Chris Harman

Das ist Marxismus


Die Arbeiterklasse


„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Mit diesen Worten leitete Marx sein Manifest der Kommunistischen Partei ein.

Wie läßt sich garantieren, daß die unterdrückten Klassen ohne Unterbrechung den Reichtum der herrschenden Klassen vermehren? Diese Frage ist entscheidend für die jeweils Herrschenden. Deshalb kam es auch in allen bisherigen Gesellschaften zu scharfen Kämpfen zwischen den Klassen, die oft genug im Bürgerkrieg endeten. So, als sich im Alten Rom die Sklaven erhoben, so auch in zahlreichen Bauernaufständen des mittelalterlichen Europas, so auch in den großen Bürgerkriegen und Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts.

In all diesen großen Kämpfen stellten die unterdrücktesten Gruppen der Gesellschaft die Masse der aufständischen Kräfte. Aber, so fügte Marx sogleich hinzu, all diese Bestrebungen führten letztlich nur dazu, die eine herrschende Minderheit durch eine andere zu ersetzen. So gab es im alten China mehrere erfolgreiche Bauernaufstände – aber sie endeten allesamt damit, einen neuen Kaiser an die Macht zu hieven. Ähnlich endete die französische Revolution von 1789. Die Masse der Kämpfer gegen die Adelsherrschaft entstammte den „Hosenlosen“ (Sansculottes), den armen Bevölkerungsklassen von Paris. Aber am Ende der Revolution herrschten nicht sie anstelle des Königs und seines Hofes, sondern Bankiers und Industrieunternehmer.

Es gab zwei Ursachen dafür, daß die unteren Klassen, die die Revolutionen durchgeführt hatten, die Kontrolle über sie verloren.

Erstens war der gesellschaftliche Reichtum insgesamt noch ziemlich gering. Nur weil die große Masse des Volkes in ungeheurer Armut gehalten wurde, konnte eine kleine Minderheit sich Zeit und Muße nehmen, Künste und Wissenschaften für die Gesellschaft zu entwickeln. Mit anderen Worten: Die Klassenteilung war notwendig, damit es gesellschaftlichen Fortschritt geben konnte.

Zweitens befähigte das Leben der unterdrückten Klassen diese nicht, eine Gesellschaft zu führen. In ihrer großen Mehrheit waren sie Analphabeten, sie wußten sehr wenig über die Welt außerhalb ihres unmittelbaren Lebenskreises, und vor allem waren sie durch die täglichen Erfahrungen untereinander gespalten. Jeder Bauer war damit beschäftigt, sein eigenes kleines Stück Erde zu bebauen. Jeder Handwerker in den Städten führte sein eigenes kleines Geschäft und befand sich dabei in Konkurrenz mit anderen Handwerkern, statt in Vereinigung mit diesen.

Bauernaufstände begannen damit, daß sich riesige Bauernmassen an den Kämpfen für eine Enteignung der ortsansässigen Adelsfamilien und Großgrundbesitzer beteiligten. War dieses Ziel einmal erreicht, begann sofort der Streit untereinander um die Aufteilung des Landes. Marx schrieb über die Bauern, sie seien wie„Kartoffeln in einem Sack“. Man könne sie durch eine äußere Kraft zusammenschließen, aber sie seien unfähig, sich dauerhaft selbst zusammenzuschließen, um ihre eigenen Interessen zu vertreten.

Die Arbeiter, die modernen Kapitalismus schaffen, unterscheiden sich von allen früheren unterdrückten Klassen. Erstens leben sie in einer Gesellschaft, in der die Teilung der Klassen keine Bedingung mehr für gesellschaftlichen Fortschritt ist. Es wird heute so viel Reichtum hergestellt, daß die kapitalistische Gesellschaft in regelmäßigen Abständen riesige Reichtümer durch Kriege oder Wirtschaftskrisen zerstört. Die Reichtümer könnten heute gleichmäßig verteilt werden, ohne daß die Wissenschaften, die Künste und die Kultur insgesamt zu einem Stillstand kommen müßten.

Zweitens bereitet das Leben im Kapitalismus die Arbeiter auf vielfältige Weise für eine Kontrolle der Gesellschaft vor. So braucht der Kapitalismus Arbeiter, die eine Ausbildung und Erziehung haben. Der Kapitalismus preßt Tausende von Menschen in riesigen Industriezentren zusammen, wo sie in engem Kontakt miteinander leben und wo sie eine mächtige Kraft für einen gesellschaftlichen Umsturz darstellen.

Der Kapitalismus führt die Arbeiter in Fabriken zusammen. Im Arbeitsprozeß lernen sie, gemeinsam zu arbeiten, und diese Fähigkeit kann sehr rasch gegen das System selbst angewandt werden, so zum Beispiel, wenn sich Arbeiter zu Gewerkschaften zusammenschließen. Weil sie in mächtigen Blöcken zusammengeschweißt sind, fällt es den Arbeitern wesentlich leichter als früheren unterdrückten Klassen, ihre Produktionsstätten und die Gesellschaft demokratisch selbst zu kontrollieren.

Darüberhinaus macht der Kapitalismus in wachsendem Maße Gruppen der Bevölkerung, die sich bisher als über der Arbeiterklasse stehend fühlten (wie zum Beispiel Angestellte und Techniker) zu Arbeitern, die sich ebenfalls gezwungen sehen, sich zu organisieren wie die Produktionsarbeiter.

Schließlich erlaubt die Weiterentwicklung des Nachrichten- und Verkehrswesens Eisenbahnen, Straßen, Flugzeuge, Post, Telefon, Radio und Fernsehen – den Arbeitern, außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft und ihrer eigenen Industrie, mit anderen Arbeitern zu verkehren. Sie können sich als Klasse national und international zusammenschließen, was sich frühere unterdrückte Klassen nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten.

Zum anderen liegt das revolutionäre Potential der Arbeiter darin, daß sie gemeinsam kämpfen müssen. Es ist sinnlos, wenn ein einzelner Arbeiter seinen Chef anruft und von ihm Lohnerhöhung oder die Erhaltung seines Arbeitsplatzes fordert. Um ihre Lage zu verbessern, müssen die Arbeiter sich zusammenschließen und kollektiv handeln. Und der nächste Schritt muß sein, Unterstützung und Solidarität der Arbeiter in anderen Wirtschaftszweigen zu organisieren. Die Logik des Kampfes der Arbeiterklasse ist immer die Ausweitung der kollektiven Aktion.

Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen, wie die Arbeiterklasse die Produktionsmittel in Besitz nehmen kann, die Fabriken, die Werkstätten, die Gruben usw. Sie kann es offensichtlich nicht in Form von Einzelpersonen. Man kann nicht eine Grube, eine Fabrik oder eine Eisenbahn aufteilen und jedem Arbeiter ein Stück geben, wie man Land unter den kleinen Bauern aufteilen kann. Die einzige Lösung ist die kollektive Inbesitznahme aller Betriebe.

Das ist der Grund, warum der Kampf der Arbeiterklasse, wenn er erfolgreich ist, zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft führt, zum gesellschaftlichen Besitz und der gesellschaftlichen Kontrolle aller Produktionsmittel, und warum er die Spaltung der Gesellschaft in Klassen beendet.

Die Tatsache, daß keine andere Klasse dieses Merkmal aufweist, heißt, daß nur die Arbeiterklasse den Sozialismus schaffen kann. Keine andere soziale Kraft kann sie ersetzen. Oder wie Marx gesagt hat:

„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“

Die Arbeiterklasse ist die Kraft, die nicht nur gegen die bestehende Gesellschaft rebelliert, sondern die sich selbst organisieren, ihre eigenen Vertreter wählen und kontrollieren kann, um so die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse zu verändern, statt bloß wieder einem neuen Kaiser oder einer neuen Gruppe von Bankiers an die Macht zu verhelfen.

Oder wie Marx es ausdrückte:

„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten (Minderheiten) oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011