Chris Harman

Das ist Marxismus


Wie Arbeiter Revolutionäre werden


Wenn man heute auf der Straße Arbeiter anspräche und fragte, ob sie eine Revolution wollten, würden sie einen für verrückt erklären oder zumindest mit Entsetzen reagieren. Diese Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft der Arbeiter gegenüber dem revolutionären Sozialismus überrascht nicht.

Wir wurden alle in einer kapitalistischen Gesellschaft erzogen. In dieser Gesellschaft gilt es als selbstverständlich, daß die Menschen sich egoistisch verhalten. Presse und Fernsehen verbreiten ständig, daß nur eine auserlesene Minderheit dazu in der Lage ist, wichtige politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu fällen.

Vom ersten Schultag an wird Arbeiterkindern beigebracht, daß sie den Befehlen ihrer Eltern und Vorgesetzten zu gehorchen haben.

»Die herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse«, schrieb Marx. Die große Mehrheit der Arbeiter stellt sie gar nicht in Frage.

Aber trotzdem ist es in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder zu revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse gekommen: In Frankreich 1871, Rußland 1917, Deutschland und Ungarn 1918, Italien 1920, Spanien und Frankreich 1936, Frankreich 1968, Chile 1972–73, Portugal 1975, Iran 1979, Polen 1980–81.

Diese Erhebungen entstehen aus dem Kapitalismus selbst. Denn der Kapitalismus ist eine krisenanfällige Gesellschaft. Auf Dauer ist er nicht in der Lage, Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle zu garantieren. Er kann uns den Lebensstandard von heute nicht gegen die Krisen von morgen sichern, auch wenn die Arbeiter während der Hochkonjunktur daran glauben.

So haben sich die deutschen Arbeiter in den 50er und 60er Jahren und bis Mitte der 70er Jahre daran gewöhnt, daß die Vollbeschäftigung im großen und ganzen gesichert war, daß Sozialleistungen und der persönliche Lebensstandard langsam aber stetig verbessert werden konnten. Die kurze Rezession von 1967 hatte diese Erwartung nicht wesentlich erschüttern können.

Aber seit 1974 wuchs das Heer der Arbeitslosen auf Millionen an. Der Lebensstandard sinkt. SPD- und CDU-Regierungen zerfetzen das „soziale Netz“.

Weil es eine Art täglicher Gehirnwäsche gibt, werden einige dieser Einschränkungen und Angriffe auf den Lebensstandard als „notwendig“ hingenommen. Aber das hat Grenzen.

Es gibt einen Punkt, an dem die Arbeiter das nicht mehr akzeptieren. Plötzlich – meist wenn es niemand erwartet – bricht ihr Ärger in Aktionen gegen die Unternehmer oder die Regierung aus. Es kommt zu Demonstrationen oder Streiks.

Dann fangen Arbeiter an, all jene kapitalistischen Ideen und Normen in Frage zu stellen, die sie bis dahin bejaht hatten. Sie beginnen, Solidarität zu zeigen, sie handeln als Klasse und im Gegensatz zu den Vertretern der kapitalistischen Klasse.

Die Ideen des revolutionären Sozialismus, die sie bis dahin verworfen hatten, scheinen nun plötzlich mit ihren eigenen Aktionen übereinzustimmen. Einige Arbeiter beginnen, sich mit solchen Ideen ernsthaft auseinanderzusetzen – vorausgesetzt, daß diese Ideen auch greifbar sind.

Das Ausmaß, mit dem das geschieht, hängt vom Ausmaß der Kämpfe ab, nicht von den Ideen, die ursprünglich in den Köpfen der beteiligten Arbeiter herumspukten. Der Kapitalismus zwingt die Arbeiter zur Gegenwehr, selbst wenn sie diese Gegenwehr auf der Grundlage ihrer prokapitalistischen Ideen beginnen.

Die kapitalistische Macht beruht auf zwei Säulen – der Kontrolle über die Produktionsmittel und der Kontrolle über den Staat. Eine wirklich revolutionäre Bewegung beginnt, wenn der Kampf der Masse der Arbeiter für ihre unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen mit diesen beiden Säulen des Kapitalismus zusammenstößt.

Nehmen wir als Beispiel eine Gruppe von Arbeitern, die seit Jahren in der gleichen Fabrik arbeiten.

Ihr gesamtes Leben ist von der Arbeit in dieser Fabrik geprägt. Eines Tages verkündet der Unternehmer, daß der Betrieb geschlossen werden soll. Selbst die CDU-Wähler in der Fabrik sind schockiert und wollen etwas gegen die Stillegung unternehmen. In der Verzweiflung beschließen sie, die Fabrik zu besetzen, weil das der einzige Weg zu sein scheint, das Leben weiterzuführen, das ihnen der Kapitalismus versprochen hatte. Mit diesem Schritt haben sie aber schon die Kontrolle des Unternehmers über die Produktionsmittel in Frage gestellt.

Es dauert nicht lange, und sie werden im Konflikt mit der Staatsmacht sein, weil der Unternehmer die Polizei ruft, die ihm „sein“ Eigentum zurückgeben soll.

Auf diese Weise schafft der Kapitalismus selbst die Bedingungen für den Klassenkonflikt, durch den die Arbeiter zu Ideen kommen, die sich gegen den Kapitalismus richten. Deshalb ist die Geschichte des Kapitalismus auch eine Geschichte wiederkehrender Aufschwünge von revolutionären Ideen unter Millionen von Arbeitern, obwohl sie für lange Zeit die Ideen, mit denen das System sie täglich füttert, akzeptieren.

Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu revolutionären Ideen ist allerdings das Gefühl, daß man ja von den anderen Arbeitern allein gelassen werde. Deshalb sei das Risiko zu groß, irgendetwas zu unternehmen.

Wenn sie aber herausfinden, daß andere Arbeiter etwas unternehmen, verlieren sie plötzlich ihre Gleichgültigkeit, ein wichtiger Grund, warum die bürgerliche Presse kaum oder nur oberflächlich darüber berichtet.

Arbeiter, die jahrelang von ihrer Unfähigkeit, die Gesellschaft zu leiten, überzeugt waren, machen im Verlauf von Kämpfen die Erfahrung, daß sie gegen die bestehende Gesellschaft bereits die Organisierung und Führung wichtiger Teile der Gesellschaft ausüben.

Aus diesem Grund entwickeln sich revolutionäre Bewegungen, wenn sie erst einmal begonnen haben, mit erstaunlicher Geschwindigkeit wie ein Schneeball zur Lawine.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011