Um das zu verhindern, müssen sich die Linken mit den liberalen Teilen der Bourgeoisie verbünden [92] oder sogar undemokratische Staaten bei der Unterdrückung von islamistischen Gruppierungen unterstützen. [93] Es ist eine Sichtweise, die die Geschlossenheit des Islamismus überschätzt und ihm die Fähigkeit zuschreibt, historische Ereignisse zu diktieren – eine Fähigkeit, die er in Wirklichkeit gar nicht besitzt. Sie beruht auf einem falschen Verständnis von der Rolle des Islams während und nach der iranischen Revolution von 1979.
Jene Revolution war nicht das Produkt des Islamismus, sondern der enormen Widersprüche, die unter dem Schahregime Mitte bis Ende der 1970er Jahre entstanden waren. Die ökonomische Krise hatte die tiefen Risse zwischen Teilen des mit dem Staat verbundenen modernen Kapitals einerseits und anderen „traditionellen“, um den Basar (auf den zwei Drittel des Großhandels und drei Viertel des Einzelhandels entfielen) gruppierten Teilen andererseits noch weiter vertieft und zugleich die Unzufriedenheit der Masse der Arbeiter und der erst vor kurzem in die Städte eingeströmten Ex-Bauern vergrößert. Den Protesten von Intellektuellen und Studenten schlossen sich bald unzufriedene Teile des Klerus an, und bald umfassten sie auch die städtischen Armen in einer Serie von riesigen Zusammenstößen mit Polizei und Armee. Eine Streikwelle legte die Industrie lahm und brachte die überaus wichtigen Ölfelder zum Stillstand. Dann gelang den linken Fedajin-Guerillas und den linksislamistischen Guerillas der Volksmudschaheddin im Februar 1979, Meutereien auf breiter Front unter den Streitkräften zu initiieren, so dass das alte Regime inmitten des revolutionären Aufschwungs kollabierte.
Ein Großteil der aufsteigenden Bewegung hatte sich mit dem exilierten Islamisten Ayatollah Khomeini identifiziert. Sein Name war schnell zum Symbol aller Opposition gegen die Monarchie und sein Wohnsitz in einem Pariser Vorort zum Treffpunkt der Vertreter der verschiedenen beteiligten Kräfte geworden: der Basaris und des ihnen nahestehenden Klerus, der liberalen bürgerlichen Opposition, der Berufsverbände, der Studenten und sogar der linken Guerillas. Als er im Januar 1979 nach Teheran zurückkehrte, wurde er zur Symbolfigur der Revolution.
Zu diesem Zeitpunkt war er jedoch noch weit davon entfernt, die Ereignisse im Griff zu haben, auch wenn er einen scharfen Sinn für politische Winkelzüge besaß. Die Schlüsselereignisse, die den Sturz des Schahs herbeiführten – die Ausweitung der Streiks, die Meutereien innerhalb der Streitkräfte – passierten gänzlich ohne sein Zutun. Und auch in den Monaten nach der Revolution war Khomeini genauso wenig in der Lage, die revolutionäre Erhebung unter eine einheitliche Autorität zu bringen wie irgendjemand sonst. In den Städten übten verschiedene lokale Komitees (Komitehs) de facto die Macht aus. Die Universitäten befanden sich in den Händen der Linken und der Mudschaheddin. In den Fabriken machten die Schoras (Fabrikräte) dem Management seine Kontrollfunktionen streitig, drängten die, die mit dem Schahregime verbunden waren, raus und übernahmen selbst die Organisation der Produktion. In den von ethnischen Minderheiten besiedelten Regionen – Kurdistan im Nordwesten und Khuzistan im Arabisch sprechenden Südwesten – begannen Bewegungen, um ihre Selbstbestimmung zu kämpfen. Ganz oben beaufsichtigten nicht ein, sondern zwei Machtzentren den ganzen Prozess. Zum einen war dies die provisorische Regierung unter der Leitung Basargans, eines „moderaten“ Islamisten mit Verbindungen zu modernen Sektoren der Bourgeoisie (er hatte die islamischen Studentenorganisationen in den 1950er Jahren und später den Islamischen Ingenieursverband gegründet). Als alternatives Machtzentrum stand zu seiner Seite der von Khomeini ernannte Revolutionsrat, um den herum sich eine Gruppe Geistlicher und islamistischer Intellektueller mit Verbindungen zu den Basars formierte.
Die Gruppe um Khomeini konnte schließlich die beinahe alleinige Macht für sich und die Islamische Republikanische Partei (IRP) sichern. Aber dafür bedurfte es zweieinhalb Jahre der Manöver zwischen verschiedenen sozialen Kräften, denen sie leicht hätte unterliegen können. Während eines Großteils des Jahres 1979 arbeitete sie mit Basargan zusammen beim Versuch, die Fabrik-Schoras und die separatistischen nationalen Bewegungen zu unterdrücken. Sie benutzte ein islamisches Vokabular, um Teile des Lumpenproletariats in Schlägertrupps auf ihrer Seite zu mobilisieren, die sogenannten Hisbollah, die die Linken überfielen, die islamische „Moral“ durchsetzten (beispielsweise gegen Frauen, die sich weigerten, den Schleier zu tragen) und, zusammen mit der Armee, separatistische Revolten niederschlugen. Es gab Fälle brutaler Unterdrückung (ca. 100 Menschen wurden wegen „Sexualdelikte“ wie Homosexualität und Ehebruch hingerichtet, einige linke Aktivisten wurden getötet und protestierende Angehörige der nationalen Minderheiten wurden niedergeschossen). Es war wie bei jedem anderen Versuch, die bürgerliche „Normalität“ nach einer großen revolutionären Erhebung wieder herzustellen. Aber die Gesamtbilanz für die IRP im Frühherbst 1979 war nicht besonders positiv. Einerseits hatten ihre Erfolge bei der Eindämmung der Revolution die Position der Gruppierung um Basargan, mit der sie sich immer heftiger stritt, gestärkt. So eine Studie über Basargans Bewegung:
Ein Jahr nach dem Sturz des Schahs wurde es klar, dass die gebildeten Mittelschichten und die politischen Kräfte, die sie unterstützten [d. h. Basargan] ihren Einfluss rasch ausdehnten und dabei eine beherrschende Rolle in wichtigen Positionen in den Massenmedien, Behörden und besonders in den Bildungseinrichtungen einnehmen konnten ... Mit dem Auseinanderfallen der Einheit der islamischen Kräfte waren die islamischen Komitees nicht mehr in der Lage, die große Mehrheit der Angestellten in diesen Organisationen hinter sich zu versammeln. [94]
Auf der anderen Seite wuchs die Gärung, die drohte, der Kontrolle durch die Khomeini-Gruppe zu entgleiten und ein massives Wachstum sowohl der nicht-religiösen als auch der islamischen Linken zu nähren. Unter den Studenten behielt die Linke trotz der ersten Repressionswelle gegen sie im August 1979 ihre dominierende Stellung. Die von der gleichen Repression erfassten Fabrik-Schoras waren geschwächt, blieben aber vielerorts noch ein weiteres Jahr intakt [95], und die Kampfbereitschaft der Arbeiter war ganz offensichtlich noch vorhanden: 1979/80 gab es 360 „Formen von Streiks, Sit-ins und Besetzungen“, 1980/81 waren es 180 und 1981/82 noch 82. [96]
Der IRP gelang es nur durch eine radikale Kehrtwendung im November 1979, das Ruder wieder an sich zu reißen, indem sie jene Minderheit unter der Studentenschaft, die ihrem Banner und nicht dem der Fedajin oder Volksmudschaheddin folgte, zur Besetzung der US-Botschaft und Festnahme deren Personals als Geiseln organisierte und eine direkte Konfrontation mit der weltweit wichtigsten imperialistischen Macht vom Zaum brach. Eine andere Studie über diese Periode kommt zu folgendem Ergebnis: „Die fundamentalistischen Studenten der ‚islamischen Verbindungen‘, erst Wochen zuvor von ihren Rivalen als Reaktionäre und Fanatiker gebrandmarkt, nahmen auf einmal revolutionäre Allüren an und wurden von großen Menschenmengen bejubelt, jedesmal wenn sie am Tor der Botschaft erschienen und den Reportern Interviews gaben.“ [97]
Diese scheinbar antiimperialistische Wendung ging Hand in Hand mit einer Radikalisierung der IRP-Politik in den Betrieben. Nachdem sie viele der alten Manager zunächst in Schutz genommen hatte, ging sie dazu über, ihre Entfernung zu fordern – allerdings nicht, um den Fabrikräten, sondern „islamischen Managern“ Platz zu machen, die mit den islamischen Räten kollaborieren sollten, aus denen die Linken und die Mudschaheddin als „Ungläubige“ automatisch entfernt wurden.
Diese radikale Wendung verschaffte der IRP eine neue Popularität. Sie schien, den Antiimperialismus in die Tat umzusetzen, den die Gruppe um Basargan während ihrer jahrelangen Opposition gegen den Schah propagiert hatte aber nun, beim Versuch, die Beziehungen zwischen dem Iran und den USA auf eine neue Grundlage zu stellen, zunehmend aufgab. Sie handelte auch im Einklang mit den wichtigsten und populärsten Slogans, wie sie die wachsenden Kräfte sowohl der nicht-religiösen als auch der islamischen Linken in den Monaten nach der Revolution vertraten:
Mit ihrer Bemächtigung der amerikanischen Botschaft wurden die Fundamentalisten einige Sorgen los ... Es bekamen jene Kreise Auftrieb, die freie Hand für die Geistlichen bei der Durchsetzung ihrer Politik und der Übernahme jener zentralen Einrichtungen forderten, in denen die gebildeten Mittelschichten bislang die Schlüsselpositionen besetzten. Mit der Erstürmung der US-Botschaft konnten die der Geistlichkeit loyalen Studenten das Odium der Reaktion abschütteln. Sie wurden auf einmal als führende Revolutionäre angesehen, die nun in der Lage waren, sich der modernistischen und säkularistischen Kräfte ein für alle Mal zu entledigen ... Es war der Beginn eines neuen Bündnisses, in der bestimmte Geistliche mitsamt ihren Verbündeten in den Basaren die führende Rolle inne hatten und breite Teile der unteren Mittelschicht und der unteren städtischen Schichten die Funktionäre stellten. [98]
Die Gruppe um Khomeini gewann nicht nur an Popularität, es gelang ihr auch, ihre soziale Basis wesentlich zu verbreitern, indem sie die alten, „nicht-islamischen“ Manager und Funktionäre verdrängte oder zumindest damit drohte. In der Industrie, in den Medien, in den Streitkräften und der Polizei griff eine neue Schicht von Menschen zu den Machthebeln. Ihre Karrieren hingen von ihrer Fähigkeit ab, für Khomeinis Auslegung des Islamismus zu agitieren. Und auch die Überlebenden aus den alten Hierarchien waren eifrig dabei, durch ihre Unterstützung für die IRP-Linie ihren islamischen Leumund unter Beweis zu stellen.
Es war der Gruppe um Khomeini gelungen, breite Teile der Mittelschichten – sowohl das traditionelle, in den Basaren angesiedelte Kleinbürgertum als auch Teile einer neuen Generation von Mittelständlern – im Kampf um die Kontrolle über die Machthierarchien auf ihre Seite zu ziehen. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg lag in ihrer Fähigkeit, Menschen auf allen Stufen der Gesellschaft die Gelegenheit zu geben, religiösen Eifer mit persönlichem Fortkommen zu verbinden. So konnte der stellvertretende Manager einer bisher im ausländischen Besitz befindlichen und nunmehr verstaatlichten Firma deren Leitung übernehmen und dabei das Gefühl haben, er käme seiner religiösen Pflicht nach, der Gemeinschaft (Umma) zu dienen. Einer aus dem Lumpenproletariat konnte sein bisheriges armseliges Dasein gegen materielle Sicherheit und das Gefühl der Selbstverwirklichung eintauschen, indem er eine Hisbollah-Bande anführte, um die Gesellschaft von „Unsittlichkeit“ und „ungläubigen Kommunisten“ zu säubern.
Die Aufstiegschancen, die sich für jene auftaten, die auf Khomeini-Linie einschwenkten, waren riesig. Der Exodus einheimischer und ausländischer Manager und Techniker in den Anfangsmonaten der revolutionären Erhebung hatte 130.000 offene Stellen hinterlassen. [99] Die Säuberung, der „nicht-islamische“ Manager, Funktionäre und Armeeoffiziere zum Opfer fielen, erhöhte diese Zahl noch ganz erheblich.
Das Interessante an der Methode, mit der die Gruppe um Khomeini ihre Gegner entfernte und ein Einparteiensystem etablierte, ist, dass an ihr nichts spezifisch Islamistisches ist. Sie zeugt nicht von einem „irrationalen“ oder „mittelalterlichen“ Wesen des „islamischen Fundamentalismus“, wie es viele Menschen einem nahelegen, die über die religiöse Intoleranz des Regimes entsetzt sind. Es ist vielmehr die Methode von allen Parteien auf der Welt, die sich auf Teile des Kleinbürgertums stützen. Zu dieser Methode griffen beispielsweise die schwachen kommunistischen Parteien in großen Teilen Osteuropas, um ihre Herrschaft nach 1945 zu errichten. [100] Den Prototyp des Kleinbürgers, der ideologischen Eifer mit persönlichem Vorteil verbindet, liefert Balzac in seinem Père Goriot – jenem strengen Jakobiner, der zu Geld kommt, indem er den allgemeinen Mangel infolge der revolutionären Erhebung für sich ausnutzt.
Eine politische Partei, die das Ziel hat, den Kampf eines Teiles des Kleinbürgertums um Posten zu organisieren, kann nicht unter beliebigen Umständen die Macht ergreifen. Die meisten Versuche dieser Art sind kläglich gescheitert, weil die kleinbürgerlichen Formationen ohne – dann auch schwer kontrollierbare – Mobilisierung der breiten Massen zu schwach sind, um die Macht der alten herrschenden Klasse herausfordern zu können. So blieben die Versuche der Kommunistischen Partei während der portugiesischen Revolution von 1974/75, sich in die Machtpositionen einzuschleichen, im Sande stecken. Der von den wichtigsten kapitalistischen Westmächten koordinierte Widerstand auf der einen und die erstarkende Arbeitermilitanz von unten auf der anderen Seite hatten ihre Pläne durchkreuzt. Solche Versuche können nur gelingen, wenn, aus ganz spezifischen historischen Gründen, die Hauptklassen gelähmt sind.
Wie es Tony Cliff in einem wichtigen Beitrag zur marxistischen Analyse formulierte: Wenn die alte herrschende Klasse angesichts der Wirtschaftskrise und des Ansturms von unten zu schwach ist, die Macht zu behalten, und die Arbeiterklasse zugleich keine unabhängige politische Organisation besitzt, die es ihr erlauben würde, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, dann können Teile der Intelligenz nach der Macht greifen mit dem Gefühl, dass die Aufgabe, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, ihnen zufällt:
Die Intelligenz ist empfindlich für die technische Rückständigkeit ihres Landes. Sie nimmt an der technischen und wissenschaftlichen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts Anteil und wird von der Rückständigkeit der eigenen Nation umso mehr bedrückt. Dieses Empfinden wird noch verstärkt durch die „Intellektuellen-Arbeitslosigkeit“, die in vielen dieser Länder grassiert. Vor dem Hintergrund der allgemeinen wirtschaftlichen Rückständigkeit bleibt den meisten Studenten als einzige Hoffnung eine Anstellung im Staatsdienst, aber es gibt nicht einmal annähernd genug Stellen für alle.
Auch das geistige Leben der Intelligenz steckt in der Krise. In einer auseinanderbrechenden Gesellschaftsordnung, in der sich alle traditionellen Muster auflösen, fühlen sie sich verunsichert, entwurzelt, ohne klare Wertvorstellungen.
Zerfallende Kulturen lassen ein mächtiges Verlangen nach neuer Integration entstehen, die allumfassend und dynamisch sein muss, wenn sie das soziale und spirituelle Vakuum füllen soll, und religiösen Eifer mit militanten Nationalismus verbinden muss ... Die Intelligenz ist auf der Suche nach einer dynamischen Bewegung, die die Nation vereinigt und neue Horizonte eröffnet, ihr zugleich aber die Macht in die Hände spielt ...
Sie hofft auf Reformen von oben und würde liebend gerne die neue Welt einem dankbaren Volk übergeben, viel lieber, als den Befreiungskampf eines selbstbewussten und freiwillig zusammengeschlossenen Volkes erleben zu müssen, das eine neue Welt für sich selbst erobert. Sie ist sehr um Maßnahmen bemüht, die ihre Nation aus der Stagnation reißen, viel weniger um Demokratie ... All das macht einen totalitären Staatskapitalismus für Intellektuelle sehr attraktiv. [101]
Obwohl sich diese Worte auf die Anziehungskraft des Stalinismus, Maoismus und Castroismus in Ländern der Dritten Welt beziehen, passen sie auch ganz gut auf die islamistische Intelligenz um Khomeini. Sie war nicht, wie viele linke Kommentatoren irrtümlicherweise geglaubt haben, einfach Ausdruck eines „rückständigen“, auf den Basaren gründenden, traditionellen, „parasitären“ „Handelskapitals“. [102] Sie war auch nicht bloß Ausdruck einer klassischen bürgerlichen Konterrevolution. [103] Sie unternahm die revolutionäre Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Kapitalkontrollen im Iran, übertrug große Kapitaleinheiten, die im Besitz einer Gruppe um den Schah waren, auf den Staat oder auf von ihr selbst kontrollierte parastaatliche Körperschaften – alles ganz selbstverständlich im Interesse der „Unterdrückten“, wobei sie wohlweislich die neue Stiftung, auf die das Wirtschaftsimperium des Schahs übertragen wurde, „Mustafazin“ (Unterdrückte) taufte. Bei aller Umgestaltung rührte sie die grundlegenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse allerdings nicht an. Dazu Bayat:
Die Machtergreifung durch den Klerus spiegelte das Machtvakuum im nachrevolutionären Iran wider. Weder das Proletariat noch die Bourgeoisie konnten die politische Hegemonie erlangen. Der Grund für ihr Unvermögen ist in ihrer historischen Entwicklung zu finden, die von der Schwäche beider zeugt. [104]
Um nochmals Cliff über die Intelligenz in Ländern der Dritten Welt zu zitieren: „Ihre Macht steht im direkten Verhältnis zu der Schwäche und der politischen Ohnmacht der anderen Klassen.“ [105]
Eben weil die Khomeini-Gruppe zur Erweiterung ihrer Kontrolle über den Staat und einen Teil der Wirtschaft zwischen den wichtigsten sozialen Klassen balancieren musste, musste sie zunächst die linken und danach die etablierten bürgerlichen Organisationen (Basargan usw.) schlagen, bevor sie die eigene Macht stabilisieren konnte. 1979 bedeutete dies Kooperation mit Basargan gegen die Linke, um die revolutionäre Welle zu bändigen, dann zur Zeit der Botschaftsbesetzung ein teilweises Entgegenkommen den Linken gegenüber, um die etablierte Bourgeoisie zu isolieren. Während der 1980er Jahre folgten weitere Schwenks, als sie einer anderen islamistischen Persönlichkeit mit Verbindungen zur etablierten Bourgeoisie, Bani Sadr, erlaubte, das Präsidentenamt zu bekleiden, um mit ihm gemeinsam die Bastion der Linken an den Universitäten zu zerschlagen. Als die IRP den Vorschlag unterbreitete, die islamischen Banden, die Hisbollah, in die Universitäten zu schicken, um sie von „unislamischen Elementen“ zu säubern, stimmte Bani Sadr bereitwillig zu:
Sowohl die IRP-Führung als auch die Liberalen billigten die Idee einer Kulturrevolution durch die direkte Aktion des Volkes, das zum Marsch auf Universitätscampus mobilisiert wurde ... Die Liberalen verbanden damit die Hoffnung, die linken Agitatoren in den öffentlichen Einrichtungen, den Betrieben und auf dem Lande los zu werden, damit das Land zu ökonomischer und politischer Stabilität zurückfinden könne ...
Die Hisbollah-Banden marschierten in die Universitäten ein, verletzten und töteten Mitglieder politischer Gruppierungen, die sich der Kulturrevolution widersetzten, verbrannten Bücher und Zeitungen, die in ihren Augen „unislamisch“ waren. Die Regierung schloss alle Universitäten und Hochschulen für drei Jahre, während der die Lehrpläne umgeschrieben wurden. [106]
Aber sogar in dieser Zeit hielt die Khomeini-Fraktion einen Teil ihres „linken“ Images aufrecht und verwendete eine antiimperialistische Sprache, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Sie verteidigte energisch den Kampf um „islamische Werte“ als zentralen Bestandteil des Kampfes gegen den „Kulturimperialismus“ – die Linke, die sie sich dem widersetzte, arbeite ja in Wirklichkeit für den Imperialismus.
Externe Ereignisse verliehen diesen Argumenten eine gewisse Glaubwürdigkeit. Während dieser Monate misslang der Versuch der US-Amerikaner, ihre Botschaft wieder einzunehmen, als sie Militärhubschrauber ins Land schickten (die dann in der Wüste zusammenprallten), Schiiten demonstrierten gegen die Regierung von Bahrain, es gab Khomeini-freundliche Straßenunruhen in der erdölreichen saudi-arabischen Provinz von Hasa, bewaffnete sunnitische Islamisten besetzten die Große Moschee in Mekka und Saddam Hussein versuchte, sich durch den Einmarsch in den Iran die Gunst der USA und der Scheichtümer am Golf zu sichern.
Die Khomeini-Fraktion konnte mit Recht verkünden, dass die Revolution seitens mit dem Imperialismus verbündeter Kräfte unter Beschuss stand, hatte allerdings Unrecht mit ihrer Behauptung, sie allein sei imstande, sie zu verteidigen. Es überrascht daher nicht, wenn Khomeini selbst den irakischen Angriff ein „Geschenk Gottes“ nannte. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Mobilmachung gegen die einmarschierenden feindlichen Kräfte im Winter 1980/81 konnten seine Anhänger die Erweiterung ihrer Machtbefugnisse auf Kosten sowohl der Linken als auch der Gruppe um Bani Sadr rechtfertigen, bis sie schließlich im Juni/Juli 1981 beide endgültig zerschlagen und eine beinahe totalitäre Struktur etablieren konnten.
Warum aber konnte die Linke mit dem Aufstieg der IRP nicht fertig werden? Rückblickend wird oft angeführt, der Fehler läge im Versagen der Linken, rechtzeitig die Notwendigkeit eines Bündnisses mit der „progressiven“, „liberalen“ Bourgeoisie einzusehen. Das ist das Argument von Halliday. [107] Wie wir aber bereits gesehen haben, hatte sich die liberale Bourgeoisie unter Basargan und später unter Bani Sadr in der Kampagne gegen die Schoras in den Betrieben und zur Säuberung der Universitäten mit Khomeini verbündet. Was sie voneinander trennte, war die Frage, wer die Früchte eines Sieges über die Linke einheimsen sollte. Erst ab dem Moment, als Bani Sadr entdeckte, dass er den kürzeren gezogen hatte, schloss er sich den linken Islamisten der Volksmudschaheddin an und beteiligte sich an ihrem misslungenen Versuch, das Regime zu stürzen (während Basargan interessanterweise vor diesem Schritt zurückschreckte und seine Partei ihre legale aber wirkungslose Existenz fortsetzte).
Die Khomeini-Fraktion konnte den angeblich „liberalen“ Teil der Bourgeoisie ausmanövrieren, indem sie nach der Zerschlagung der Linken und mit Hilfe ihrer antiimperialistischen Rhetorik Teile der städtischen Armen gegen die etablierte Bourgeoisie mobilisierte. Es gelang ihr, die offenkundige Kluft zwischen dem miserablen Leben der Massen und dem „unislamischen“ Lebensstil der Wohlhabenden für sich auszunutzen. Die Linke hätte diesem Manöver nicht dadurch widerstehen können, dass sie sich auf die Seite der wohlhabenden, westlich orientierten Bourgeoisie geschlagen hätte.
Der Schlüssel dazu, wie man der Gefolgschaft Khomeinis den Boden unter den Füßen hätte entziehen können, lag in der aktiven, kämpferischen Mobilisierung der Arbeiter für ihre eigenen Interessen. Nur so hätte man den „liberalen“ Teil der Bourgeoisie als auch die IRP in die Defensive drängen können.
Arbeiterkämpfe spielten eine zentrale Rolle beim Sturz des Schahs, und auch anschließend gab es heftige Auseinandersetzungen in den großen Betrieben zwischen den Fabrikräten und dem Management. Allerdings, nach dem Abgang des Schahs gingen sie nur selten über die einzelne Fabrik hinaus, sie waren nicht Teil eines Wettstreits um die Führung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Die Fabrikräte entwickelten sich zu keinem Zeitpunkt zu Arbeiterräten nach dem Muster der Sowjets in Russland 1905 und 1917. [108] Und wegen dieses Versagens gelang es ihnen nicht, die Masse der Gelegenheitsarbeiter, kleinen Selbständigen, Handwerker und verarmten Händler – das Lumpenproletariat – auf ihre Seite zu ziehen. Statt dessen überließen sie sie den Khomeinileuten, die sie unter religiösen Losungen gegen die Linke mobilisieren konnten.
Diese Schwäche der Arbeiterbewegung ist teilweise objektiven Faktoren geschuldet. Es gab eine Trennung innerhalb der Arbeiterklasse zwischen dem modernen Sektor der Großbetriebe und dem traditionellen Sektor der kleinen Arbeitsstätten (die nicht selten direkt von ihren Besitzern zusammen mit ihren Familienangehörigen betrieben wurden). Die Arbeiterviertel waren zahlenmäßig oft von den verarmten Teilen des Kleinbürgertums dominiert: Es gab 750.000 „Kaufleute, Zwischen- und Kleinhändler“ in Teheran gegenüber 400.000 Arbeitern in den großen Industrieunternehmen. [109] Eine große Anzahl von Arbeitern war erst seit kurzem in der Industrie tätig und war wenig vertraut mit der Tradition des gewerkschaftlichen Kampfes – 80 Prozent stammten vom Land, und Jahr für Jahr strömten weitere 330.000 Ex-Bauern in die Städte. [110] Nur ein Drittel konnte richtig lesen und schreiben und so die linke Presse lesen, 80 Prozent hatten dagegen einen Fernseher. Schließlich sorgte das schiere Ausmaß der Unterdrückung unter dem Schah dafür, dass sich die Zahl der verankerten Aktivisten in den Arbeitsstätten klein hielt.
Aber die Unfähigkeit der Arbeiterbewegung, die Führung einer breiteren Massenbewegung zu übernehmen, ist nicht allein objektiven Faktoren zuzuschreiben. Sie war zugleich das Ergebnis des politischen Versagens der beträchtlichen linken Kräfte, die in den Monaten nach der Revolution durchaus präsent waren. Die Fedajin und Volksmudschaheddin brüsteten sich, Versammlungen mit mehreren Tausenden von Teilnehmern abzuhalten, und bei den Wahlen im Frühjahr 1980 entfiel ein Viertel aller in Teheran abgegebenen Stimmen auf die Mudschaheddin. Die Fedajin und Mudschaheddin standen aber in der Guerilla-Tradition und entfalteten kaum Aktivitäten um die Fabriken. Ihre Hauptstützpunkte waren die Universitäten, nicht die Industriegebiete. So hatten die Volksmudschaheddin fünf Aktivitäts„fronten“: eine Untergrundorganisation zur Vorbereitung des „bewaffneten Kampfes“, eine Frauenfront, eine Jugendfront, eine Basari-Front und, offensichtlich nicht an oberster Stelle auf ihrer Prioritätenliste, eine Arbeiterfront.
Was noch schwerer wog, die großen linken Organisationen hatten wenig zu bieten, sogar wenn sich ihnen Arbeiteraktivisten anschlossen. In den entscheidenden ersten acht Monaten der Revolution übten sie nur eine sehr verhaltene Kritik am Regime, die sich im wesentlichen auf dessen Versagen, den Imperialismus herauszufordern, beschränkte. Die Volksmudschaheddin beispielsweise ...
hielten sich peinlich genau an ihre Linie, jeglicher Konfrontation mit der klerikalen Schattenregierung aus dem Weg zu gehen. Ende Februar, als die Fedajin eine Demonstration mit über 80.000 Teilnehmern an der Teheraner Universität mit der Forderung nach einer Landreform, einem Ende der Pressezensur und der Auflösung der Streitkräfte organisierten, blieben die Mudschaheddin fern. Und Anfang März, als westlich gebildete Frauen den Internationalen Frauentag mit einer Demonstration gegen Khomeinis Dekrete zur Aufhebung des Familienschutzgesetzes, zum zwangsweisen Tragen der Schleier in Regierungsämtern und zum Verdrängen des „weniger unbefangenen Geschlechts“ aus der Justiz begehen wollten, warnten die Mudschaheddin, dass „der Imperialismus solche spalterischen Fragen ausnützte“. Ende März, als Schlagstock schwingende Eiferer die Büros der antiklerikalen Zeitung „Ayandegan“ überfielen, sagten die Mudschaheddin nichts. Sie lehnten einen Boykott der Volksabstimmung über die islamische Republik und über den kurdischen Kampf um Autonomie ab. Wenn die Nation nicht geschlossen hinter Imam Khomeini stehe, so argumentierten die Mudschaheddin, wären die Imperialisten versucht, das Szenario von 1953 zu wiederholen. [111]
Im August schwiegen die Mudschaheddin, als bewaffnete Banden die Büros der Fedajin überfielen, und sie vermieden es, IRP-Kandidaten bei den Wahlen zur Expertenkammer 1979 herauszufordern.
Nach der Besetzung der amerikanischen Botschaft übte die Linke noch weniger Kritik an Khomeini aus als zuvor. Khomeini
gelang es, die linke Opposition vollständig zu spalten. Khomeini erklärte nun, dass alle in den Fabriken, bei den Frauen und den nationalen Minderheiten entstehenden Probleme die Schuld des US-Imperialismus seien. Der US-Imperialismus sei es, der in Kurdistan, in Tabriz, Turkmansahra und Khuzistan gegen die Zentralregierung kämpfte. Frauen, die sich den islamischen Gesetzen widersetzten, seien imperialistische Agenten.
Die Tudeh-Partei schwenkte auf Khomeinis Linie ein und unterstützte seine Politik. Die größten linken Organisationen – die Fedajin, die Mudschaheddin und die Peykar – wandten sich ebenfalls vom Kampf ab und ließen die militanten Arbeiter, die Frauen und die nationalen Minderheiten, unter denen sie doch eine nicht unbedeutende Präsenz besaßen, im Stich. [112]
Die pro-russische, kommunistische Tudeh-Partei und die Fedajin-Mehrheit unterstützten Khomeini so lange, bis er schließlich 1982 seine Macht vollständig konsolidiert hatte, worauf er gegen sie losschlug.
In dieser Zeit machte die Linke einen Fehler nach dem anderen. Während die Fedajin-Mehrheit nach der Besetzung der US-Botschaft jegliche Kritik am Regime fallen ließ, schlugen die Volksmudschaheddin schließlich die entgegengesetzte Richtung ein und traten gegen Ende 1980 in die offene Opposition zum Regime (nach dessen Angriffe auf ihre Anhänger an den Universitäten). Aber ihre Guerillastrategie verleitete sie dazu, sich unmittelbar dem Regime auszuliefern, als sie sich mit Bani Sadr verbündeten und sich in einen direkten Machtkampf stürzten, der in den Tageskämpfen der Massen überhaupt nicht verwurzelt war. Als Massendemonstrationen nicht zum Sturz des Regimes führten, flüchteten ihre Führer ins Exil, während ihre Untergrundaktivisten Attentate auf Schlüsselfiguren des Regimes verübten: „Der Sprengstoffanschlag auf die IRP-Zentrale im Juni 1981, in dem Ayatollah Beheshti [IRP-Vorsitzender] und viele andere Kader und Führer der IRP den Tod fanden, lieferte der Ulama [d. h. dem Klerus] den Vorwand, einen in der neueren Geschichte Irans bisher nicht bekannten Terror gegen die Opposition loszutreten.“ [113]
Die Linke verbündete sich mit einem Vertreter der etablierten Bourgeoisie in einer Attentatskampagne gegen Persönlichkeiten, die in den Augen der großen Masse eine antiimperialistische Rolle spielten. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn sich das verarmte Kleinbürgertum und die Lumpenschläger der IRP mit dem Sturm ihrer Führer auf die Linke identifizierten. Diese Führer hatten leichtes Spiel, das Bild einer Linken zu zeichnen, die mit den imperialistischen Gegnern der Revolution zusammenarbeitete – ein Argument, das ein paar Jahre später noch glaubwürdiger klang, als sich die Volksmudschaheddin am Angriff der irakischen Armee gegen den Iran beteiligten.
In Wirklichkeit wiederholten die Mudschaheddin alle Fehler, die für das radikale Neukleinbürgertum in vielen Ländern der Dritten Welt typisch sind. In seinen Augen hängt der politische Kampf von den Anstrengungen einer Minderheit ab, die als „Vorhut“ und getrennt vom Kampf der Massen handelt. Der Kampf um die Macht wird auf den bewaffneten Staatsstreich einerseits und auf Bündnisse mit den bestehenden bürgerlichen Kräften andererseits reduziert. Es kann nicht überraschen, wenn unter einer solchen „Führung“ auch die radikalsten Arbeiter es nicht schafften, die militanten Kämpfe in den einzelnen Fabriken zu einer Bewegung auszubauen, die die Masse der städtischen Armen und Bauern hinter sich hätte vereinen können. Das so entstandene Vakuum konnte die IRP füllen.
Nicht alle Linken waren so schlimm wie die Mudschaheddin, die Fedajin-Mehrheit oder die Tudeh-Partei. Diese Organisationen waren aber die Hauptkräfte, auf die alle schauten, die die revolutionäre Erfahrung radikalisiert hatte. Ihre Versäumnisse machten es der Khomeini-Gruppe wesentlich einfacher, die Initiative zu behalten und einen geschwächten Staat in ein blutiges Repressionsinstrument zu verwandeln.
Aber auch jene Kräfte auf der Linken, die die Fehler der Mudschaheddin, der Fedajin und der Tudeh-Partei vermieden, machten ihre eigenen Fehler. Sie alle waren in einer stalinistischen oder maoistischen Tradition aufgewachsen, die sie dazu verleitete, nach einer „progressiven“ Sektion der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums Ausschau zu halten, die den Kampf anführen sollte. Sobald sie der Meinung waren, eine bestimmte Bewegung vertrete das „progressive“ oder antiimperialistische Kleinbürgertum, mäßigten sie jede Kritik an ihr. Und umgekehrt, wenn sie der Meinung waren, eine Bewegung vertrete nicht das „progressive Kleinbürgertum“, zogen sie daraus den Schluss, dass diese niemals und unter keinen Umständen in Konflikt mit dem Imperialismus geraten könne. Sie verstanden nicht, dass in Ländern der Dritten Welt bürgerliche und kleinbürgerliche Führer mit pro-kapitalistischer Weltanschauung und extrem reaktionären sozialen Einstellungen immer wieder unwillentlich in Konflikte mit dem Imperialismus hineingezogen werden. Das war beispielsweise der Fall mit Kemal Atatürk in der Türkei, Grivas und Makarios in Zypern, Kenyatta in Kenia, Nehru und Gandhi in Indien und neuerdings mit Saddam Hussein im Irak. Das hat sie oft beliebt gemacht auch unter den Menschen, die diese Führer beabsichtigen auszubeuten und zu unterdrücken.
Die Linke kann nicht dagegen steuern, indem sie die bürgerlichen Führer als „progressive, antiimperialistische“ Helden lobt, aber auch nicht, indem sie so tut, als ob deren Konfrontationen mit dem Imperialismus ohne Bedeutung wären. Stattdessen muss die Linke um jeden Preis die eigene politische Unabhängigkeit bewahren, sie darf nicht zurückschrecken vor öffentlicher Kritik an solchen Persönlichkeiten sowohl wegen ihrer Politik im Inneren als auch wegen ihres unweigerlichen Versagens im Kampf gegen den Imperialismus. Dabei muss sie klarstellen, dass sie sich die Niederlage des Imperialismus noch brennender herbeiwünscht als irgendjemand anders.
Leider hüpfte beinahe die gesamte iranische Linke von einer falschen Position zur anderen, um schließlich einen neutralen Standpunkt in den letzten Monaten des ersten Golfkriegs einzunehmen, als die US-Flotte direkt intervenierte, um das Kräftegleichgewicht zuungunsten des Irans zu verschieben. Sie verstand nicht, dass es sehr wohl Wege und Mittel gegeben hätte, einen antiimperialistischen Standpunkt einzunehmen, der zugleich den Kampf gegen das iranische Regime im Inneren gestärkt hätte: offene Kritik an der Weigerung des Regimes, die Reichen für den Krieg zahlen zu lassen; an der barbarischen und ineffektiven Taktik, „menschliche Wellen“ von nur leicht bewaffneter Infanterie in Frontalangriffe gegen schwer bewaffnete irakische Stellungen zu treiben; an dem Unvermögen des Regimes, ein Programm zu entwickeln, um irakische Arbeiter und Minderheiten zu einem Aufstand gegen Saddam Hussein zu ermuntern; an seiner Forderung nach Kriegsentschädigungen, die nur den Sinn haben konnten, die irakische Bevölkerung für die Verbrechen ihrer Führer zahlen zu lassen, usw. Stattdessen nahm die Linke eine Haltung ein, die sie allen Menschen im Iran entfremdete, die sich sehr wohl daran erinnern konnten, was der Imperialismus in der Vergangenheit dem Lande angetan hatte, und die sehen konnten, wozu er alles noch fähig war, bekäme er dazu nur die Gelegenheit.
Der Sieg der Khomeini-Kräfte im Iran war daher nicht zwangsläufig
und beweist nicht, dass der Islamismus eine einzigartige reaktionäre
Kraft ist, um deren Bekämpfung Willen die Linke einen Pakt mit dem
Teufel (bzw. dem Großen Satan) des Imperialismus schließen müsste.
Er bestätigt lediglich die alte Erfahrung, dass, wenn eine
unabhängige Führung aus der Arbeiterklasse fehlt, eine
revolutionäre Erhebung zu verschiedenen Formen der erneuten
Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft unter einem repressiven
und autoritären Einparteienstaat überleiten kann. Die
geheimnisvollen Zutaten zu dieser Mixtur waren nicht der angebliche
„mittelalterliche“ Charakter des Islams, sondern das Vakuum, das
entstanden war, nachdem die linken Organisationen darin versagt
hatten, einer unerfahrenen, aber kämpferischen Arbeiterklasse
Führung zu bieten.
Der Iran ist nicht das einzige Land, in dem die Islamisten die Macht ausgeübt haben. In den letzten Jahren hat sich die Sudanesische Islamische Bruderschaft „Ikhwan al Muslimin“ durch die Nationale Islamische Front (NIF) zu einem entscheidenden Einflussfaktor in der Militärregierung aufgeschwungen.
Die sudanesische Bruderschaft entstand in den 1940er Jahren als Ableger von Bannas Muslimbruderschaft in Ägypten. Sie entwickelte aber ein Eigenleben mit eigenen Lehren, nachdem die Mutterorganisation in den 1950er Jahren durch Nasser aufgerieben worden war. Die Organisation hatte ihren Ursprung an der Khartumer Universität, wo sie mit den Kommunisten um Einfluss unter den Studenten wetteiferte. Deswegen stellte ihre ursprüngliche Führung die radikalen Elemente des Islamismus in den Vordergrund. In den 1960er Jahren gelang es aber der erneuerten Führungsmannschaft unter Hassan al-Turabi, die Organisationsbasis zu erweitern und ihre 2000 Mitglieder starke Stammmitgliedschaft um Abertausende Neuzugänge zu verstärken. „Die Mitgliedschaft diversifizierte sich auch sehr stark dank der Beteiligung der Ulama, von Imanen aus den Moscheen, von Kaufleuten, Sufi-Führern und anderen, wenn auch der Anteil der nichtmodernen gebildeten Elemente an der aktiven Mitgliedschaft klein blieb.“ [114] In den 1980er Jahren wuchs sie noch weiter, wobei die Entstehung eines „islamischen“ Finanzsektors (mit staatlicher Unterstützung) die Sache erleichterte. „Die Beschäftigungspolitik der Islamischen Bank, die religiösen Menschen den Vorzug gab, kam der Ikhwan zugute.“ Die islamischen Institutionen „brachten eine gänzlich neue Klasse von Kaufleuten hervor, die über Nacht reich wurden“, und „bahnten vielen Menschen den Weg zum wirtschaftlichen Aufstieg, die sonst bestenfalls hoffen konnten, leitende Beamte zu werden.“ Die Bruderschaft besaß die islamischen Banken zwar nicht – ihre Finanzierungsquellen waren eine Mischung aus saudischem Geld und einheimischem Kapital. Sie übten dennoch eine enorme Macht aus durch ihre Fähigkeit, „Kredite und andere Formen der Kundenfinanzierung zu beeinflussen“. [115] Das zahlte sich darin aus, dass die Bruderschaft von einigen Neureichen und von Teilen des Staatsapparates unterstützt wurde: „Die Bewegung basierte nach wie vor auf einem harten Kern von Aktivisten, zumeist moderne, gebildete Fachkräfte, aber ein beträchtliches Kontingent von Kaufleuten (oder zu Führungskräften avancierten Fachleuten) nahm eine zunehmend herausragende Stellung ein.“ [116]
Bei den Wahlen von 1986, nach dem Sturz der Numeiri-Diktatur, gewann die NIF, Frontorganisation der Bruderschaft, lediglich 18,5 Prozent der Stimmen, die meisten Stimmen erhielten die traditionellen Parteien. Aber von den 28 Sitzen, für die ausschließlich Universitätsabsolventen Stimmrecht besaßen, entfielen nicht weniger als 23 Sitze auf die NIF und es wurde bald klar, dass sie genügend Unterstützung unter einem Teil der städtischen Mittelschichten genoss, um für Schlüsselfiguren in den Streitkräften als natürliche Verbündete in Frage zu kommen. Ein Staatsstreich 1989 legte die Macht in General Bashirs Hände, die tatsächliche Macht schien aber die NIF innezuhaben. Und seitdem hat sich Khartum zu einem Zentrum der internationalen islamistischen Bewegung entwickelt, einem Anziehungspol für Aktivisten, der es ohne weiteres mit dem rivalisierenden Teheran oder Riad aufnehmen kann.
Der Aufstieg der sudanesischen Bruderschaft zur Macht war jedoch alles andere als gradlinig. Wiederholte Male war sie nahe dran, viele Mitglieder und einen Großteil ihrer Unterstützung zu verlieren. Und ob sie ihre Amtszeit vollenden kann, scheint überhaupt nicht sicher.
Turabi hat versucht, den Einfluss der Bruderschaft zu vergrößern, solange seine Konkurrenten an der Macht waren, indem er unter den Studenten, den Mittelschichten und bis zu einem gewissen Grad unter den Arbeitern agitierte. Zugleich hat er aber jede Gelegenheit zur Regierungsbeteiligung genutzt, um auch innerhalb der staatlichen Hierarchien den Einfluss der Bruderschaft zu festigen. Das erste Mal war das Anfang der 1960er Jahre. Die Agitation der Bruderschaft unter der Studentenschaft trug am Zustandekommen der Oktoberrevolution von 1964, die von Studenten, Fachkräften und Arbeitern getragen wurde, ihren Teil bei. Die Bruderschaft nutzte dann ihre Stellung in der Regierung, um die Welle der Radikalisierung zu dämpfen, und trat für das Verbot der Kommunisten ein, was ihr die Unterstützung einiger der konservativen privilegierten Gruppen einbrachte.
Das gleiche Manöver wiederholte sie ein zweites Mal, nachdem sich General Gaafar al-Numeiri im Mai 1969 an die Macht geputscht hatte. Eine Weile unterdrückte er die Bruderschaft zusammen mit weiteren traditionellen Parteien. Ihre Zeit in der Opposition gab ihr aber die Gelegenheit, den Vertrauensverlust, den sie in der Bevölkerung während ihrer Regierungsbeteiligung erlitten hatte, teilweise wieder wettzumachen, indem sie sich an die Spitze der Agitation um bessere Studienbedingungen setzte und einen (erfolglosen) Studentenaufstand gegen das Regime 1973 anführte. Dann in den späten 1970er Jahren nahm sie das Angebot Numeiris an, sich an einer Regierung der „nationalen Versöhnung“ zu beteiligen. Turabi wurde Generalstaatsanwalt und als solcher „verantwortlich für die Überarbeitung der Gesetzgebung, um sie konform mit der Scharia zu gestalten“. [117] Das war die Zeit, in der die Bruderschaft die Entwicklung des islamischen Finanzwesens nutzte, um bei den Kapitalbesitzern Fuß zu fassen. In dieser Zeit konnte sie auch einige Armeeoffiziere auf ihre Seite ziehen.
Diese Manöver gaben jedoch immer wieder Anlass zu Spannungen innerhalb der Bruderschaft, die die Mitgliederbasis jedes Mal in Mitleidenschaft zu ziehen drohten. Die ursprünglichen Kader der Bruderschaft aus den 1950er Jahren waren gar nicht erfreut über das eifrige Entgegenkommen ihrer Führer gegenüber Teilen der traditionellen Elite und Neureichen. Turabis Methoden schienen nichts gemein zu haben mit der ursprünglichen Vorstellung einer islamischen Avantgarde, die sie als radikale Studenten in den 1940er Jahren vertreten hatten. In ihren Augen war er dabei, die islamischen Ideen zu verwässern, um sich Respektabilität zu verschaffen – besonders, als er Schritte unternahm, Frauen für die Organisation zu gewinnen, für das Frauenwahlrecht eintrat und ein Pamphlet herausbrachte, in dem behauptet wurde, der „wahre“ Islam sollte Frauen die gleichen Rechte wie Männern einräumen. [118] Für die Dissidenten hatte es den Anschein, er würde sich lediglich bei den verweltlichten Mittelschichten Liebkind machen wollen. Hinzu kam, dass Numeiri für sein unislamisches Verhalten berühmtberüchtigt war, besonders für seinen Alkoholkonsum. Eine Gruppe älterer Mitglieder bevorzugte den Radikalismus eines Qutb und spaltete sich schließlich ab, um eine eigene, mit der ägyptischen Muslimbruderschaft verbundene Organisation zu gründen. [119]
Wegen ihrer Kollaboration mit einem zunehmend unbeliebten Regime sah die Bruderschaft, wie ihre Basis zu bröckeln begann. In den frühen 1980er Jahren kam es zu einer allgemeinen Protestwelle gegen Numeiri, zu Studentendemonstrationen 1981/82, einem Eisenbahnerstreik 1982, Meutereien bei den Truppen im Süden 1983 gefolgt von Streiks unter der Ärzte- und Richterschaft. Während dieser Periode war die Bruderschaft die einzige Kraft außerhalb des Regimes, die Numeiri noch unterstützte, und sie musste fürchten, zusammen mit dem Diktator weggespült zu werden.
Hier machte Numeiri seinen letzten Schachzug. Er verkündete die sofortige Übernahme der Scharia ins Gesetzbuch. Der Bruderschaft blieb nichts anderes übrig, als sich hinter ihn zu stellen. Seit über dreißig Jahren war die „Rückkehr zur Scharia“ ihre Lösung für alle Übel des Sudans gewesen. Dies war ihr einziger, einfacher Slogan, der ihre Sorte Reformismus mit den islamischen Traditionen der breiten Bevölkerungsmehrheit außerhalb der städtischen Mittelschichten verband. Und so entfachte sie eine neue Agitationskampagne zur Umsetzung der Scharia gegen den Widerstand der Richter und eines Großteils des Justizapparates. Eine Million Menschen beteiligte sich an der Demonstration der Bruderschaft für die Einberufung einer internationalen Konferenz über die Umsetzung der Scharia, und Muslimbrüder halfen mit, die von Numeiri einberufenen Sondergerichte der Scharia mit ihren Anhängern zu besetzen.
Damit erhöhte sich das Gewicht der Bruderschaft in bestimmten traditionalistischen Kreisen, besonders als die Gerichte einige prominente Persönlichkeiten ins Visier nahmen und ihre Korruption offenlegten. Die Macht, die sie plötzlich innehatte, verstärkte auch ihre Anziehungskraft auf jene im Staatsapparat, die auf Beförderung aus waren. Während die Bruderschaft mit solchen Maßnahmen ihre Beliebtheit unter mancher traditionalistischer Sektion der Bevölkerung und ihren Einfluss unter Staatsträgern erhöhen konnte, machte sie sich damit in anderen Teilen der Bevölkerung zunehmend unbeliebt. Sie störte die Säkularisierer und die Anhänger nicht-islamischer Religionen (die Mehrheit der Bevölkerung im Süden des Landes), ohne die Lebensbedingungen der islamischen Massen wirklich verbessern zu können. Der Mythos der Scharia war der eines neuen Rechtssystems, das allen Ungerechtigkeiten ein Ende bereitete. Das konnte man aber nicht durch irgendeine, bloß gesetzliche Reform erreichen, vor allem nicht unter einem so korrupten und unpopulären Regime. Die einzige Veränderung, die das Gesetz wirklich brachte, war der Rückgriff auf das Strafsystem der Scharia, die Hudud: Amputationen wegen Diebstahls, Steinigung wegen Ehebruchs, usw.
In den 1960er Jahren hatte es die Bruderschaft geschafft, unter der städtischen Intelligenz zu wachsen – teilweise, indem sie diesen Aspekt der Scharia herunterspielte. Die islamische Orthodoxie, die Turabi vertrat, erlaubte es ihm, „die Angelegenheit zu umschiffen mit der Behauptung, die Hudud könne nur in einer idealen islamischen Gesellschaft Anwendung finden, aus der die Not vollständig verbannt worden sei.“ [120] Nun aber war der greifbarste Beweis, dass die Scharia das Gesetzessystem veränderte, eben die Anwendung solcher Bestrafungen. Turabi vollzog eine Kehrtwende um 180 Grad und griff jene an, die behaupteten, „man könne nicht den Menschen eine moralische Einstellung mit gesetzlichen Strafen aufzwingen“. [121]
Hand in Hand mit dem Groll gegen die Scharia-Gerichte ging auch der Groll gegen den islamischen Finanzsektor einher. Mit seiner Hilfe hatten es einige Angehörige der Mittelschichten geschafft, in wichtige Geschäftsbereiche emporzusteigen. Er ließ aber zwangsläufig eine weitaus größere Anzahl von Menschen außen vor:
Die Geschäftswelt und viele Tausende Anwärter, die der Meinung waren, ihnen würden die Früchte des Systems wegen der Ikhwan-Günstlingswirtschaft vorenthalten, entwickelten einen Groll ... Schließlich gehörten Anschuldigungen wegen Ikhwans Missbrauchs des islamischen Bankensystems zum belastendsten Erbe der Numeiri-Ära, womit sie sich in den Augen breiter Bevölkerungsteile diskreditiert hatte. [122]
Das Bündnis, das die Bruderschaft in der Frage der Scharia mit Numeiri geschlossen hatte, zwang sie, alle seine übrigen Missetaten zu entschuldigen – zu einer Zeit, als es eine wachsende Agitation gegen ihn gab. Obwohl Numeiri unter dem Druck der USA und unmittelbar vor dem eigenen Sturz durch einen Volksaufstand schließlich gegen die Bruderschaft vorging, war es für sie zu spät, um mit der Revolution in irgendeiner Weise identifiziert zu werden.
Es gelang ihr jedoch zu überleben und nach nur vier Jahren noch mehr Macht in ihren Händen zu konzentrieren, weil sie den Armeeoffizieren, die mit Numeiri gebrochen hatten, ein einmaliges Angebot machen konnte: Tausende aktive Mitglieder, die bereit waren, sie in ihrem blutigen Bürgerkrieg gegen nicht-muslimische Rebellen im Süden des Landes und bei der Unterdrückung der Unzufriedenheit in den Städten des Nordens zu unterstützen. Die Koalition nicht-religiöser Kräfte, die den Aufstand gegen Numeiri angeführt hatte, war durch ihre gegensätzlichen Klasseninteressen gelähmt. Sie war weder dazu fähig, die allgemeine Unzufriedenheit in einer Bewegung zur endgültigen Umwälzung der Gesellschaft einschließlich einer massiven Umverteilung des Reichtums und des Rechts auf Selbstbestimmung für den Süden zu bündeln, noch sie zu unterdrücken. Das gab der Bruderschaft die Gelegenheit, sich den Armeeoffizieren Zug um Zug als einzige Kraft anzudienen, die für Stabilität sorgen konnte, indem sie eine große Demonstration gegen jegliches Zugeständnis an die Rebellen im Süden organisierte. So kam es, dass das Militär bei einem erneuten Staatsstreich 1989 mit der Bruderschaft zusammenarbeitete, um den anstehenden Friedensabschluss zwischen Regierung und Rebellen zu vereiteln.
Einmal an der Macht kannte die Bruderschaft jedoch nur eine einzige Lösung für die Probleme, vor denen das Regime stand: zunehmend rabiate, religiös verbrämte Repression. Im März 1991 wurde die Scharia wieder eingeführt mitsamt den Hudud-Bestrafungen. Dem Krieg im Süden gesellte sich nun die Repression gegen andere nicht-arabische Gemeinschaften zu, unter anderem gegen die Fur und die Nuba – entgegen Turabis Behauptung während seiner Oppositionszeit, er werde sich jeder Form eines arabisch-nationalistischen Islams widersetzen.
Typisch für die Repression, unter der die Gegner des Krieges im Süden zu leiden haben, sind die Todesurteile vor zwei Jahren gegen eine Gruppe von Menschen in Dafur wegen „Anstiftung zum Krieg gegen den Staat und wegen Waffenbesitzes“. Ein Mann wurde zum Tod durch den Strang verurteilt und seine Leiche sollte öffentlich gekreuzigt werden. [123] Im Vorfeld der Wahlen in den Gewerkschaften und Berufsverbänden wurde von Einschüchterungen, Verhaftungen und Folterungen berichtet. [124] Sogar manche der Traditionalisten, die die Islamisierungskampagne unterstützt hatten, sind jetzt zur Zielscheibe der Unterdrückung geworden. Das Regime hat die Schlinge um die Sufi-Sekten enger gezogen, „deren Predigten, davon gehen wir aus, breite Unzufriedenheit schüren“ [125], und die meisten Menschen geben dem Regime und der Bruderschaft die Schuld für einen Bombenanschlag gegen eine Sufi-Moschee zu Beginn des Jahres, in dem 16 Menschen den Tod fanden.
Die Repression hat dem Regime nicht mehr als eine Verschnaufpause verschafft. Es gab eine Serie von Straßenunruhen in den Städten vor zwei Jahren in Folge von Versorgungsmängeln und Preiserhöhungen. Anfängliche trotzige Gesten gegen den IWF wichen einem Notprogramm der „ökonomischen Liberalisierung“, das „viele zuvor vom Fonds empfohlene Maßnahmen einschließt“ [126] und den Auftakt zur Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem IWF bildete. Die Folge war eine drastische Senkung des Lebensstandards, noch mehr Unzufriedenheit und weitere Unruhen.
Währenddessen hat sich das Regime international von den anderen wichtigen islamischen Regimen isoliert. Die Bruderschaft verscherzte es sich mit dem Iran, als sie im ersten Golfkrieg die Gegenseite unterstützte, und mit Saudi Arabien, als sie sich auf die Seite des Iraks im zweiten Golfkrieg schlug. Vermutlich aus diesem Grund hat sie versucht, sich als Anziehungspol für Islamisten anderswo zu profilieren, die mit diesen beiden Ländern und der ägyptischen Muslimbruderschaft unzufrieden sind – obwohl Turabis eigene Politik dreißig Jahre lang vom Radikalismus, den diese islamistischen Gruppen vertreten, weit entfernt war.
Die sudanesische Bruderschaft selbst steht jedoch unter enormem Druck. „Man munkelt, dass sich die NIF in zwei Teile spalten könnte, dass die Eiferer verdrängt werden und dass die relativ moderate Fraktion Anschluss an die konservativen Flügel der Umma-Partei und der DUP [die zwei wichtigsten traditionellen Parteien] finden könnten. Es gibt Zerwürfnisse zwischen der älteren Generation der NIF, die bereit ist, einen Modus vivendi mit den weltlichen Parteien zu suchen, und den jüngeren, kompromissloseren Eiferern.“ [127]
Ein letzter Aspekt im Fall Sudans verdient Erwähnung. Der
Aufstieg der Bruderschaft zur Macht ist nicht irgendwelchen magischen
Kräften, die sie ihre eigenen nennen könnte, zu verdanken. Der
Grund liegt vielmehr im Versagen anderer politischer Kräfte, einen
Ausweg aus der immer vertrackteren Lage zu weisen, in der das Land
steckt. In den 1950er und 60er Jahren war die Kommunistische Partei
eine stärkere Kraft als die Bruderschaft. Sie konkurrierte mit der
Bruderschaft um Einfluss unter der Studentenschaft und hatte eine
Basis unter Gewerkschaftern in den Städten aufgebaut. 1964 und
wieder 1969 zog sie es aber vor, ihren Einfluss dafür einzusetzen,
sich eine Beteiligung an nicht-revolutionären Regierungen zu
sichern, anstatt ein Programm der revolutionären Umwälzung zu
präsentieren – mit dem Ergebnis, dass sie sofort Ziel von
Repressionen wurde, sobald sich die Welle der revolutionären
Agitation gelegt hatte. Es war vor allem ihre Unterstützung für
Numeiri in seinen ersten Regierungsjahren, die zu einem Einbruch bei
ihrer Basis führte und der Bruderschaft die Gelegenheit gab, an ihr
vorbei die Führung der universitären Agitation zu übernehmen.
Sozialisten machen einen Fehler, wenn sie die islamistischen Bewegungen entweder als per se reaktionär und „faschistisch“ ansehen oder aber als per se „antiimperialistisch“ und „progressiv“. Der radikale Islamismus mit seinem Projekt der Wiedererrichtung einer Gesellschaft nach dem Modell Mohammeds des Arabiens des 7. Jahrhunderts ist in Wirklichkeit eine „Utopie“, die ihre Wurzeln in einer verarmten Sektion der neuen Mittelschicht hat. Wie bei jeder anderen „kleinbürgerlichen Utopie“ [128] müssen sich auch hier ihre Anhänger entscheiden, ob sie sie in einem heldenhaften aber wirkungslosen Kampf gegen den Widerstand der Herrschenden durchsetzen oder aber einen Kompromiss mit ihnen schließen und sich darauf beschränken wollen, die fortdauernde Unterdrückung und Ausbeutung mit einem ideologischen Lack zu übertünchen. Hier liegt die Quelle für die unweigerlichen Spaltungen zwischen dem radikalen, terroristischen Flügel des Islamismus auf der einen und dem reformistischen Flügel auf der anderen Seite. Das ist es auch, was manche Radikale dazu bewegt, ihre Waffen nicht mehr dafür einzusetzen, eine Gesellschaft ohne „Unterdrücker“ herbeizubomben, sondern nur noch dazu, um den Menschen „islamisches“ Verhalten aufzuzwingen.
Als Sozialisten können wir kleinbürgerliche Utopisten nicht als unsere Hauptfeinde betrachten. Sie sind nicht verantwortlich für das System des internationalen Kapitalismus, für die Unterwerfung von Milliarden Menschen unter den blinden Akkumulationstrieb, für die Plünderung ganzer Kontinente durch die Banken oder für die Machenschaften, die uns seit der Verkündigung der „neuen Weltordnung“ eine nicht enden wollende Kette von schrecklichen Kriegen eingebrockt haben. Sie waren nicht verantwortlich für die Schrecken des ersten Golfkriegs, der von Saddam Hussein losgetreten wurde, um die Gunst der USA und der Golfscheichtümer zu gewinnen, und durch die direkte Intervention der USA auf Seiten des Iraks beendet wurde. Sie tragen nicht die Schuld für das Gemetzel im Libanon, wo der Ansturm der Falangisten, die Intervention Syriens gegen die Linke und die Invasion durch Israel den Nährboden für den militanten Schiismus schufen. Sie tragen auch nicht die Schuld für den zweiten Golfkrieg mit seinen „Präzisionsbomben“ auf Krankenhäuser in Bagdad und dem Niedermetzeln eines Trecks von 80.000 Menschen auf der Flucht von Kuwait nach Basra. Armut, Misere, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen gäbe es in Ländern wie Ägypten oder Algerien auch dann noch, wenn die Islamisten alle über Nacht verschwinden würden.
Aus diesen Gründen können sich Sozialisten nicht auf die Seite des Staates gegen die Islamisten schlagen. Diejenigen, die das tun, mit der Begründung, Islamisten bedrohten Werte der Aufklärung, machen es den Islamisten nur einfacher, die Linke als Teil einer „ungläubigen“ „verweltlichten“ Verschwörung der „Unterdrücker“ gegen die verarmten Teile der Gesellschaft zu porträtieren. Sie wiederholen die Fehler der Linken in Algerien und Ägypten, die jene Regimes, die für die Masse der Bevölkerung keinen Finger gerührt hatten, als „fortschrittlich“ bezeichneten – Fehler, die es den Islamisten überhaupt erst ermöglichten zu wachsen. Dabei vergessen sie auch, dass jede Unterstützung staatlicherseits für die Säkularisierung nur sehr bedingt ist: Sobald es ins Konzept passt, wird der Staat einen Deal mit den konservativen Elementen unter den Islamisten schließen und Aspekte der Scharia einführen, vor allem die drakonischen Strafen, als Gegenleistung dafür, dass diese sich der radikalen Elemente mit ihrem Glauben an die Abschaffung von Unterdrückung entledigen. So geschah es in Pakistan unter Zia und im Sudan unter Numeiri. Es scheint auch die Linie zu sein, die die Clinton-Administration den algerischen Generälen empfiehlt.
Sozialisten können sich aber auch nicht auf die Seite der Islamisten schlagen. Denn das käme der Forderung gleich, eine Unterdrückungsform gegen die andere einzutauschen, der staatlichen Gewalt dadurch entgegenzutreten, dass man der Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten, gegen Frauen und Schwule freien Lauf lässt, dass man sich an der Suche nach Sündenböcken beteiligt und damit die kapitalistische Ausbeutung außen vor lässt, solange sie nur eine „islamische“ Gestalt annimmt. Es würde bedeuten, das Ziel unabhängiger sozialistischer Politik, nämlich die Perspektive, dass Arbeiter im Kampf alle Unterdrückten und Ausgebeuteten hinter sich vereinen, aufzugeben und stattdessen einer kleinbürgerlichen Utopie hinterherzulaufen, die nicht einmal nach ihren eigenen Maßstäben irgendeine Aussicht auf Erfolg hat.
Die Islamisten sind nicht unsere Verbündeten. Sie sind Vertreter einer Klasse, die die Arbeiterklasse zu beeinflussen sucht und, insofern sie dabei Erfolg hat, Arbeiter entweder in die Richtung eines vergeblichen und verhängnisvollen Abenteurertums oder in die Richtung einer reaktionären Kapitulation vor dem existierenden System bzw. wechselweise zuerst in die eine und dann in die andere zieht.
Das heißt allerdings nicht, dass wir einfach eine abstentionistische, abweisende Haltung den Islamisten gegenüber einnehmen dürfen. Sie wachsen auf dem Boden sehr breiter sozialer Schichten, die unter der bestehenden Gesellschaft leiden und deren Empörung für progressivere Ziele eingesetzt werden könnte – vorausgesetzt eine steigende Kurve von Arbeiterkämpfen weist den Weg nach vorne. Aber auch wenn eine solche Zuspitzung des Klassenkampfes zunächst ausbleibt, können Sozialisten viele Islamisten, die sich von radikalen Auslegungen des Islamismus angezogen fühlen, erreichen – unter der Bedingung, dass sie ihre vollständige Unabhängigkeit von allen Formen des Islamismus bewahren und zugleich ernsthaft bereit sind, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um einzelne Islamisten in wirkliche radikale Kampfformen auf ihre Seite zu ziehen.
Der radikale Islamismus ist voller Widersprüche. Das Kleinbürgertum wird immer in zwei Richtungen gezogen – hier zur radikalen Rebellion gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und da zu einem Kompromiss mit ihr. Und so bleibt der Islamismus ständig gefangen zwischen einer Perspektive des Aufstandes mit dem Ziel einer vollständigen Wiederbelebung der islamischen Gemeinschaft und einer Perspektive des Kompromisse Schließens, um islamische „Reformen“ durchzusetzen. Diese Widersprüche drücken sich unweigerlich in erbittertsten, oft gewalttätigen Konflikten innerhalb der und zwischen den islamistischen Gruppierungen aus.
Diejenigen, die im Islamismus einen einzigen reaktionären Monolith sehen, vergessen die Konflikte zwischen verschiedenen Islamisten über die Linie, die sie einnehmen sollten, als sich Saudi Arabien und der Iran auf entgegengesetzten Seiten im ersten Golfkrieg wiederfanden. Sie vergessen die Auseinandersetzung, die die FIS in Algerien dazu brachte, mit ihren saudischen Unterstützern zu brechen, oder die Islamisten in der Türkei dazu, während des zweiten Golfkriegs pro-irakische Demonstrationen von Saudi-finanzierten Moscheen aus zu organisieren. Es finden erbitterte bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden islamistischen Armeen in Afghanistan statt. Heute gibt es Streit in der palästinensischen Hamas-Organisation darüber, ob sie mit Arafats Rumpfverwaltung, und damit indirekt auch mit Israel, einen Kompromiss schließen sollte im Gegenzug für die Einführung islamischer Gesetze. Solche unterschiedlichen Herangehensweisen treten zwangsläufig auf, sobald der „reformistische“ Islam Übereinkünfte mit bestehenden Staaten schließt, die in das Weltsystem integriert sind. Denn jeder dieser Staaten befindet sich im Wettstreit mit allen anderen und trifft eigene Vereinbarungen mit den vorherrschenden Imperialismen.
Ähnliche Differenzen treten auch zwangsläufig jedesmal auf, wenn Arbeiterkämpfe zunehmen. Die Geldgeber der islamistischen Organisationen werden solche Kämpfe beenden wenn nicht sogar brechen wollen. Manche radikale junge Islamisten werden sie dagegen spontan unterstützen wollen. Die Führer der Organisationen werden sich in der Mitte befinden und davon faseln, dass die Arbeitgeber Barmherzigkeit zeigen und sich die Arbeiter in Geduld üben müssen.
Schließlich zwingt die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung die islamistischen Führer zu ideologischen Purzelbäumen, sobald die Macht in Reichweite rückt. „Westlichen Werten“ stellen sie „islamische“ entgegen. Die meisten sogenannten westlichen Werte haben aber ihre Wurzeln nicht in irgendeiner mythischen europäischen Kultur, sondern entspringen der kapitalistischen Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte. Vor hundertfünfzig Jahren war die in der englischen Mittelschicht vorherrschende Einstellung zur Sexualität erstaunlich ähnlich der der heutigen islamistischen Erweckungsprediger (außerehelicher Sex war verboten, Frauen durften nicht einmal ihre Knöchel zeigen, Kinderzeugung außerhalb der Ehe war ein Makel für den Rest des Lebens) und Frauen hatten auf manchen Gebieten weniger Rechte, als ihnen die meisten Auslegungen des Islams heute einräumen (erbberechtigt war lediglich der älteste Sohn, während der Islam für die Tochter die Hälfte des Anteils des Sohnes vorsieht, ein Recht auf Scheidung existierte überhaupt nicht, während im Islam Frauen unter ganz eng ausgelegten Bedingungen dieses Recht haben). Was englische Einstellungen änderte, war nicht eine fest eingebaute Eigenschaft der westlichen Psyche oder irgendwelche „judäo-christlichen Werte“, sondern die Auswirkungen eines sich entwickelnden Kapitalismus – beispielsweise zwang ihn der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften, bestimmte Einstellungen zu revidieren und, was noch wichtiger ist, versetzte Frauen in die Lage, noch weitergehende Veränderungen einzufordern.
Deshalb auch musste die katholische Kirche sogar in Ländern wie Irland, Italien, Polen und Spanien, in denen sie traditionell enorm stark war, den Rückgang ihres Einflusses hinnehmen. Die Länder, in denen der Islam Staatsreligion ist, können sich auf Dauer diesem Veränderungsdruck genauso wenig entziehen, mögen sie sich noch so sehr sträuben.
Das zeigt die Erfahrung der Islamischen Republik Irans. Trotz aller Propaganda über die Hauptrolle der Frau als Mutter und Gattin und des ganzen Drucks, sie aus bestimmten Berufen wie des Rechtswesens zu verdrängen, ist der Frauenanteil an der Arbeiterschaft sogar leicht gestiegen, und sie stellen heute noch 28 Prozent der Regierungsbeamten, genauso wie zur Zeit der Revolution. [129] Vor diesem Hintergrund musste das Regime seine Haltung in der Frage der Geburtenkontrolle ändern, wobei 23 Prozent von Frauen Verhütungsmittel benutzen [130], und die strenge Handhabung der Kopftuchregelungen gelegentlich lockern. Obwohl Frauen gleiche Rechte in Sachen Scheidung und Familienrecht vorenthalten werden, haben sie nach wie vor das Wahlrecht (zwei Parlamentsmitglieder sind Frauen), sie gehen zur Schule, ihnen ist an den Universitäten eine Quote der Studienplätze in allen Fächern reserviert und sie werden ermuntert, Medizin zu studieren und sich militärisch ausbilden zu lassen. [131] Wie Abrahamian über Khomeini sagt:
Seine engsten Anhänger mockierten sich oft über die „Traditionalisten“, sie seien „altmodisch“. Sie beschuldigten sie, von ritueller Reinheit besessen zu sein, ihre Töchter von der Schule fernhalten zu wollen, darauf zu beharren, dass junge Mädchen den Schleier tragen – sogar dann, wenn keine Männer anwesend sind, Beschäftigungen wie Kunst, Musik und Malerei zu verdammen und sich zu weigern, Zeitungen, Radios und Fernsehen zu nutzen. [132]
Das alles sollte keine Überraschung sein. Diejenigen, die den iranischen Kapitalismus und den iranischen Staat managen, können weibliche Arbeitskräfte in Schlüsselsektoren der Wirtschaft nicht entbehren. Und jene Sektoren des Kleinbürgertums, die das Rückgrat der IRP bildeten und in den 1970er Jahren angefangen hatten, ihre Töchter auf die Universitäten zu schicken, weil sie das Familieneinkommen aufbessern und die Heiratschancen ihrer Töchter erhöhen wollten, sollten sie in den 1980er Jahren auf das alles im Interesse der religiösen Frömmigkeit verzichten?
Der Islamismus kann die wirtschaftliche und daher die soziale Entwicklung nicht einfrieren genauso wenig wie irgendeine andere Ideologie. Deshalb werden immer wieder neue Spannungen in seiner Mitte entstehen und in erbitterten ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb seiner Reihen Ausdruck finden.
Die islamistische Jugend ist in ihrer Mehrheit das intelligente und redegewandte Produkt einer modernen Gesellschaft. Sie liest Bücher und Zeitungen und schaut fern, sie kennt daher alle Spaltungen und Zusammenstöße innerhalb ihrer Bewegungen. Sie mögen linken oder bürgerlichen Säkularisierern gegenüber die Reihen noch so fest geschlossen halten, unter einander werden sie die heftigsten Diskussionen haben – genauso wie die pro-russischen und pro-chinesischen Flügel der scheinbar monolithischen weltweiten stalinistischen Bewegung vor dreißig Jahren. Und diese Diskussionen werden schließlich erste Zweifel in den Köpfen mindestens einiger von ihnen sähen.
Sozialisten können diese Widersprüche ausnutzen, um manche der radikalen Islamisten dazu zu bewegen, ihre Treue zu den Ideen und Organisationen des Islamismus in Frage zu stellen – aber nur, wenn es uns gelingt, unsere eigenen unabhängigen Organisationen zu etablieren, die weder mit den Islamisten noch mit dem Staat identifiziert werden.
In manchen Fragen werden wir uns auf der gleichen Seite wie die Islamisten gegen den Imperialismus und den Staat wiederfinden. Das war beispielsweise der Fall in vielen Ländern während des ersten Golfkriegs. Das gilt auch für Länder wie Großbritannien oder Frankreich im Kampf gegen Rassismus. Da, wo sich die Islamisten in der Opposition befinden, sollte unsere Leitlinie sein: „Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals.“
Aber auch dann begraben wir unseren Streit mit den Islamisten über fundamentale Fragen nicht. Wir treten für das Recht, die Religion zu kritisieren, genauso ein wie für das Recht, sie auszuüben, für das Recht, den Schleier nicht tragen zu müssen, wie für das Recht von jungen Frauen in Ländern wie Frankreich ihn doch zu tragen, wenn sie das wünschen. Wir sind gegen die Diskriminierung arabischer Muttersprachler in der Geschäftswelt, wenden uns aber genauso gegen die Diskriminierung von berberisch Sprechenden und von Arbeitern und Angehörigen der Mittelschichten, die mit Französisch als Muttersprache aufgewachsen sind. Vor allem sind wir gegen jede Handlung, die einen Teil der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen einen anderen Teil aufgrund der Religionszugehörigkeit oder der ethnischen Abstammung aufwiegelt. Das bedeutet, dass, genauso wie wir Islamisten gegen den Staat verteidigen, wir uns auch einmischen, wenn es darum geht, Frauen, Schwule, Berber oder Kopten gegen manche Islamisten zu verteidigen.
Die Linke hat in der Vergangenheit zwei Fehler in Bezug auf die Islamisten gemacht. Der erste war, sie als Faschisten abzuschreiben, mit denen wir nichts gemein haben. Der zweite war, sie als „Progressive“ zu betrachten, die nicht kritisiert werden dürfen. Dieser Doppelfehler hat dazu beigetragen, dass die Islamisten auf Kosten der Linken in weiten Teilen des Mittleren Ostens wachsen konnten. Wir brauchen eine andere Herangehensweise, die die Islamisten als das Produkt einer tiefen gesellschaftlichen Krise betrachtet, zu deren Überwindung sie nicht beitragen können, und die einige ihrer jüngeren Anhänger für eine ganz andere, unabhängige revolutionäre sozialistische Perspektive gewinnt.
Der Krieg gegen Afghanistan lenkte die Aufmerksamkeit auf zwei Varianten des Islamismus: die Taliban, die 1996 den größten Teil des Landes unter ihre Kontrolle brachten, und das internationale Al Qaida-Netzwerk, dem Bin Laden zugeordnet wird und dem das Regime Unterschlupf gewährt hat.
Ich schrieb einen Artikel über die Taliban im Oktober 1997 mit dem Ziel, ihre Einnahme Kabuls einen Monat zuvor ins rechte Licht zu rücken. Die wichtigsten Thesen haben den Test der Zeit bestanden. [133]
Hier erleben wir den ultimativen Horror, den logischen Ausgang islamischer Politik überall auf der Welt – so die Botschaft der westlichen Medien. Eine religiöse Armee hatte den Staat erobert. Sie setzte die ganze Palette der Scharia-Bestrafungen durch: Steinigung von Ehebrechern, Abhacken der Hand wegen Diebstahls usw. Sie verbot alle Formen bildlicher Darstellung inklusive Film und Fernsehen. Sie verordnete ein allumfassendes Arbeitsverbot für Frauen (womit sie sie im Endeffekt von jeglichem Zugang zu medizinischer Versorgung abschnitt, denn es ist Männern untersagt, den Körper einer Frau anzuschauen, es sei denn den der eigenen Ehefrau), schloss ausnahmslos alle Mädchenschulen und gebot eine Form der Schleier, den Tschador, der jeden Zentimeter der Haut verdeckt.
Diese Zustände, so die Botschaft weiter, ließen es für gerechtfertigt erscheinen, dass sich alle hinter jeder noch so despotischen Macht vereinten, wenn sie sich nur dieser Politik widersetzte. Diese Haltung teilten auch viele Linke, die sich in ihrem Glauben bestätigt fühlten, die Niederlage der Sowjetarmee 1989 käme einem Sieg barbarischer „Feudal“kräfte über die Zivilisation gleich.
Aber die Einnahme Kabuls war keineswegs die erste und auch nicht die schlimmste Tragödie, die das afghanische Volk heimsuchte. Zwei Jahrzehnte lang stürzte eine ganze Reihe sich ablösender politischer Kräfte, säkularer wie religiöser, pro-russischer wie pro-amerikanischer, modernistischer wie traditionalistischer das Land und sein Volk in ein unheilvolles Chaos. Eine Million Menschen wurde getötet und vier Millionen flüchteten über die Grenze nach Pakistan. Die Lebensmittelproduktion je Bauer fiel um 50 Prozent. Und es ist nicht zu erwarten, dass diese Schreckensliste aufhört, auch wenn die Taliban gezwungen würden, Kabul wieder zu räumen.
Afghanistan ist nämlich ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn ein extrem verarmtes Land in den Strudel inter-imperialistischer Konkurrenzkämpfe gezogen wird.
Nach allen Kriterien war Afghanistan in den 1970er Jahren eines der am wenigsten modernisierten Länder der Welt. Neun Zehntel der Bevölkerung waren bitter arme Bauern oder Nomadenhirten. 85 Prozent konnten weder lesen noch schreiben und mussten mit Hilfe von Zugtieren und gelegentlich einer Wassermühle ihre Existenz bestreiten.
Das soziale Gefüge bestand aus Familienclans und Stämmen, die oft in blutige Fehden miteinander verwickelt waren und unter der Führung von Großgrundbesitzern, den Khans, standen, die etwa die Hälfte der Pachternte einstrichen. Der Alltag folgte einem traditionellen Muster mit arrangierten, durch Zahlung eines „Brautpreises“ geschlossenen Ehen, und anschließender Unterordnung der Frauen unter ihre Ehegatten. Das von islamischen Gelehrten gesprochene Recht besaß Allgemeingültigkeit. Es fehlte das Gefühl einer gemeinsamen nationalen Identität, die Menschen sprachen eine Vielzahl paschtunischer, persischer oder türkischer Dialekte und konnten sich oft nicht einmal innerhalb der eigenen Sprachgruppe verständigen. An der Spitze dieses Geflechts lokaler Gruppierungen stand ein paschtunischer Monarch, Sahir Schah, der ihnen wie ein aufgezwungener Fremdkörper vorkam und dessen Beamte, wegen ihrer Versuche, ihnen eine andere Lebensweise aufzuzwingen, sie als Feinde betrachteten.
Aber wenn diese Menschen der modernen Welt den Rücken kehren wollten, heißt das noch lange nicht, dass sie dem Druck tatsächlich entrinnen konnten.
Afghanistan hatte unter anderem das Pech, an einem strategischen Knotenpunkt zwischen rivalisierenden imperialistischen Mächten zu liegen – so im 19. Jahrhundert zwischen dem zaristischen Russland und Großbritannien (das drei blutige Invasionen startete) und dann in der Mitte des 20. Jahrhunderts zwischen der UdSSR auf der einen Seite und dem Iran und Pakistan als regionalen Verbündeten der USA auf der anderen Seite.
Die königliche Verwaltung in Kabul konnte diesen Druck der Außenwelt nicht einfach ignorieren und wurde gezwungen, das Land zu modernisieren. Sie baute Schulen und Hochschulen und stellte eine gut ausgerüstete Armee auf, wobei sie die Rivalitäten des Kalten Kriegs nutzte, um Geldquellen für die Finanzierung von vier Fünfjahresplänen zur Schaffung einer modernen Infrastruktur und eines staatlichen Industriesektors zu erschließen.
Die meiste Hilfe kam aus der UdSSR und die USA akzeptierten, dass Afghanistan „zu 80 Prozent“ zur russischen Einflusssphäre gehörte.
Aber die von der Geopolitik und den Sicherheitsbelangen des Staates diktierten Wirtschaftspläne ließen die Landbevölkerung komplett außen vor. Ein Drittel der Investitionssumme wurde auf den Bau einer 2000 Meilen langen Autobahn durch die Berge bis zur sowjetischen Grenze verpulvert – an Zufahrtsstraßen für die Anbindung der wichtigsten Produktionsstätten wurde einfach nicht gedacht, noch weniger an die Anbindung der Märkte auf dem Land. Neue Kraftwerke waren nur zu 40 Prozent ausgelastet, weil das Stromnetz nicht ausreichte. Die meisten neuen Fabriken arbeiteten weit unter Kapazität oder standen wegen fehlender Rohstoffe einfach still. Und mit dem Einsetzen eines ersten Tauwetters im Kalten Krieg Ende der 1960er Jahre ging die Auslandshilfe um die Hälfte zurück und die Wirtschaft geriet vollends aus den Fugen.
Zwischen 1970 und 1972 führten Dürren zu einer allgemeinen Hungersnot auf dem Land, Tausende fanden den Tod. Währenddessen sah sich eine wachsende Zahl von Mittel- und Oberschulabsolventen mit der Perspektive lebenslanger Arbeitslosigkeit konfrontiert.
Für einen Großteil der Mittelschichten Kabuls bot sich als einziger Ausweg aus dem Teufelskreis von Armut und Unterentwicklung die „Freisetzung“ interner Ressourcen für die Modernisierung durch eine radikale Umwälzung des Landlebens.
Das war das Programm der Volksdemokratischen Partei Afghanistans (PDPA), die einem stalinistischen Entwicklungsmodell anhing. Sie ergriff die Macht durch einen Militärputsch 1978, wobei ihr Anführer Taraki die These vertrat, „die Armee“ könne die Stelle „der noch nicht entwickelten Arbeiterklasse“ beim Umsturz „der feudalen und unterdrückerischen Regierung“ einnehmen. Die Fachkräfte aus den Mittelschichten und die Armeeoffiziere, die die Partei beherrschten, gingen vor, als ob allein mit Willenskraft und Gewalt die gravierende Armut und Rückständigkeit auf dem Lande zu überwinden seien.
Die Partei befahl eine Reihe von Reformen über die Köpfe der Masse der Landbevölkerung hinweg und im Widerspruch zu ihren Traditionen. Das Ergebnis war eine Katastrophe.
Beamte fuhren in die Dörfer, um das Land der Khans an die Bauern zu verteilen und den Geldverleih durch Wucherer zu unterbinden. Es wurden aber keine Vorkehrungen getroffen, um den Pachtbauern das Saatgut zu geben, das sie bisher von den Khans erhalten hatten, noch gab es irgendeine Finanzierung, mit der sie die ausbleibenden Kredite der Geldverleiher hätten ausgleichen können. Die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen hätte den Staat Geld gekostet, das er einfach nicht besaß. Statt dessen versuchte er mit einem Zehntel der nötigen Aufwendungen zurecht zu kommen – und die armen Bauern fanden sich in einer noch schlimmeren Lage als vor der Reform wieder.
Sogar eine Alphabetisierungskampagne brachte der Regierung nur Minuspunkte ein, da sie den groben Fehler machte, gemischte Klassen von jungen männlichen Studenten unterrichten zu lassen in Dörfern, in denen die Tradition die Trennung von Jungen und Mädchen im Teenageralter verlangte.
In den Augen der Bauern schien der Staat, dem sie von jeher misstraut hatten, fest entschlossen, sie endgültig bettelarm zu machen und ihre traditionelle Lebensweise auszulöschen, die sie mit dem Islam identifizierten. In einem Landesteil nach dem anderen ereigneten sich mehr oder minder spontane Aufstände, meistens unter der Führung von Geistlichen vor Ort.
Als ihre Reformvorhaben endgültig versandeten, schickte die zusehends belagerte Regierung schließlich Armee und Geheimdienste, um den bäuerlichen Widerstand zu brechen, und organisierte auch in den Städten eine regelrechte Repressionswelle gegen alles, was als Sammelpunkt für die Unzufriedenheit dienen konnte – gegen höhere Geistliche, Intellektuelle, islamistische politische Gruppierungen, Maoisten und einfache Leute, die sich gegen die Repression aussprachen. Im September 1978 war dann die Parcham-Fraktion der herrschenden Partei selbst an der Reihe, und ein Jahr später waren die führenden Köpfe unter sich dermaßen zerstritten, dass Premierminister Amin den Präsidenten Taraki umbrachte.
Später nannten offizielle Stellen die grausame Zahl von 12.000 Hinrichtungen in nur 20 Monaten, und nach inoffiziellen Angaben „verschwanden“ weitere 50.000 Menschen.
Spätestens im Dezember 1979 war dem Sowjetregime unter Breschnew klar, dass sich die afghanische Regierung am Rand des Kollaps befand – und damit auch der sowjetische Einfluss in einem lebenswichtigen Grenzgebiet, just als der Kalte Krieg wieder an Intensität zunahm. Aus Verzweiflung schickte Russland seine eigenen Truppen, um Kabul einzunehmen, ermordete Amin und ersetzte ihn durch den eigenen Günstling, den exilierten Führer der Parcham-Fraktion der PDPA, Karmal, und verbreitete dann das Gerücht, er hätte die russische Armee ins Land gerufen.
Der Einmarsch hatte die gleiche Wirkung auf die disparaten Stämme, Familienclans und Völkerschaften auf dem Land wie die britischen Invasionen im 19. Jahrhundert: Er vereinte sie in einem allgemeinen Kampf gegen die Eindringlinge.
Der Krieg verwandelte sich sehr schnell in Russlands „Vietnam“. Seine Truppen hatten die größten Schwierigkeiten, Guerillagruppen zum Kampf zu stellen, die sich in der örtlichen Bevölkerung einfach auflösten, sobald sie angegriffen wurden. Der Einsatz richtete sich bald gegen breite Schichten der Bevölkerung insgesamt.
1986 setzte die Sowjetführung auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg, ihre Verluste zu begrenzen und ihre Truppen ohne allzu großen Gesichtsverlust zurückziehen zu können, eine neue Regierung in Kabul unter der Führung des ehemaligen Geheimdienstchefs Nadschibullah ein, der das Reformprogramm ad acta legte und sich mit möglichst vielen der lokalen Anführer der Aufständischen zu versöhnen suchte.
Jetzt aber waren es die USA, die das Ausmaß des Schreckens erhöhten. Der wieder aufgenommene Kalte Krieg war auf seinem Höhepunkt und die USA begannen, die Mudschaheddin, die bisher mit altertümlichen Gewehren und mit von den Russen erbeuteten Waffen ausgekommen waren, mit modernen Waffen wie 120-mm-Kanonen und Stinger Boden-Luft-Raketen auszurüsten.
Als die Sowjets 1988/89 endgültig außer Landes waren, lag die alte Gesellschaftsstruktur größtenteils in Scherben. Das Bildungswesen war zusammengebrochen, ganze Gemeinschaften hatten das Land ihrer Vorfahren aufgegeben, die meisten Khans hatten sich ins Ausland abgesetzt, die zurück gebliebenen Bauern fingen an, das nun herrenlose Land fortan auf eigene Rechnung zu bebauen, die gebildeten Mittelschichten waren regelrecht dezimiert worden. Millionen Menschen verließen das durch Krieg verwüstete Land, als einzige Verbindung mit der Vergangenheit blieb die Geistlichkeit übrig.
Afghanistans Misere hatte aber noch kein Ende gefunden. Den Mudschaheddin war es zwar gelungen, die Sowjetarmee zu vertreiben, nicht aber, sich über die weiteren Schritte zu einigen. Allzu oft setzten sie ihre neu erworbenen Waffen ein, um alte Fehden auszutragen, während ihre Führer die Gunst der Stunde nutzten, um sich zu bereichern.
Es gab Versuche seitens islamistischer Gruppierungen, einen nationalen Fokus zu bilden, gestützt auf Angehörige der gebildeten Kabuler Mittelschichten, deren Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung sie eher auf einen erstarkten Islam als auf den Stalinismus der 1960er und 70er Jahre setzen ließ. Sie hatten sich jenseits der Grenze in der pakistanischen Stadt Peschawar niedergelassen und erhielten großzügige Spenden von den USA. Aber auch hier setzten sie ihre erbitterten, manchmal sogar mörderischen Streitereien fort, wobei sich ihre Meinungsverschiedenheiten über die Frage, was es eigentlich heißt, Afghanistan entlang islamischer Richtlinien zu transformieren, mit den verschiedenen Familienclans und ethnischen Bündnissen überlagerten.
Der endgültige Fall Kabuls an die Mudschaheddin konnte nicht den Frieden bringen, den sich so viele erhofft hatten. Der Islam gab der neuen Mudschaheddin-Regierung doch keinen Zauberstab in die Hand, mit dem sie die Fragmentierung der Gesellschaft hätte einfach überwinden können. Vielmehr stützten sich alle Regierungsmitglieder auf die Militärmacht ihrer jeweiligen lokalen Anhänger, um ihre eigenen Sonderinteressen durchzusetzen.
Die Haltung der USA und der pakistanischen Regierung verschärfte die Lage. Ende der 1980er Jahre hatten sie in erster Linie die vorwiegend aus Paschtunen bestehende Hesb-i-Islami-Partei von Gulbuddin Hekmatjar mit modernen Waffen ausgerüstet, da seine Politik mit ihren strategischen Interessen übereinstimmte. Hekmatjar setzte nun seine schweren Waffen ein, um Kabul unter Beschuss zu nehmen beim Versuch, die Macht seinem einstigen islamistischen Kollegen Rabbani zu entreißen. Die Schäden, die er der Stadt innerhalb weniger Monate zufügte, waren schwerer als die der vorhergehenden zehn Kriegsjahre.
Gleichzeitig stellten die USA, nachdem sie ihre Ziele im Kalten Krieg durchgesetzt hatten, ihre Hilfslieferungen an die Millionen Menschen in den Flüchtlingslagern ein.
Das war die herrschende Lage, als die Taliban als kämpfende Macht die Bühne betraten.
Sie waren das Produkt der Machenschaften der USA und Saudi Arabiens, die verhindern wollten, dass die Flüchtlinge in Pakistan unter iranischen Einfluss gerieten. Saudisches Geld floss, um Hunderte von Religionsschulen (Madrassas) zu bauen, in denen eine neue Generation von Mullahs erzogen wurde, nicht nach der Hannafi-Auslegung des Islam, die in Afghanistan am weitesten verbreitet war, sondern nach der saudischen-wahhabitischen Auslegung. Diese Interpretation des Islam verlangt die vollständige Verschleierung von Frauen, ihre Fernhaltung von jeglicher Arbeit, wendet die Scharia-Bestrafungen unmittelbar an und betrachtet viele der afghanischen religiösen Praktiken als schlimmste Form des Götzendienstes.
Es waren die Absolventen dieser religiösen Schulen, die den Kern der Taliban bildeten.
Weder das saudische Geld noch die pakistanische Unterstützung können jedoch den kometenhaften Aufstieg der Taliban zu einem entscheidenden Faktor erklären.
Eine große Anzahl von Afghanen hatte die Taliban infolge der Verzweiflung, die zwanzig Jahre Krieg hinterlassen hatten, zunächst begrüßt. Sie boten Hoffnung inmitten der Vernichtung der traditionellen Lebensweisen der Menschen. Deshalb konnten sie Anhänger unter den Millionen vertriebener Bauern finden, die in Wellblechstädten oder heruntergekommenen Flüchtlingslagern zusammengepfercht waren. Ausgerechnet der Purismus und die Strenge der Taliban-Botschaft schien eine echte Alternative zu sein zu den Streitereien, der Pöstchenschieberei und den blutigen Kämpfen der etablierten islamistischen Politiker, die leicht als „schlechte Moslems“ oder gar Abtrünnige angeprangert werden konnten.
Das erklärt, warum Tausende von jungen Männern bereit waren, fanatisch für sie zu kämpfen, und warum ihre Armeen in vielen paschtunischen Landesteilen willkommen geheißen wurden.
Die Taliban können jedoch genauso wenig ihre Ziele erreichen wie andere Ideologien, die in den letzten beiden Jahrzehnten um Einfluss in Afghanistan gerungen haben. Sie können die Armut und die wirtschaftliche Rückständigkeit, die durch den Krieg noch verschlimmert wurden, nicht überwinden. Der Versuch, ihren religiösen Kodex der Bevölkerung aufzuzwingen – vor allem, dass sie Familien, die von den Einkünften aus der Arbeit ihrer weiblichen Mitglieder abhingen, ihres Lebensunterhalts beraubten – muss zu einer schnellen Desillusionierung mit ihrer Politik in den jüngst eroberten Gebieten führen. Und weil die Basis ihrer Unterstützung vorwiegend paschtunisch ist, stoßen sie unweigerlich auf erbitterte Opposition unter den Persisch und Usbekisch Sprechenden im Zentrum, im Westen und im Norden des Landes.
Es sind neue Informationen ans Licht gekommen, von denen ich nichts wusste, als ich diesen Artikel verfasste. Im Großen und Ganzen bestätigen sie aber die darin aufgezählten Hauptargumente.
Brzezinski, US-Sicherheitsberater Anfang der 1980er Jahre, hat zugegeben, dass die USA mit Waffenlieferungen an die Feinde des pro-russischen Regimes in Kabul noch vor der russischen Invasion begonnen hatten. Auf die Frage, ob es rechtens sei, Kräfte zu unterstützen, die die USA normalerweise als „barbarisch“ bezeichnen, gab er folgende berühmtberüchtigte Stellungnahme ab: „Was ist wichtiger vom Standpunkt der Geschichte? Die Taliban oder der Sturz des Sowjetimperiums? Ein paar aufgebrachte Moslems oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Kriegs?“ [134]
Er hat seine eigene Rolle in der Geschichte jedoch überschätzt, sollte er wirklich der Meinung sein, er hätte eigenhändig die entstandene Revolte losgetreten. Das pro-russische Regime war von einer tiefen Krise erfasst, schon bevor er intervenierte, wie die mörderischen internen Kämpfe zwischen den rivalisierenden Khalk- und Paschtun-Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei dokumentieren. [135]
Ahmed Rashid hat aufgezeigt, dass es nicht nur die saudische Königsfamilie und der pakistanische militärische Geheimdienst waren, die den Aufstieg der Taliban zwischen 1994 und 1996 unterstützten. Für eine kurze aber entscheidende Zeit war auch das US-Außenministerium beteiligt – stellvertretend für die Erdölgesellschaft Unocal (für die Henry Kissinger als Berater tätig war), die eine Pipeline quer durch Afghanistan bauen wollte. [136] Ohne die Hilfe aus Saudi Arabien und Pakistan (damals unter der angeblich weltlichen Regierung von Benazir Bhutto) hätten die Taliban Kabul niemals erobern können.
Das heißt allerdings nicht, dass die Taliban einfach das Werk fremder Mächte gewesen wären. Sie konnten nur entstehen vor dem Hintergrund der Desorientierung und des Ekels, den viele ehemalige Kämpfer gegen die Russen (aber auch manche, die auf der Seite der Russen gekämpft hatten, z. B. eine Gruppe Offiziere, die zeitweise mit der Khalk-Fraktion der PDPA im Zusammenhang gestanden hatte) empfanden, und angesichts der Korruption und der Gesetzlosigkeit der rivalisierenden Mudschaheddin-Kommandeure.
Rashid beschreibt die Situation in Kandahar, dem Geburtsort der Taliban:
Internationale Hilfsorganisationen fürchteten sich davor, überhaupt in Kandahar zu arbeiten, da das gesamte Stadtgebiet unter sich bekriegenden Gruppierungen aufgeteilt war. Deren Führer verkauften alles an pakistanische Händler für bares Geld, holten Telefonleitungen und -mäste herunter, fällten Bäume und verscherbelten ganze Fabrikanlagen, Geräteparks und sogar Straßenwalzen an Schrotthändler. Warlords beschlagnahmten Häuser und Bauernhöfe und übergaben sie ihren Anhängern, nachdem sie die Bewohner auf die Straße geworfen hatten. Die Kommandeure misshandelten die Bevölkerung nach Gutdünken, entführten junge Mädchen und Buben für das eigene sexuelle Vergnügen, beraubten Händler in den Basaren und prügelten und beschimpften sich gegenseitig lauthals auf der Straße. Die Flüchtlinge kehrten nicht aus Pakistan zurück, im Gegenteil, ihre Reihen schwollen durch eine neue Flüchtlingswelle aus Kandahar weiter an. [137]
Vor diesem Hintergrund stieß Mohammed Omars Gruppierung mit ihrem Eintreten für eine neue islamistische Kraft in Opposition zu den alten Kommandeuren der Mudschaheddin auf breite Zustimmung unter einer wachsenden Anzahl von ehemaligen Mitkämpfern und Religionsstudenten.
Alle, die sich um Omar sammelten, waren Kinder der Dschihad, die von den Bruderzwisten und kriminellen Aktivitäten der einst angehimmelten Mudschaheddin-Führung bitter enttäuscht waren. Sie sahen sich als die Saubermänner, die einen aus den Fugen geratenen Guerillakrieg beenden, ein herunter gekommenes Sozialsystem wieder in Ordnung bringen und die islamische Lebensweise von Korruption und Exzessen bereinigen sollten. Viele von ihnen waren in den Flüchtlingslagern in Pakistan geboren, in den pakistanischen Madrassas geschult und von in Pakistan angesiedelten Mudschaheddinparteien für den Kampf gedrillt worden. Die jungen Taliban kannten daher ihr eigenes Land und dessen Geschichte kaum, in den Madrassas wurde ihnen das Bild einer vom Propheten Mohammed vor 1.400 Jahren geschaffenen angeblich idealen islamischen Gesellschaft vorgehalten, der sie jetzt nachfolgen wollten. [138]
Siebzehn Jahre Krieg hatten die alte Gesellschaftsordnung zerstört. Die traditionellen, auf dem Klan bzw. dem Stamm beruhenden Beziehungen waren der Gewehrkugel oder der Bestechung gewichen. Da, wo früher Getreide für den Verbrauch im Dorf angebaut worden war, wuchs jetzt Opium für entfernte Märkte. Frauen, früher unterdrückt, aber von den Familienclans unter der alten Ordnung zugleich beschützt, fielen jetzt marodierenden Soldateneinheiten in die Hände und wurden praktisch zu Handelswaren, die von ihren Kommandeuren ge- und verkauft wurden. Die Reichen hatten die traditionellen Verpflichtungen, unter denen sie sich um das Wohl der Armen zumindest ansatzweise kümmern mussten, abgestreift.
Die Taliban entstanden als Antwort auf das allherrschende materielle und moralische Chaos. Es war der brutale Versuch, Ordnung in einer von Brutalität zerrissenen Gesellschaft wieder herzustellen. Ihre Antwort war in der Sprache des Islams gehalten, aber in einer Ausprägung, die nur mit dem Wahhabismus Saudi Arabiens zu vergleichen war. Es war eine religiöse Botschaft, wie sie zwar gewöhnlich in den Madrassas gelehrt wird, die aber von Menschen aufgenommen wurde, die, abgesehen vom isolierten und verarmten Dorf, dem Flüchtlingslager oder der Armee von der Welt kaum eine Vorstellung hatten. Daher war die Antwort der Religionsschüler auf die willkürliche Belästigung ihrer Ehefrauen, Schwestern und Töchter die zwangsweise Isolierung aller Frauen von jeglichem sozialen Umgang mit Männern, die nicht ihre Ehegatten, Brüder oder Väter waren. Ihre Antwort auf die in der zerfallenden Gesellschaft allgegenwärtigen Raubüberfälle war die Verstümmelung der Räuber. Ihre Antwort auf die sexuellen Übergriffe in Folge des Krieges war ein Freibrief für die Sittenpolizei, jeglichen Ausdruck von Sexualität außerhalb des engen Ehebundes zu bestrafen. Ihre Antwort auf die Verwüstung Afghanistans durch fremde Mächte war der Versuch, jeglichen kulturellen Ausdruck dieser Mächte aus Afghanistan zu verbannen: Fernsehen, Musikaufnahmen und sogar das Fotografieren.
Das Regime, das aus den Siegen der Taliban entstand, ist sehr schlimm. Es ist aber Unsinn, es als faschistisch zu bezeichnen, wie es Christopher Hitchens u. a. tun. Der Faschismus entstand in der Periode zwischen den Weltkriegen als Ergebnis der tiefen Wirtschaftskrise der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, und auf seinem Höhepunkt knechtete er fast ganz Europa unter Zuhilfenahme der modernsten Industrietechniken. Die Taliban entstanden in einem der ärmsten Länder der Welt als Reaktion auf seine weitere Verarmung und Verwüstung, und es gelang ihnen nicht einmal die Eroberung ganz Afghanistans. Es ist auch falsch, sie als das logische Endprodukt islamistischer Politik zu sehen. Wie Olivier Roy und andere hervorgehoben haben, sind islamistische Bewegungen im Kern der Versuch von Intellektuellen, die in der islamischen Tradition aufgewachsen sind, mit der modernen Welt zurecht zu kommen. Im Gegensatz dazu sind die Taliban eine Reaktion gegen alle intellektuellen Strömungen, ob islamistische oder weltliche, die auch nur entfernt mit der „Modernisierung“ im Zusammenhang stehen. Die Taliban halten diese allesamt für mitverantwortlich für die Verwüstung und das Chaos der Bürgerkriegsjahre und bemühen sich, den entstandenen Schrecken mit einer mythischen Vorstellung von dem, was das vormoderne Afghanistan einmal gewesen sein soll, zu bannen.
Die Talibanherrschaft war das pathologische Produkt des Leidens, das Afghanistan angetan wurde, nachdem es zum Spielball der Großmächte im Kalten Krieg und der Erdölinteressen in der Zeit danach geworden war. Es ist daher obszön, wenn gerade in diesem Augenblick, in dem ich diese Zeilen verfasse, die Großmächte eine Koalition für die Bombardierung Afghanistans gebildet haben und zur Rechtfertigung ihres Vorhabens den moralischen Zeigefinger auf die Taliban richten.
Ein Großteil der Diskussion in den Medien über den Krieg behandelt Bin Laden, das Al Qaida-Netzwerk und die Taliban als austauschbare Begriffe. Sie waren ab Mitte der 1990er Jahre miteinander verbündet. Die Taliban gewährten Bin Laden 1996 Zuflucht, nachdem dieser aus seiner Heimat Saudi Arabien und später aus dem Sudan ausgewiesen wurde. Das war nach der Eroberung eines Großteils des Landes, bei der er persönlich keine Rolle gespielt hatte.
Er war jedoch bereits während der gesamten zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Land gewesen. Die saudische Regierung, die mit dem CIA und dem pakistanischen Geheimdienst zusammen arbeitete, hatte ihn dorthin geschickt, um eine mehrere Tausend Mann starke Macht zu schaffen, die sich dem Kampf gegen die Russen anschließen sollte. Diese bestand aus Freiwilligen aus dem gesamten Mittleren Osten, es waren in erster Linie islamistische Kämpfer, deren Regierungen heilfroh waren, sie so weit weg loszuwerden. Bin Laden war für die saudische Seite der zentrale Organisator vor Ort in Afghanistan, baute Trainingslager auf und ließ unterirdische Bunker mit Hilfe der großzügigen Geldzuweisungen von CIA und Saudi Arabien bauen.
1990 kehrte er nach Saudi Arabien zurück, wo er sich zu einem erbitterten Feind der saudischen Königsfamilie und der USA entwickelte wegen deren Krieg gegen den Irak. Das war ein Teil eines umfassenderen Prozesses der Desillusionierung mit den USA seitens der islamistischen Freiwilligen, die gegen die Russen gekämpft hatten. Nun bildeten sie bald das neue Zentrum eines Islamismus, der sich zunehmend gegen den US-Einfluss in allen Ländern, aus denen sie stammten, richtete und der sich rasch ausbreitete. In Afghanistan selbst kämpften sie zunächst gegen Hekmatjar und dann auf Seiten der Taliban gegen die Nordallianz – beidesmal handelten sie durchaus im Einklang mit den Vorstellungen der USA und ihrer Verbündeten, dem pakistanischen Militärgeheimdienst und dem saudischen Staat. Zugleich handelten sie aber auch als Bindeglied zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppierungen, Parteien und Fragmenten in der gesamten Region, die sich zunehmend gegen die USA wendeten. Aus diesen Verbindungen entstand das, was die Medien als Al Qaida-Netzwerk bezeichnen, in dem Bin Laden angeblich eine Schlüsselrolle spielt.
In Wirklichkeit wissen wir sehr wenig über die Bedeutung dieses Netzwerks. Die meisten Informationen gründen auf den eher zweifelhaften, herausgepressten Zeugenaussagen von Angeklagten vor amerikanischen Gerichten wegen der Anschläge auf amerikanische Botschaften 1998. Einmal von ihrem begrenzten Wert abgesehen, deuten sie nicht auf eine zentral gesteuerte Verschwörung, sondern vielmehr auf eine lose Verbindung zwischen verschiedenen islamistischen Gruppierungen, die erfolglos ihre jeweiligen Regierungen herausgefordert hatten. Denn zum Zeitpunkt, als Al Qaida ins Rampenlicht rückte, war der erbitterte algerische Bürgerkrieg, in dem sowohl die Armee als auch die bewaffneten islamischen Gruppen Zivilisten Auge um Auge, Zahn um Zahn auf grausame Weise umbrachten, ins Stocken geraten, nachdem die FIS ihren Frieden mit dem Regime geschlossen hatte; das Militär im Sudan hatte sich inzwischen gegen die Islamischen Brüder gewandt; und das ägyptische Regime hatte die islamischen Organisationen im Untergrund größtenteils ausgerottet, nachdem diese Übergriffe gegen Regierungsminister, die christliche Minderheit, ausländische Touristen und Schriftsteller wie Farag Fuda (1992 ermordet) und Naguib Mahfouz (1994 verletzt) unternommen hatten. Die Antwort des Staates war „die Verhaftung Tausender, die Tötung Hunderter bei bewaffneten Überfällen auf vermeintliche Verstecke der Militanten und die Hinrichtung weiterer Dutzende nach Schnellverfahren vor Militärgerichten.“ [139] Zum Zeitpunkt dieser Schrift legen Berichte aus Ägypten nahe, dass die Repressionswelle die Fähigkeit dieser Gruppierungen zu friedlichen wie auch zu gewalttätigen Aktionen im Land vollkommen lahmgelegt hat.
Das heißt allerdings nicht, dass der Einfluss islamistischer Ideen verschwunden wäre. Die große Verbreitung des Osama Bin Laden-Videos, vor allem in Teilen der saudiarabischen Mittelschichten, beweist es.
Aber Niederlagen hat es gegeben. Zuerst in Ägypten und Algerien und jetzt in Afghanistan.
Bereits 1995 konnte Olivier Roy eins seiner Bücher Das Versagen des Politischen Islams betiteln. Er argumentierte, dass die misslungenen Versuche, die Gesellschaft politisch zu verändern, die Islamisten in die Defensive gedrängt hätten, und dass sie eine Veränderung der Verhaltensweisen nur noch durch Einflussnahme auf den Staat herbeizuführen versuchten. Der Aufstieg von Al Qaida auf die politische Bühne lässt seine Schlussfolgerung allerdings voreilig erscheinen.
Al Qaida ist dennoch das Produkt von Niederlagen. Das zeigt sich auf zweifache Weise. Einmal versucht sie, eine Botschaft zu transportieren, die Anklang über den engen Kreis der religiösen Zuhörerschaft hinaus findet. Stellungnahmen von Gruppen, die mit Al Qaida in Verbindung gesetzt werden, heben die Rolle der USA und ihre „Besetzung der Länder des Islam ... die Plünderung deren Reichtümer, ihre Diktate an deren Herrscher, ihren Terror gegen deren Nachbarn“ [140] hervor und betonen zunehmend die US-Unterstützung für die israelische Besatzungsmacht in Palästina. In diesen Stellungnahmen wird der Kampf gegen die Verweltlichung dem Angriff auf den Imperialismus untergeordnet, wenn auch nur aus Opportunitätsgründen.
Zweitens hat die Niederlage die Tendenz in den Gruppen, die den Kampf nicht aufgegeben haben, verstärkt, sich auf bewaffnete Aktionen zu verlassen, die von immer verschwiegeneren konspirativen Kreisen durchgeführt werden. Sie hat sie auch ermutigt, die menschlichen Opfer solcher Aktionen, sowohl die eigenen als auch die fremden, die weder mit ihrem Kampf noch mit dem Imperialismus in Beziehung stehen, zu ignorieren. Die Selbstmord-Entführungsattacken auf die Zwillingstürme des World Trade Centers waren die Endstufe dieser Tendenz. Die Entführer glaubten, dass, um den Imperialismus zu bekämpfen, man auf die gleichen schrecklichen Angriffe auf Zivilisten zurückgreifen müsse, die für alle imperialistische Kriege bezeichnend sind. Diese Strategie kann nicht zum Erfolg führen. Die Feuerkraft des Imperialismus ist haushoch überlegen und nur der Kampf der Massen kann ihren Einsatz verhindern.
Die nicht-religiöse Linke kann die Führung im Kampf um eine bessere Gesellschaft übernehmen. Allerdings nur, wenn sie die tödliche Falle vermeidet zu glauben, dass der Imperialismus oder seine Satellitenregime vor Ort irgendwie „zivilisierter“ wären als ihre islamistischen Gegner. Sollte die Linke in diesem Irrtum verharren, wird sie nur viele Menschen zurück in einen Islamismus drängen, der nach einem Jahrzehnt der Niederlagen gerade in den Ländern, wo er am stärksten war, in der Krise steckt.
Während der Solidaritätsdemonstration am 7. Mai 2012 mit Hunderten vom ägyptischen Militär willkürlich verhafteten Protestierenden sprach mich ein junger Genosse an. Ich kannte ihn schon von der Kairoer Universität. Er ist Medizinstudent und hatte sich während des Sit-ins in der Woche zuvor als freiwilliger Arzt im Feldlazarett engagiert. Er erzählte mir die Geschichte einer jungen Salafistin im Niqab, die während des Sit-ins unaufhörlich die rote Fahne der Revolutionären Sozialisten küsste und rief: „Vergebt mir, ich hatte bislang noch nie von euch gehört!“
Ich erzählte ihm meinerseits die Geschichte eines anderen Genossen, der beim Zutritt zu dem gleichen Sit-in von einem salafistischen Scheich durchsucht wurde. Als dieser in seiner Tasche die Fahne der Revolutionären Sozialisten nebst marxistischer Literatur und verschiedenen Ausgaben ihrer Zeitung entdeckte, rief er dem jungen Studenten zu: „Komm rein, mein Sohn, möge dir Gott beistehen!“
Während jenes Sit-ins, das eine ganze Woche anhielt, wiederholten sich solche Gegebenheiten unzählige Male. Und die ganze Zeit wurden die Teilnehmer von Schurken in Zivil, in enger Zusammenarbeit mit der Armee angegriffen – mit Messern, Schwertern, Feuerwaffen, Maschinengewehren. Schließlich lösten Militärpolizei und Sondereinheiten der Armee den Sitzstreik am 4. Mai auf und verhafteten und folterten Hunderte.
Das Sit-in war von Unterstützern des von den Wahlen ausgeschlossenen salafistischen Präsidentschaftskandidaten Hazem Salah Abu Ismail veranstaltet worden. Sie waren vor das Verteidigungsministerium marschiert und entschlossen sich spontan zu einem Sitzstreik mit der Forderung nach Auflösung des vom Militärrat eingesetzten, und übrigens von Revolutionären aller Schattierungen verhassten Wahlausschusses.
Wenn ihr Islamophobie als wachsende Gefahr für Europa seht, dann hättet ihr euch die Twitterwelt während jener Woche des Sit-ins ansehen müssen: Liberale und Linke spien die übelste Sprache.
Es gibt jene, die unbesehen der konkreten Situation alles Islamistische, alles, was Bart oder Niqab trägt, verdammen und alles tun, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Angesichts des Sit-ins nahmen sie entweder eine neutrale Haltung ein, ganz so, als ob der Konflikt zwischen Islamisten und der Armee auf einem anderen Planet stattfände, oder sie stießen Gebete aus, beide Seiten mögen sich durch ein Wunder gegenseitig vernichten, oder schlimmer noch sie begrüßten die gewaltsame Niederwerfung ihrer Bewegung durch das Militär.
Und dann gibt es das altbekannte Lied „keine Zeit“, jedesmal, wenn es zu Zusammenstößen mit Armee und Polizei kommt. „Dafür habe ich keine Zeit, es gibt Wichtigeres zu tun.“ Womit in der Regel Wahlen gemeint sind, oder andere vom Militärrat vorgesehene „Meilensteine im politischen Prozess“.
Aber die „Islamisten“ sind alles andere als ein einheitlicher Block. Wir reden hier von Millionen Ägyptern unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen Landesteilen, die der Muslimbruderschaft oder der einen oder anderen salafistischen Gruppierung angehören. Auch letztere kann man nicht alle in einen Topf werfen. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele junge Salafisten am Januaraufstand 2011 entgegen der pro-Mubarak-Positionierung beinahe aller bekannten Scheichs der salafistischen Szene teilnahmen. Viele der Arbeiter, denen ich seit 2007 in Streiks begegnete, haben Bärte, die fast bis zum Bauch reichen, und sind Anhänger der salafistischen Scheichs. Letztere hatten Streiks und Demonstrationen geächtet, was ihre ärmeren Getreuen nicht daran hinderte, eine andere Richtung einzuschlagen. Die salafistische Bewegung ist zersplittert, und die erbärmliche Leistung von Abu Ismail in der jüngsten Krise, als er sich von seinen eigenen Unterstützern distanzierte, wird unweigerlich seine Basis ernüchtern. Nun stellt sich die Frage, ob diese nicht für die Revolution gewonnen werden kann? Nicht alle, aber eine „kritische Masse“. Die Antwort ist Ja, und revolutionären Sozialisten fällt die Aufgabe zu, diese Basis mit der ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Kraft zu beeinflussen.
Die Vorstellung, die Muslimbruderschaft würde mit eiserner Faust vom Obersten Rat regiert und ihre Mitglieder dessen Befehlen blind gehorchen, ist überaus lachhaft. Die Organisation wurde seit eh und je von Fraktionierungen und Spaltungen entlang Generations- und Klassengrenzen geplagt. Obwohl die offizielle Linie nach dem Februaraufstand von 2011 ein ganzes Jahr lang Verzicht auf jegliche Mobilisierung lautete, gab es keine einzige ernsthafte Konfrontation mit dem Staat, an der sich Gruppen junger Muslimbrüder nicht beteiligt hätten. Das habe ich selbst so erlebt.
Was sollten revolutionäre Sozialisten in dieser Situation tun? Zu keinem Zeitpunkt sollten wir darauf verzichten, die Heuchelei und die konterrevolutionäre Politik der Führung der Muslimbruderschaft anzuprangern. Zugleich sollten wir niemals in unseren Anstrengungen nachlassen, die Jugend und andere in der Bruderschaft, die ernsthaft für die Revolution sind, für das revolutionäre Lager und sogar für sozialistische Politik zu gewinnen, was nach meiner eigenen Beobachtung immer öfter gelingt. Das wird allerdings nicht geschehen, wenn man sich ständig in Twitter aufhält und über die Bruderschaft herzieht, wie das viele Linke tun. Im Gegenteil, wir müssen vor Ort an allen Aktivitäten, die sie organisiert, teilnehmen und ohne Unterlass mit den jüngeren Mitgliedern debattieren. Und wenn es zu einem Konflikt mit dem Staat kommt, sollte man sich nicht zurückziehen und sagen, möge Gott beide Seiten verbrennen, nein, du musst dich positionieren. Dich positionieren, ohne die eigene organisatorische und politische Unabhängigkeit zu opfern, ohne darauf zu verzichten, unter der eigenen roten Fahne und mit den eigenen Parolen zu kämpfen.
Das Sit-in vor dem Verteidigungsministerium war ein Schritt vorwärts für die Revolution, kein Rückschritt, obwohl mehrere Genossen dabei verhaftet und brutal gefoltert wurden. Wir haben den Kampf zu neuen Höhen gebracht, indem wir mit einem alten Tabu brachen, das besagte, man veranstaltet keine Sit-ins oder Proteste unmittelbar vor der Zentrale der Konterrevolution, und indem es gelang, den revolutionärsten Flügel der salafistischen Bewegung zu erreichen und deren Anerkennung zu gewinnen. Ich neige mich vor der Tapferkeit aller Genossinnen und Genossen, die am Sit-in teilnahmen und dem Militär die Stirn boten.
Alle Aktivisten und Sympathisanten der Revolutionären Sozialisten sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß, aber es schmoren weiterhin Hunderte Islamisten und unabhängige Aktivisten sowie einfache Bürger in den Gefängnissen und warten ihre Militärgerichtsprozesse ab. Wir müssen unser Bestes geben, ihnen beizustehen und ihre Freilassung zu erwirken. Wir werden nicht aufhören, gegen den Militärrat zu organisieren. Dabei sollte es unser besonderes Anliegen sein, islamistische Kader zu erreichen, die sich am Kampf beteiligen wollen. Die Polarisierung innerhalb der islamistischen Bewegung kann mit jedem Verrat und jedem Kompromiss, den die islamistische Führung mit dem Militärrat eingeht, mit jeder erneuten Konfrontation mit dem Staat, mit dem Anstieg einer revolutionären Linken, die der enttäuschten Jugend eine echte Alternative zu bieten hat, und vor allem mit der Eskalation der Streikwelle nur wachsen. Bei all dem müssen wir darauf bedacht sein, unsere organisatorische Unabhängigkeit zu wahren, unsere eigenen Transparente hochzuhalten, unsere eigene Literatur zu verkaufen und unseren Prinzipien treu zu bleiben. Wie Chris Harman sagte: „Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals.“
Diese Zeilen habe ich schnell inmitten einer sich entfaltenden Revolution niedergeschrieben. Mir ist bewusst, dass das Tempo der Ereignisse in Deutschland nicht das gleiche ist. Aber in beiden Situationen, ob die Lage sich täglich ändert oder sich nur schrittweise entwickelt, braucht man einen guten Kompass. Das hat mit Dogmatismus nichts zu tun, ganz im Gegenteil, je klarer der Kompass, je tiefer das theoretische Verständnis, desto selbstsicherer können wir auf die wechselnden Erfordernisse des Kampfes um eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft angemessen und flexibel reagieren.
Chris Harman ist am 7. November 2009 am Abend seines 67. Geburtstages in Kairo gestorben. Er hat die ägyptische Revolution nicht selbst erlebt, seine Ideen haben aber darin ihre Bestätigung gefunden.
1. So konnte eine eingehende Studie über die ägyptische Muslimbruderschaft aus dem Jahr 1969 zum Schluss kommen, dass der Versuch, die Bewegung Mitte der 1960er Jahre zu erneuern, „die voraussehbare Eruption andauernder Spannungen war, verursacht durch die stets abnehmende Zahl von randständigen Aktivisten, die sich um eine immer weniger relevante muslimische ‚Position‘ zur Gesellschaft scharten“. R. P. Mitchell, Die Gesellschaft der Muslimbrüder, London 1969, S. vii.
2. Artikel in New Statesman von 1979, zitiert von Fred Halliday in The Iranian Revolution and its Implications, ebenfalls New Left Review, Nr. 166, November–Dezember 1987, S. 36.
3. Interview mit der Communist Movement of Algeria (MCA) in Socialisme International, Paris, Juni 1990. Die MCA existiert nicht mehr.
4. F. Halliday, op. cit., S. 57.
5. Eine Erzählung der Unterstützung seitens verschiedener linker Organisationen für die Islamisten findet sich in P. Marshall, Revolution and Counter-Revolution in Iran, London, 1988, S. 60–68 und 89–92; M. Moaddel, Class, Politics and Ideology in the Iranian Revolution, New York, 1993, S. 215–218; V. Moghadan, False Roads in Iran, in New Left Review, I/166.
6. Broschüre zitiert in R. P. Mitchell, op. cit., S. 127.
7. A. S. Ahmed, Discovering Islam, Neu Delhi, 1990, S. 61–64.
8. Eine Studie über den afghanischen Sufismus findet sich in O. Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, Cambridge, 1990, S. 38–44. Über den Sufismus in Indien und Pakistan siehe A. S. Ahmed, op. cit., S. 90–98.
9. I. Khomeini, Islam and Revolution, Berkeley, 1981, zitiert in A. S. Ahmed, op. cit., S. 31.
10. O. Roy, op. cit., S. 5. Ein führender Islamist, Hassan al-Turabi, Anführer der Sudanesischen Islamischen Brüderschaft, vertritt die gleichen Ansichten und ruft nach der Islamisierung der Gesellschaft, weil „Religion zum wichtigsten Motor der Entwicklung werden kann“, in Le Nouveau Réveil de l’Islam, Libération, Paris, 5. August 1994.
11. E. Abrahamian, Khomeinism, London, 1993, S. 2.
12. Ebenda.
13. Who is Responsible for Violence?, in M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi (Hrsg.) L’Algérie par les Islamistes, Paris, 1990, S. 132ff.
14. Ebenda, S. 31.
15. G. Kepel, The Prophet and the Pharaoh. Muslim Extremism in Egypt, London 1985, S. 109.
16. Siehe z. B. K. Pfeifer, Agrarian Reform under State Capitalism in Algeria, Boulder, 1985, S. 59; C. Anderson, Peasant or Proletarian?, Stockholm, 1986, S. 67; M. Raffinot and P. Jacquemot, Le Capitalisme d’état algérien, Paris, 1977.
17. J. P. Entelis, Algeria, the Institutionalised Revolution, Boulder 1986, S. 76.
18. Ebenda.
19. A. Rouadia, Les Frères et la Mosque, Paris 1990, S. 33.
20. O. Roy, op. cit., S. 88–90.
21. A. Rouadia, op. cit., S. 82.
22. Ebenda, S. 78.
23. Ebenda.
24. Eine Schilderung dieser Ereignisse findet sich in D. Hiro, Islamic Fundamentalism, London 1989, S. 97.
25. H. E. Chebabi, Iranian Politics and Religious Modernism, London 1990, S. 89.
26. E. Abrahamian, The Iranian Mojahedin, London, 1989, S. 107, 201, 214, 225–226.
27. M. Moaddel, op. cit., S.224–238.
28. A. Bayat, Workers and Revolution in Iran, London 1987, S. 57.
29. A. Tabari, Islam and the Struggle for Emancipation of Iranian Women, in A. Tabari and N. Yeganeh, In the Shadow of Islam: the Women’s Movement in Iran.
30. O. Roy, op. cit., S. 68–69
31. M. Al-Ahnaf, B. Botivewau and F. Fregosi (Hrsg.), op. cit.
32. A. Rouadia, op. cit.
33. Ebenda.
34. Ebenda.
35. 1989 schafften es nur 54.000 von 250.000 Prüflingen das Abitur. Ebenda, S. 137.
36. Ebenda, S. 146.
37. Ebenda, S. 147.
38. Siehe R. P. Mitchell, op. cit., S. 13.
39. Ebenda, S. 27.
40. Ebenda, S. 38.
41. M. Hussein, Islamic Radicalism as a Political Protest Movement, in N. Sa’dawi, S. Hitata, M. Hussein und S. Satwat, Islamic Fundamentalism, London 1989.
42. Ebenda.
43. S. Hitata, East West Relations, in N. Sa’dawi, S. Hitata, M. Hussein und S. Satwat, op. cit., S. 26.
44. G. Kepel, op. cit., S. 129.
45. Ebenda, S. 137.
46. Ebenda, S.143–144.
47. Ebenda, S. 85.
48. Ebenda, S. 95–96.
49. Ebenda, S. 149.
50. Eine Schilderung dieser Periode findet sich z. B. in A. Dabat und L. Lorenzano, Conflicto Malvinense y Crisis Nacional, Mexico 1982, S. 46–48.
51. M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi (Hrsg.), op. cit.,, S. 34.
52. Phil Marshalls sonst sehr nützlicher Artikel, Islamic Fundamentalism – Oppression and Revolution in International Socialism, Nr. 40, 1988, stolpert gerade über diese Frage, weil er zwischen dem Anti-Imperialismus bürgerlicher Bewegungen angesichts des Kolonialismus und dem kleinbürgerlicher Bewegungen angesichts eines im Weltsystem integrierten kapitalistischen Staates nicht unterscheidet. Er betont ausschließlich die Rolle, die Bewegungen spielen können, indem sie „dem Kampf gegen den Imperialismus Ausdruck verleihen“. Hier wird außer Acht gelassen, dass der einheimische Staat und die einheimische Bourgeoisie normalerweise die unmittelbaren Agenten der Ausbeutung und Unterdrückung in der Dritten Welt heutzutage sind – ein Umstand, den manche Strömungen des radikalen Islamismus zumindest in Ansätzen anerkennen (wenn beispielsweise die Qutb Staaten wie Ägypten als „nicht-islamisch“ beschreibt).
Hier wird auch nicht gesehen, dass die kleinbürgerlichen Einschränkungen der islamistischen Bewegungen bedeuten, dass ihre Führer, wie zuvor die Führer solcher Bewegungen wie der Peronismus, oft den „Imperialismus“ in ihre Rhetorik aufnehmen, nur um einen späteren Deal mit dem einheimischen Staat und der lokalen herrschenden Klasse zu rechtfertigen, wobei sie geschickt die entstehende Bitterkeit auf jene Minderheit umlenken, die sie als die lokalen Agenten des „kulturellen Imperialismus“ ausdeuten. Marshall irrt sich daher, wenn er revolutionären Marxisten dem Islamismus gegenüber die gleiche Herangehensweise empfiehlt, die von der vorstalinistischen Komintern in Bezug auf die entstehenden anti-kolonialen Bewegungen der frühen 1920er Jahre entwickelt wurde. Sicher sollten wir von der frühen Komintern lernen, dass wir uns auf der gleichen Seite wie eine bestimmte Bewegung (oder gar Staat) befinden können, insofern sie den Imperialismus bekämpft, ohne deswegen vom Sturz ihrer Führung abzulassen oder unsere Kritik an deren Politik, Strategie und Taktiken einzustellen. Das ist aber nicht dasselbe wie die Behauptung, dass der bürgerliche und kleinbürgerliche Islamismus der 1990er Jahre das Gleiche sei wie der bürgerliche und kleinbürgerliche Antikolonialismus der 1920er Jahre.
Sonst können wir in die gleiche Falle tappen wie die Linke in Ländern wie Argentinien in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, als sie den Nationalismus ihrer eigenen Bourgeoisie unterstützten mit dem Argument, es handele sich um „halbkoloniale Staaten“.
A. Dabat und L. Lorenzano stellten richtigerweise fest:
„Die argentinische nationalistische und marxistische Linke verwechselten ... die Verbindung (ihrer eigenen Führer) mit den Interessen der imperialistischen Bourgeoisie und ihre diplomatische Unterwürfigkeit gegenüber der US-Armee und dem US-Staat mit politischer Abhängigkeit (‚semi-Kolonialismus‘, ‚Kolonialismus‘), was die radikalsten und entschlossensten Kräfte unter ihnen dazu verleitete, zu einem bewaffneten Kampf für „die zweite Unabhängigkeit“ aufzurufen. In Wirklichkeit konfrontierten sie etwas ganz anderes. Das Verhalten jeder Regierung eines verhältnismäßig schwachen kapitalistischen Staates (wie unabhängig ihre staatliche Struktur sein mag) ist notwendigerweise ‚versöhnlerisch‘ und ‚ergeben‘, wenn es darum geht, die eigenen Interessen zu wahren ... Zugeständnisse von imperialistischen Regierungen oder Firmen abzuringen ... Bündnisse ... mit diesen Staaten zu konsolidieren. Diese Verhaltensweisen teilen in Essenz alle bürgerlichen Regierungen, mögen sie sich selbst für noch so nationalistisch halten. Das tangiert nicht die Struktur des Staates oder sein Verhältnis zum Selbstverwertungsprozess und Reproduktion des Kapitals im nationalen Rahmen (den Charakter des Staates als direkten Ausdruck der dominierenden Klassen im Lande und nicht als Ausdruck der imperialistischen Staaten und Bourgeoisien anderer Länder).“ Conflicto Malvinense y Crisis Nacional, op. cit., S. 70.
53. E. Abrahamian, Khomeinism, op. cit., S. 3.
54. Ebenda, S. 17.
55. O. Roy, op. cit., S. 71.
56. M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi (Hrsg.), op. cit., S. 26–27.
57. R. P. Mitchell, op. cit., S. 145.
58. Ebenda, S.116.
59. Ebenda, S. 40.
60. Buch von Hudaybi, zitiert in G. Kepel, op. cit., S. 61.
61. Ebenda, S. 71.
62. Ebenda.
63. Siehe Zitat, ebenda, S. 78.
64. Ebenda, S. 53.
65. Ausführlichere Details in: ebenda, S. 78.
66. Ein längeres Exposé von Farajs Ansichten in seinem Buch The Hidden Imperative findet sich in ebenda, S. 193–202.
67. Ebenda, S. 208.
68. Ebenda, S. 164.
69. Ebenda, S. 210.
70. A. Rouadia, op. cit., S. 20.
71. Ebenda, S. 33–34.
72. Ebenda, S. 36.
73. Ebenda, S. 144.
74. Ebenda, S. 145–146.
75. J. P. Entelis, op. cit., S. 74.
76. A. Rouadia, op. cit., S. 191.
77. Ebenda, S. 209.
78. M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi, op. cit., S. 30.
79. Ebenda.
80. J. Goytisolo, Argelia en el Vendava, El Pais, 30. März 1994.
81. El Salaam, 21. Juni 1990, übersetzt in M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi (Hrsg.), op. cit., S. 200–202 [OAS: Organisation armée secrète – Untergrundarmee der französischen Kolonialmacht, d. Ü.]
82. Siehe die Darstellung dieser Ereignisse in J. Goytisolo, op. cit., 29. März 1994. Das ist jetzt der Kurs, den die einflussreiche britische Geschäftszeitung Financial Times (siehe Ausgabe vom 19. Juli 1994) und anscheinend auch die US-Regierung empfehlen.
83. J. Goytisolo, op. cit., 30. März 1994.
84. Ebenda.
85. Ebenda.
86. Ebenda, 3. April 1994.
87. Guardian, 15. April 1994.
88. Guardian, 13. April 1994.
89. J. Goytisolo, op. cit., 29. März 1994.
90. Siehe die Übersetzung über Wirtschaftspolitik in M. Al-Ahnaf, B. Botivewau und F. Fregosi (Hrsg.), op. cit.
91. Ebenda, S. 109.
92. Das ist die Ansicht, die F. Halliday, op. cit., vertritt. Die gleiche Ansicht in Bezug auf den Stalinismus vertraten Max Schachtmann u.a. Siehe Max Schachtmann, The Bureaucratic Revolution, New York, 1962, und, für eine Erwiderung, T. Cliff, Appendix 2: The Theory of Bureaucratic Collectivism, in State Capitalism in Russia (London, 1988). [Dieser Anhang fehlt leider in der deutschen Übersetzung: Staatskapitalismus in Russland – Eine marxistische Analyse, D.P.]
93. Das ist die Position eines Großteils der Linken sowohl in Algerien als auch in Ägypten.
94. H. E. Cheliabi, op. cit., S. 169.
95. Weitere Details finden sich in A. Bayat, op. cit., S. 101–102, 128–129.
96. Zahlen aus ebenda, S. 108.
97. M. M. Salehi, Insurgency through Culture and Religion, New York 1988, S. 171.
98. H. E. Cheliabi, op. cit., S. 169.
99. Die Zahl findet sich in D. Hiro, op. cit.,, S. 187.
100. Siehe Kapitel 3 meines Class Struggles in Eastern Europe, 1945–83, London 1983.
101. Tony Cliff, Die Abgelenkte Permanente Revolution in International Socialism (erste Reihe), Nr. 12 (Frühjahr 1963), nachgedruckt in International Socialism (erste Reihe), Nr. 61. Leider fand dieser sehr wichtige Artikel keinen Eingang in Cliffs ausgewählte Schriften Neither Washington nor Moscow, ist aber als Broschüre bei Bookmarks erhältlich. Deutsche Übersetzung in: China und die Revolution in der Dritten Welt, S. 1–22.
102. Sie waren noch weniger Ausdruck der „Stärke der kapitalistischen Gesellschaftskräfte“, wie Halliday zu behaupten scheint, op. cit., S. 35. Mit seiner Behauptung zeigt Halliday nur, wie sehr seine eigenen maoistisch-stalinistischen Wurzeln ihn daran hindern, den Charakter des Kapitalismus in diesem Jahrhundert zu verstehen.
103. Wie P. Marshall in seinem sonst hervorragenden Buch Revolution and Counter-Revolution in Iran, op. cit., nahezulegen scheint.
104. A. Bayat, op. cit., S. 134.
105. T. Cliff, op. cit.
106. M. Moaddel, op. cit., S. 212.
107. F. Halliday, op. cit., S. 57.
108. Maryam Poya verwendet in ihrem Artikel Iran 1979: Long Live the Revolution ... Long Live Islam?, in Revolutionary Rehearsals, London, 1987 [Iran 1979: Lang lebe die Revolution ... Lang lebe der Islam?, erhältlich über www.marxists.de] irrtümlicherweise den Begriff „Arbeiterräte“ um „Shoras“ zu übersetzen.
109. Nach Moaddel, op. cit., S. 238.
110. A. Bayat, op. cit., S. 42.
111. E. Abrahamian, The Iranian Mojahedin, op. cit., S. 189.
112. M. Poya, op. cit.
113. M. Moaddel, op. cit., S. 216.
114. Abdelwahab el-Affendi, Turabis Revolution, Islam und Power in Sudan, London, 1991, S. 89.
115. Ebenda, S. 116–117.
116. Ebenda, S. 117.
117. Ebenda, S. 115.
118. Seine Positionen zu Frauen finden sich in der Zusammenfassung seines Pamphlets, ebenda, S. 174. Siehe auch seinen Artikel, Le nouveau réveil de l’Islam, op. cit.
119. A. el-Affendi, op. cit., S. 118.
120. Ebenda, S. 163.
121. Ebenda, S. 163–164.
122. Ebenda, S. 116.
123. Bericht von Amnesty International, zitiert in Economist Intelligence Unit Report, Sudan, 1992 : 4.
124. Ebenda.
125. Economist Intelligence Unit Report, Sudan, 1993 : 3.
126. Economist Intelligence Unit, Country Profile, Sudan, 1993–94. Turabi selbst hat Wert darauf gelegt, dass die „islamische Erwachung kein Interesse mehr am Kampf mit dem Westen hat ... ‚Der Westen ist nicht unser Feind.‘“ Le Nouveau Reveil de l’Islam, op. cit.
127. Economist Intelligence Unit Report, Sudan, 1993 : 1.
128. Dies war eine treffende Beschreibung der Ideen der Volksmudschaheddin, geliefert von jener Sektion der Führung und der Mitgliedschaft, die sich Mitte der 1970er Jahre abspaltete, um eine neue Organisation, später mit dem Namen Peykar, zu gründen. Leider fuhr diese Organisation fort, sich mehr auf Guerillaismus und Maoismus zu stützen als auf den genuinen revolutionären Marxismus.
129. V. Moghadam, Women, Work and Ideology in the Islamic Republic, in International Journal of Middle East Studies, 1988, S. 230.
130. Ebenda, S. 227.
131. Ebenda.
132. E. Abrahamian, Khomeinism, op. cit., S. 230.
133. Der Artikel erschien in Socialist Review, November 1996. Er wird hier vollständig nachgedruckt mit einigen wenigen Veränderungen
134. Zitiert in A. Rashid, Taliban: Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, London 2000, S. 130.
135. Über die Entwicklung der Krise, siehe O. Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, Cambridge, 1990, und H. S. Bradsher, Afghan Communism and Soviet Intervention, Oxford, 1999.
136. A. Rashid, op. cit., S. 170–182.
137. Ebenda, S. 21.
138. Ebenda, S. 23.
139. T. Mitchell, Introduction to Part Four, in J. Benin und J. Stork, Political Islam, London 1997, S. 255.
140. Fatwa aus Khot camp vom 23. Februar 1999, zitiert in A. Rashid, op. cit., S. 134.
Zuletzt aktualisiert am 6. Oktober 2017