Gustav Eckstein

Die Philosophie im Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts

Eine Antikritik

(1908)


Gustav Eckstein, Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Antikritik, Die neue Zeit, 26. Jg., 1. Bd. (1908), H. 20, S. 701–708.
https://library.fes.de/cgi-bin/neuzeit.pl?id=07.06609&dok=1907-08a&f=190708a_0701&l=190708a_0708.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die stattliche Festschrift [1], welche unter dem oben angeführten Titel erschienen ist enthält eine Reihe von Aufsätzen, welche gerade für uns vielfach von besonderem Interesse sind, weil die in ihnen ausgesprochenen Anschauungen mit den unserigen in scharfen: Widerspruch stehen, weshalb eine Auseinandersetzung geboten erscheint. Die Schrift entspricht nämlich ihrem Titel insofern nicht vollkommen, als in ihr fast nur Vertreter der neukantischen, „kritischen“ Philosophie zu Worte kommen, wenn auch der Standpunkt der Autoren nicht in allen Einzelheiten der gleiche ist. Eine ziemlich weitgehende Ungleichartigkeit dieser Abhandlungen ist schon dadurch bedingt, daß die einzelnen Mitarbeiter ihre Aufgabe verschieden aufgefaßt haben. So bietet Wundt ein objektives Referat über den heutigen Stand der psychologischen Forschung; Tröltsch sucht in seiner Abhandlung über Religionsphilosophie die verschiedenen Seiten dieses Problems möglichst gleichmäßig zu beleuchten; ebenso stellt Windelband in seiner Besprechung der modernen Logik die Aufzeigung der Entwicklungstendenzen, welche sich in der letzten Zeit auf diesem Gebiet geltend gemacht haben, in den Vordergrund und läßt das Polemische dagegen zurücktreten. Immerhin macht sich hier der eigentümlich neukantische Standpunkt schon stärker und einseitiger fühlbar in der Abweisung des evolutionistischen Psychologismus sowie in der scharfen Scheidung zwischen „Naturwissenschaften, die auf Erkenntnis von Gesetzen des Geschehens gerichtet sind, und historischen Wissenschaften, die auf die Einsicht der besonderen, durch allgemein gültige Wertbeziehungen ausgezeichneten Ereignisse gewiesen sind“. Doch wird diese für die neukantische Methodologie so wichtige Lehre hier nur gestreift. Auch könnte auffallen, daß die neuere Dialektik, wie sie von Marx und Dietzgen ausgebildet wurde und bei modernen Positivisten anklingt, überhaupt nicht berührt wird.

Ganz anders hat Bauch seine Aufgabe aufgefaßt. In seiner Abhandlung über Ethik bemüht er sich gar nicht, ein objektives Referat über die Strömungen zu geben, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Ethik beherrschen. Für ihn hat überhaupt nur die „kritische Ethik“, das heißt die an der kritischen Philosophie Kants orientierte Ethik, wissenschaftlichen Wert. Den Utilitarismus sowie die Ethik auf biologischer Grundlage verdammt er als unkritisch und dogmatisch. Mit sichtlicher Befriedigung zitiert er ausführlich Nietzsches Ausfälle gegen den „pönelmännischen Instinkt“ der „utilitarischen Tölpel“. Aber auch dessen ethische oder eigentlich „immoralistische“ Anschauungen findet er unzulänglich, da sie ebenfalls auf naturalistischer Basis fußen. In Nietzsche habe sich die naturalistische Ethik selbst aufgehoben, nicht aber die Ethik als solche, denn auf dem Grabe des ethischen Naturalismus pflanze die kritische Ethik siegreich ihr Panier auf, deren oberstes Prinzip die Autonomie, die sittliche Freiheit sei. „Mein Wollen“, lautet die prinzipielle Formulierung bei Bauch, „hat Wert, ist ein geselltes Wollen, wenn ich so will, daß ich von jedem anderen an meiner Statt dasselbe Wollen fordern dürfte.“ Wenn dies der Weisheit letzter Schluß sein soll, muß man wohl darüber staunen, daß Bauch sich bei Besprechung des „ethischen Dogmatismus“ darüber lustig macht, daß dessen Moralmaxime eigentlich auf des alte Sprüchlein hinauslaufe: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“ Wie sich nun zeigt, führt die erhabene kritische Ethik auf dem Umweg über überempirische Werte genau zu demselben philiströsen Resultat.

Das Hauptargument, mit dem die naturalistische Ethik bekämpft und die kritische verfochten wird, ist, daß Naturgesetze als solche nie einen Wertmaßstab abgeben können. Der konsequente Naturforscher kenne darum auch bei seiner Forschung keine Beziehung auf irgendwelche Werte; jede Beurteilung weiß über das bloß Naturtatsächliche hinaus, auf eine über der Natur stehende Norm. Etwas Tatsächliches bloß deshalb, weil es Tatsache sei, zu einem Werte zu erheben, sei unkritischer Dogmatismus.

Es ist nicht zu verkennen, daß diese Argumentation tatsächlich die meisten naturalistischen ethischen Systeme trifft; denn diese sind nach absoluten Werten orientiert, und solche lassen sich auf dem Gebiet der Empirie nicht finden. Das beweist aber nichts gegen die Möglichkeit, ethische Probleme auf Grundlage der Erfahrung zu behandeln, sondern nur gegen die Methode, die in der Regel dabei eingeschlagen wird.

In dem ersten Abschnitt seiner Abhandlung über Ästhetik hält Groß ein glänzendes Plädoyer für die Berechtigung psychologischer Behandlung ästhetischer Probleme, damit aber zugleich aller „normativen Wissenschaften“. Er zeigt, wie der psychologische Ästhetiker auch wohl berechtigt ist, Wertentscheidungen anzunehmen und hypothetisch weitere von diesen abzuleiten. Zu absoluten Wertentscheidungen könne aber auch die kritische Ästhetik nicht gelangen. Denn auch im erkenntniskritischen Gebiet komme man ohne „Wenn“ nicht aus. „Der Erkenntnistheoretiker geht von der Annahme oder dem Wunsche aus, daß notwendige und allgemeingültige Erkenntnisse vorhanden seien, und sucht nach logischer, das heißt vom individuellen Erlebnis absehender Methode das Prius aller Einzelerkenntnisse im Begriff der Gesetzmäßigkeit des „Bewußtseins überhaupt“. Diese Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit seien aber unbeweisbare Postulate. Der Psychologe bleibe sich dessen bewußt und gehe daher über den Rahmen des subjektiven Bewußtseins der Evidenz nicht hinaus.

Diese ganze Beweisführung ist auf das Gebiet der Ethik genau so anwendbar wie aus das der Ästhetik. Bei einer psychologischen Behandlung der Ethik wird es sich also darum handeln, die psychischen Gesetze ethischer Wertschätzung zu finden. Sind wir nun dazu gekommen, die Entstehung und Ausbildung ethischer Werte und Wertsysteme aus der ökonomischen Struktur der Gesellschaft zu verstehen, für welche diese Werte gelten sollen, so werden wir auch beurteilen können, welche ethischen Anschauungen dem Verfall anheimgegeben sind und welche der Zukunft angehören, sobald wir die Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung erkannt haben. Ob diese neue Ethik auch „höher“ steht als die untergehende, das ließe sich allerdings nur an einem absoluten moralischen Werte messen. Aber diesen könnte nur ein Wesen finden, das psychologisch nicht mehr bedingt, das aller natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung entrückt ist. Wir Menschen müssen bescheidener sein und uns mit relativen Werten begnügen, deren subjektive Bedingtheit mir erkennen. Wir können also zum Beispiel aus der Klassenlage der Bourgeoisie auf ihren ethischen Individualismus schließen, dem die solidaristische Ethik des Proletariats gegenübersteht. Wir können auch bestimmen, daß die proletarische Ethik siegreich bleiben wird; welche dieser beiden Auffassungen wir aber als die „höherstehende“ auffassen, das wird von der Stellung abhängen, die wir selbst zu den kämpfenden Parteien einnehmen; und diese wird mehr durch Gefühle, also durch unsere Lebensschicksale, Klassenlage und andere psychologische Faktoren bestimmt als durch Reflexionen, deren Richtung und Charakter vielmehr erst von jenen abhängig ist. Wer sich darüber nicht klar wird, sucht die Überlegenheit seiner ethischen Anschauungen allgemeingültig zu beweisen, und dazu muß er sich ein absolutes ethisches Ideal konstruieren. Auf dem uferlosen Gebiet metaphysischer Dichtung sind solche Konstruktionen freilich billig wie Brombeeren.

Zu welchen Sophismen dieses Streben nach Aufstellung absoluter Werte führt, dafür liefert gerade Bauch ein gutes Beispiel. Die Existenz allgemeingültiger Wertmaßstäbe beweist er in folgender Weise: als allgemeingültig wüßte ein solcher Maßstab den Anspruch erheben können, von allen vernünftigen Wesen in seiner Geltung selbst anerkannt zu werden. Er kann sich daher nur auf Vernunft gründen lassen, er muß aus der Vernunft herfließen, die selbst der Inbegriff des Geltens ist. Den allgemeingültigen Wert überhaupt und als solchen leugnen, hieße eben darum die Vernunft selber leugnen.

Diese Schlußwendung ist nicht nur überraschend, sondern auch falsch; im Sinne des Verfassers müßte es heißen, die Leugnung allgemeingültiger Werte sei gleichbedeutend damit, daß der Vernunft die Möglichkeit bestritten werde, zu allgemeingültigen, absoluten Wahrheiten vorzudringen; und diese wird eben bestritten. Außerdem aber macht sich hier bereits die Tendenz geltend, die in den weiteren Ausführungen Bauchs noch deutlicher wird, den Begriff des „Geltens“ in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen zu nehmen: einmal als logische Evidenz, das andere Mal als ethisches Postulat, eine Verwechslung, deren Unstatthaftigkeit Max Adler wohl genügend klar nachgewiesen hat. [2]

Diese Aufstellung überempirischer Werte als Richtpunkte der Wissenschaft ist eigentlich das charakteristischste Merkmal der neukantischen Richtung auf sozialphilosophischem Gebiet. Für sie ist Philosophie gleichbedeutend mit kritischer Wertlehre. Da nun diese ganze Richtung, wie Lask in seiner Abhandlung über Rechtsphilosophie sagt, im wesentlichen eine Reaktion gegen den „marxistischen Naturalismus“ darstellt, können wir in der Reihe von Abhandlungen, welche dieses Gebiet behandeln, einen Auszug aller für den Marxismus tödlich seinen Säfte erwarten. Es kommen hier hauptsächlich die ausführliche und sehr interessante Abhandlung Rickerts über Geschichtsphilosophie, in zweiter Linie Lasks Studie über Rechtsphilosophie und Windelbands Beitrag über Geschichte der Philosophie in Betracht.

Die entscheidende Frage ist die nach der Möglichkeit historischer Gesetze. Rickert führt aus: Wenn man das Verfahren der Naturwissenschaften ohne weiteres naiv auch aus die Geschichte anwende, übersehe man, daß die Ziele dieser Wissenschaften ganz verschieden seien. Während es sich den Naturwissenschaften lediglich um die Erfassung des Allgemeinen in dem gegebenen Substrat hadle, sei das Interesse in der Geschichtswissenschaft gerade auf das Individuelle gerichtet, auf das schlechthin Einmalige. In der Wirklichkeit wiederhole sich zwar überhaupt nichts; aber die Naturwissenschaften vollziehen eben unter den Merkmalen ihrer Materialien eine Auslese in der Richtung, daß sie das ihnen Gemeinsame hervorheben; die Geschichte finde aber als ihr Material überhaupt nicht mehr die Wirklichkeit selbst vor, sondern die vorwissenschaftlichen Zusammenfassungen und Begriffsbildungen, welche bereits Produkte einer allerdings unbewußten Auslesearbeit seien. Aus diesen hat die Geschichtswissenschaft durch bewußte Auslese ihre wissenschaftlichen Begriffe zu bilden und das Material zu ordnen, wobei ihr als Richtpunkte die Kulturgebiete dienen, denen sie ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Während also in den Naturwissenschaften der Wert, nach dem bestimmt wird, ob ein Merkmal in Betracht zu ziehen ist oder nicht, mit dessen Allgemeinheit zusammenfällt, komme für die geschichtliche Darstellung als wertvoll nur das in Betracht, was als in bezug auf ein bestimmtes Kulturinteresse relevant anzusehen ist. Hier könne man daher nicht von Gesetzen sprechen, da solche sich nur auf Allgemeines beziehen können, dieses aber prinzipiell gerade von der Geschichte ausgeschlossen ist; die Orientierung der Geschichte erfolge also nicht nach Gesetzen, sondern nach Kulturwerten. Nicht die Gesetzlichkeit der Geschichte sei der Gegenstand der Forschung, sondern ihr Sinn. Das Vereinzelte als solches sei allerdings auch hier nicht Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Es komme stets auf den Zusammenhang an, und zwar komme es in der Geschichte auf die Beziehungen an, welche das Objekt mit seiner Umgebung verbinden, sowie auf das Studium seiner Entwicklung, und dabei handle es sich nicht um die bloße Aufzählung von Ereignissen, sondern darum, die notwendige Abfolge von Ursachen und Wirkungen aufzuweisen. Der Nachweis solcher Kausalzusammenhänge bedeute durchaus nicht, daß die Geschichte gesetzmäßig ablaufe; denn Kausalzusammenhänge sind als solche noch indifferent gegenüber den Unterschieden der Methode, das heißt sie gestatten sowohl eine generalisierende als eine individualisierende Auffassung.

Wenn man sich nun auch in keine Auseinandersetzung über das Wesen der Kausalität einläßt, so ist doch so viel klar, daß die Konstatierung eines Kausalzusammenhanges nur bei generalisierender Betrachtungsweise möglich ist. Individuell kann jeder einzelne Ursache und Wirkung nur bei sich selbst auffassen, das heißt insofern er in einem konkreten Falle das Gefühl des Ursacheseins hat. Sonst kann Kausalität jedenfalls nur aus einem regelmäßigen Zusammentreffen bestimmter Arten von Erscheinungen erschlossen werden; und das Verfahren, das zu diesem Zwecke eingeschlagen werden muß, ist in der Geschichtswissenschaft kein anderes als in den Naturwissenschaften.

Sehen wir uns zum Beispiel das Vorgehen des Geologen an. Er untersucht einen Gebirgszug. Das Material ist ihm hier ebenso durch vorwissenschaftliche Begriffsbildung gegeben, wie dem Historiker zum Beispiel des Gildenwesens das seinige. Der Geologe hat nun zunächst eine möglichst genaue Beschreibung seines besonderen Objektes zu versuchen, und zwar mit sorgfältiger Auslese derjenigen Elemente, die geologisch bedeutsam sind. Auf dieser Basis fußend, macht er den Versuch, sich das Zustandekommen des jetzigen Zustandes auszumalen, indem er den individuellen Fall mit anderen vergleicht und die anderwärts bereits gewonnenen allgemeinen Gesetze auch nun auf seinen Fall anwendet. Andererseits wird er durch seine Erfahrungen an diesem individuellen Objekt vielleicht die bis dahin herrschenden Anschauungen in seiner Wissenschaft berichtigen. So ist keine wissenschaftliche Untersuchung möglich ohne innigstes Zusammenwirken der individualisierenden mit der generalisierenden Methode. – Genau dasselbe Verfahren wendet der Historiker an, der zum Beispiel die Entstehung eines bestimmten Staatswesens studiert. Sowie er über den Rahmen der bloßen Chronik hinausgeht, muß er, um Zusammenhänge aufweisen zu können, aus allgemeine Gesetze zurückgreifen. Wollte zum Beispiel ein Historiker das Genie Luthers als ausschließliche Ursache der deutschen Reformation nachweisen, so müßte er zunächst durch Heranziehung anderer historischer Beispiele mindestens wahrscheinlich machen, daß große geistige und soziale Bewegungen durch das Austreten von geistigen Heroen hervorgerufen wurden. Er müßte zeigen, wie ähnliche Bewegungen unter ganz anderen Verhältnissen durch ein ähnliches Auftreten eines großen Mannes entstanden sind. Kurz, es bliebe ihm nichts übrig, als die in den Naturwissenschaften übliche Methode der Variation aus das historische Gebiet anzuwenden.

Tatsächlich sind die historische und die generalisierende Methode durchaus nicht identisch, und es wäre sehr verfehlt, sie zu vermengen; insofern sind die Untersuchungen Rickerts, Windelbands und der Anhänger ihrer Methodologie sehr verdienstvoll; aber sie übersehen, daß die Anwendung beider Methoden auf allen Wissensgebieten notwendig ist. Überall bildet den Grundstock der Untersuchung eine individualisierende Beschreibung, eine Historie der einzelnen Objekte, wobei nach bestimmten, durch den Zweck der Untersuchung bedingten Richtungen eine Auswahl der Elemente zu treffen ist; denn nur diese sind eben für diese Untersuchung „wertvoll“. Bei manchen Naturwissenschaften scheint diese Vorarbeit allerdings wegzufallen, nämlich dort, wo sie durch vorwissenschastliche Begriffsbildung bereits erledigt ist. Erst wenn das Material so geordnet ist, kann die generalisierende Methode mit Erfolg angewendet werden. Wird sie es nicht, so bleibt das Material trotz der Orientierung nach „Wertgesichtspunkten“ eine tote Masse, ein unnützer Ballast. Der Hauptunterschied ist nur der, daß in den Naturwissenschaften gewöhnlich diese beiden Arbeiten von derselben Disziplin verrichtet werden; in den Kulturwissenschaften ober ist bisher Historie, wozu auch Statistik und so weiter zu rechnen ist, von der generalisierenden Wissenschaft, der Soziologie, getrennt geblieben. In Wirklichkeit kann ja auch der Historiker nie aus die Erkenntnis sozialer Gesetze verzichten, da er sonst zum bloßen Chronisten herabsinken würde; aber er glaubt, ihrer entraten zu können, da das bloß Historische, das Individuelle gerade auf diesem Gebiet schon interessant genug erscheint, um den Gegenstand einer eigenen, selbständigen Wissenschaft abzugeben. Das ist aber insofern nur ein Schein, als, wie Rickert selbst sagt, „nur die Objekte historisch wesentlich werden, die mit Rücksicht auf gesellschaftliche oder soziale Interessen Bedeutung besitzen“, das heißt diejenigen, welche als soziale Ursachen oder Wirkungen wichtig sind. Mithin ist jede historische Individualität nur insoweit von Interesse, als sie vom generalisierenden Standpunkt betrachtet wird; denn anders kann von Ursache und Wirkung nicht gesprochen werden. So viel ist allerdings richtig, und daher entspringt eben auch der Irrtum der Auffassung, daß wir uns mit um so inhaltsärmeren Abstraktionen begnügen, je geringer unser praktisches Interesse an dem Gegenstand einer Wissenschaft ist. In der Astronomie sehen wir von allen Qualitäten ab und betrachten nur Bewegungsgrößen, die weitest getriebenen, daher aber auch inhaltsärmsten Abstraktionen. An den Gegenständen der Biologie zum Beispiel haben wir schon ein ungleich stärkeres praktisches Interesse; wir begnügen uns daher nicht mehr mit der bloßen Betrachtung der Organismen als physikalischer Körper, eine Betrachtungsweise, die ja an und für sich möglich wäre, sondern wir gehen mehr in Details, das heißt wir gehen zu Abstraktionen geringeren Grades über. Noch größer ist natürlich unser praktisches Interesse an den sozialen Erscheinungen, besonders unseres eigenen Volkes. Noch für das Studium der unzwilisiertm Völker gilt faktisch auch nach Rickert eine generalisierende Methode, die der Anthropologie und Ethnologie. Bei ihnen begnügen wir uns mit relativ weitgehenden Schematisierungen. Je weiter wir aber zu unserem eigenen Volke und Staatswesen vordringen, desto spezieller werden unsere Interessen. Darum ist es zum Beispiel für uns leichter, in der Geschichte Japans allgemeine Gesetze nachzuweisen als in der Deutschlands. Es ist nicht die genauere Kenntnis der Geschichte, die uns hier hemmend entgegentritt, sondern die Spezialisierung des Interesses. Diese ist also nichts der Menschheitsgeschichte spezifisch Eigenes, sondern es besteht nur ein gradueller Unterschied. In jedem individuellen Interesse liegt ein generelles Moment, jedes generelle Interesse stützt sich ans individuelle und geht aus ihnen hervor. Eine scharfe Scheidung hat hier wie überall nur relative Berechtigung, das heißt sie darf nur zu bestimmten Zwecken vorgenommen werden und muß stets von dem Bewußtsein ihrer Relativität begleitet sein.

Nun gibt Rickert selbst zu, daß es „jedenfalls ein durchaus berechtigtes Unternehmen ist, nach Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen zu forschen“. Aber wenn auch so scheinbar dasselbe Material einmal individualisierend, das andere Mal generalisierend betrachtet werde, so folge daraus nicht, daß die Soziologie, welche nach Gesetzen forscht, nun die Rolle der Geschichtsphilosophie übernehmen könne. Denn diese Identität des Stoffes gelte nur für den, der in naivem Begriffsrealismus „unsere vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Auffassung der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst verwechselt“. Aber gilt nicht dasselbe zum Beispiel für den Geologen, der die Alpen zuerst ganz individuell studiert, untersucht und beschreibt und dann auf Grund einer Vergleichung dieser Beschreibung mit der anderer, ebenfalls individualisierend studierter Gebirgszüge die allgemeinen Gesetze des Aufbaus der Gebirge zu finden sucht? Es entspricht wohl demselben „naiven Begriffsrealismus“, diesen methodischen Unterschied in den Naturwissenschaften zu übersehen.

Der Haupteinwand, den Rickert dagegen macht, daß die Soziologie den Anspruch erhebt, die Gesetzeswissenschaft des historischen Geschehens zu sein, ist aber der Hinweis darauf, daß „die Geschichtsphilosophie nicht Philosophie des Objektes einer historischen Spezialuntersuchung, sondern Philosophie des Objektes der Universalgeschichte zu sein und zugleich die Prinzipien des historischen Universums festzustellen hat“. Das Prinzip des historischen Universums könne aber kein Gesetz sein. In dieser Argumentation ist in zweifacher Hinsicht vorausgesetzt, was zu beweisen wäre.

Zunächst ist die scharfe Trennung des „historischen Universums“ von der übrigen Natur weder in der Praxis wirklich durchführbar, noch theoretisch zu rechtfertigen. Für den Neukantianer ist allerdings noch immer die menschliche Vernunft etwas im Wesen vom „tierischen Instinkt“ Verschiedenes. Während dieser der Natur angehört, ist jener nach ganz anderen Gesichtspunkten zu betrachten und zu beurteilen. Die Entwicklungslehre, welche das Denken des letzten Jahrhunderts revolutioniert hat, ist an ihrer Erkenntniskritik nicht nur spurlos vorübergegangen, sondern diese Schule ist bewußt von Kant abgewichen, um sich gegen das Eindringen des evolutionistischen Geistes zu wehren. Es ist daher nur konsequent, wenn Rickert den Einfluß der Biologie aus die moderne Philosophie leugnet, wobei er allerdings eben nur die neukantische Lehre im Auge hat. Nur von ihrem dogmatischen Standpunkt aus ist eine solche absolute Trennung zwischen Menschheitsgeschichte und Naturgeschehen denkbar. Ferner aber ist es nur selbstverständlich, daß für ein Universum als solches keine Gesetze Geltung haben können. Denn deren Inhalt ist stets die Konstatierung einer Abhängigkeit. Das Universum kann aber von nichts außer ihm abhängig sein, da es sonst eben nicht universell wäre. Für das Weltganze gibt es auch keine Gesetze. Diese können stets nur die Abhängigkeit einzelner Teilstücke von anderen feststellen. Wenn Rickert behauptet, die generalisierenden Wissenschaften dächten nie daran, die Teile der Welt als Glieder des Ganzen zu betrachten, so ist das einfach ein Irrtum. Gerade die modernen Naturwissenschaften behandeln immer mehr ihre Spezialgebiete bewußt als Teile eines umfassenden Zusammenhangs. Das hindert sie aber keineswegs, nach Gesetzen für den Zusammenhang der Teile zu suchen. Will man freilich suchen, wovon das Universum als solches abhängt, dann muß man den Rahmen der Welt verlassen und sich in den blauen Dunst der Metaphysik begeben. Für Rickert ist die Menschenwelt ein geschlossenes Universum für sich. Bei dem Bestreben, das Prinzip dieses Universums zu finden, das nicht für die Teile gilt, sondern für das Ganze, kommt Rickert notwendig in das Bereich der außerweltlichen, überempirischen Werte. Vergeblich müht er sich dann ab, sich aus den Fußangeln der Metaphysik zu retten. Er selbst ist gezwungen, den Zirkel aufzuzeigen, zu dem ihn sein Standpunkt zwingt und dem er nicht entrinnen kann. „Wir bedürfen,“ sagt er, „des Zeitlosen, um dem zeitlichen geschichtlichen Verlauf einen objektiven Sinn abzugewinnen. So bald wir aber dies Zeitlose als metaphysische Realität setzen und damit dem geschichtlichen Verlauf die wahre Realität nehmen, vernichten wir jeden Sinn der Geschichte und jede Möglichkeit ihrer philosophischen Behandlung.“ Er muß sich daher resignieren, „auch bei der philosophischen Behandlung der Universalgeschichte in den zeitlosen Werten und ihrer notwendigen, aber wissenschaftlich unbestimmbaren Beziehung auf die zeitliche Realität die letzten Voraussetzungen zu sehen, bei denen wir stehen zu bleiben haben“. Also ein neues „Ignorabimus“. Mit der Metaphysik geht es eben wie mit dem Teufel; reicht man ihr nur die Fingerspitze, so nimmt sie den ganzen Kopf.

Nun ist aber noch besonders hervorzuheben, daß hier unter „Wert“ etwas völlig anderes verstanden wird als bei der ersten methodologischen Untersuchung. Dort wurde damit lediglich die Wichtigkeit bezeichnet, welche ein Wissenselement für einen bestimmten Erkenntniszweck besitzt. Von ethischer Wertung ist dabei, wie auch Rickert hervorhebt, gar nicht die Rede. Wenn ich zum Beispiel die Geschichte der Prostitution oder der Blockpolitik schreiben will und zu diesem Zweck das historische Material sichte, das heißt die für die Untersuchung „wertvollen“ Daten sammle, brauche ich deshalb noch lange keine Wertschätzung für diese schönen Dinge selbst zu empfinden. Ganz anders aber ist die Bedeutung jener „transzendenten Werte“, nach denen sich die Geschichte zu orientieren hat, jene übersinnlichen Richtpunkte, die das Prinzip der Universalgeschichte darstellen sollen. Das sind Werte im ethischen Sinne. Ihrer Einführung ist vorgearbeitet durch die unverfänglich erscheinende Anwendung desselben Ausdrucks für jene Erkenntniswerte.

Nachdem es Kant gelungen, die metaphysische Spekulation aus dem Gebiet der Wissenschaft zu verbannen, war es seinen Jüngern vorbehalten, dich durch eine Hintertüre wieder einzuführen. Aber sie selbst müssen zugeben, daß wir Naturalisten uns mit Recht gerade aus das theoretische Hauptwerk ihres Altmeisters stützen können. Wenn Rickert dagegen den Nachweis unternimmt daß auch der materialistischen Geschichtsauffassung Wertbeziehungen unbewußt zugrunde liegen, so ist das ein Mißverständnis, das nur dadurch erklärlich wird, daß er sich in seine Theorie der Werte als Einheitsprinzipien der Geschichte vollkommen festgerannt haben muß. Denn daß die psychologischen Gründe, welche Marx und Engels zur Aufstellung ihrer Theorie geführt haben, etwas ganz anderes sind als die Theorie selbst, kann einem Denker wie Rickert doch nicht entgangen sein. Und doch faßt er diese Theorie so auf, daß er behauptet, der erhoffte Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie sei der absolute Wert, nach dem die ganze Theorie orientiert sei, und da sich dieser Kampf in erster Linie um wirtschaftliche Güter drehe, sei nun das wirtschaftliche Leben als die Hauptsache überhaupt aufgefaßt, als das „eigentlich Wirkliche“, während dem ganzen übrigen Kulturleben nur eine Existenz geringeren Grades zugestanden werde. Nachdem Rickert so den Sinn der ökonomischen Geschichtstheorie in sein Gegenteil verdreht hat, kann er dann fragen, ob denn der Sieg des Proletariats wirklich das absolute Gut darstelle, eine Frage, deren Bejahung er mit einer etwas pharisäischen Wendung für „von vornherein nicht sehr wahrscheinlich“ erklärt. Es ist freilich nicht schwer, eine Lehre zu widerlegen, wenn man zuerst ihren Sinn nach eigenem Gutdünken in sein Gegenteil verkehrt hat.

Die neukantische Lehre der wesentlichen Verschiedenheit der Kulturwissenschaften von den Naturwissenschaften stellt heute unzweifelhaft die geistvollste und stärkste Waffe gegen den Marxschen „Naturalismus“ dar. Sie nimmt auf philosophischem Gebiet ungefähr die Stellung ein wie die Grenznutzentheorie auf ökonomischen. Aber ich denke, wir brauchen beide Gegner nicht zu scheuen.

* * *

Anmerkungen

1. Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, herausgegeben von W. Windelband. (Heidelberg, C. Winter. Band 1, enthaltend: Liebmann, An Kuno Fischer zu seinem achtzigsten Geburtstag; Wundt, Psychologie; Bauch, Ethik; Tröltsch, Religionsphilosophie; Windelband, Logik; 1904, 5 Mark. Band 2, enthaltend: Lask, Rechtsphilosophie; Rickert, Geschichtsphilosophie; Groß, Ästhetik; Windelband, Geschichte der Philosophie; 1905, 5,40 Mark.)

2. Marx-Studien, Band 1, Max Adler, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft, S. 334 ff.


Zuletzt aktualisiert am 16. Oktober 2024