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Systematisierung ist das Wesen, ist der generelle Ausdruck für die gesamte Tätigkeit der Wissenschaft. Die Wissenschaft will nichts weiter, als die Objekte der Weit für unseren Kopf in Ordnung und System bringen. Die wissenschaftliche Erkenntnis einer Sprache z. B. fordert ihre Einteilung oder Ordnung in allgemeine Klassen und Regeln. Die Ackerbauwissenschaft will nicht, dass die Kartoffeln nur geraten, sondern für die Art und Weise des Anbaues die systematische Ordnung finden, deren Kenntnis instand setzt, mit Vorausbestimmung des Erfolges zu bauen. Das ist das praktische Resultat aller Theorie, dass sie uns mit dem System, mit der Methode ihrer Objekte bekannt macht und also befähigt, in der Welt mit Vorausbestimmung des Erfolges zu agieren. Erfahrung ist wohl die Voraussetzung dazu; aber allein reicht sie nicht aus. Erst die aus ihr entwickelte Theorie, die Wissenschaft, erlöst vom Spiel des Zufalls. Sie verschafft uns mit dem Bewußtsein die Herrschaft über den Gegenstand und unbedingte Sicherheit in seiner Handhabung.
Der einzelne kann nicht alles wissen. Sowenig wie die Geschicklichkeit und Kraft seiner Hände ausreicht, alles zu produzieren, was er bedarf, sowenig reicht die Fähigkeit seines Kopfes aus, alles zu wissen, was not tut. Glaube ist dem Menschen notwendig. Jedoch nur der Glaube an das, was andere wissen. Die Wissenschaft ist ebenso wie die materielle Produktion eine gesellschaftliche Angelegenheit. „Einer für alle und alle für einen.“
Wie es aber leibliche Bedürfnisse gibt, die jeder nur sich selbst besorgen kann und soll, so gibt es auch wissenschaftliche Objekte, die zu wissen von allen erfordert ist, und deshalb nicht irgendeiner besonderen Fachwissenschaft angehören.
Ein solcher Gegenstand ist das menschliche Denkvermögen: die Erkenntnis, das Verständnis, die Theorie desselben kann keiner besonderen Zunft überlassen sein. Wohl mit Recht sagt Lassalle: „Das Denken selbst ist in diesem Zeitalter der Teilung der Arbeit zu einem besonderen Handwerk geworden, und in die elendesten Hände ist dieses Handwerk gefallen – in die unserer Zeitungen.“ Damit sind wir angewiesen, uns diese Bedienung nicht länger gefallen, von der öffentlichen Meinung uns nicht länger harangieren zu lassen, sondern das Selbstdenken wiederaufzunehmen. Einzelne Gegenstände des Wissens oder der Wissenschaft mögen wir Fachleuten überlassen, aber das Denken im allgemeinen ist eine allgemeine Angelegenheit, die niemand kann erlassen sein.
Vermöchten wir diese Arbeit des Denkens auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen, dafür eine Theorie zu finden, vermöchten wir die Art und Weise zu entdecken, wie die Vernunft überhaupt Erkenntnisse zeugt, oder die Methode zu finden, nach welcher sich die wissenschaftliche Wahrheit produziert, so würden wir auf dem Gebiete des Wissens überhaupt, für unsere Urteilskraft im allgemeinen dieselbe Sicherheit des Erfolgs erwerben, welche in besonderen Disziplinen die Wissenschaft schon längst erworben hat.
Kant sagt: „Wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht verfolgt werden soll, einhellig zu machen, so kann man überzeugt sein, dass ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei.“
Sehen wir uns heute nun in den Wissenschaften um, so finden wir da viele, vornehmlich die Naturwissenschaften, welche der Anforderung Kants entsprechen, welche mit sicherem Bewußtsein, mit widerspruchsloser Einhelligkeit bei ihren gewonnenen Erkenntnissen beharren und sie weitertragen. „Dort weiß man,“ wie Liebig sagt, „was eine Tatsache, ein Schluß, eine Regel, ein Gesetz ist. Für alles dies hat man Probiersteine, die jeder erst gebraucht, ehe er die Früchte seiner Arbeit in Zirkulation setzt. Die advokatorische Durchführung einer Ansicht oder die Absicht, einen andern etwas Unbewiesenes glauben zu machen, scheitern augenblicklich an der wissenschaftlichen Moral.“
Dagegen auf anderen Gebieten, dort wo man die konkreten materiellen Dinge verläßt und sich abstrakten, sogenannten philosophischen Gegenständen zuwendet, in Sachen der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, in den Fragen von Anfang und Ende, von Schein und Wesen der Dinge, ob Ursache oder Wirkung, ob Kraft oder Stoff, ob Macht oder Recht, in Fragen der Lebensweisheit, in der Moral, der Religion, der Politik – da finden wir statt „schlagender beweisender Tatsachen“ nur „advokatorische Durchführungen“, nirgends ein zuverlässiges Wissen, sondern überall nur ein bloß Herumtappen widersprechender Meinungen.
Ja gerade die Koryphäen der Naturwissenschaft bekunden sich durch ihre Mißhelligkeit bei der Berührung solcher Themen als philosophische Pfuscher. Daraus ergibt sich dann, dass die wissenschaftliche Moral, die Probiersteine, deren man für die scharfe Unterscheidung zwischen Wissen und Meinen zu besitzen sich rühmt, nur auf einer instinktiven Praxis, aber nicht auf bewußter Erkenntnis, auf keiner förmlichen Theorie beruhen. Obgleich auch unsere Zeit sich auszeichnet durch fleißige Kultur der Wissenschaft, so bezeugt doch auch wieder ihre vielfältige Meinungsverschiedenheit, dass sie nicht versteht, das Wissen mit Vorausbestimmung des Erfolges zu handhaben. Woher sonst die Mißverständnisse? Wer das Verstehen versteht, darf nicht mißverstehen. Nur die unbedingte Sicherheit der astronomischen Rechnungen zeugt für ihre Wissenschaftlichkeit. Wer zu rechnen versteht, weiß wenigstens zu erproben, ob seine Rechnung wahr oder falsch ist. So muss auch das allgemeine Verständnis des Denkprozesses uns den Probierstein an die Hand geben, das Verstandene vom Mißverstandenen, das Wissen vom Meinen, Wahrheit und Irrtum allgemein und unzweifelhaft zu unterscheiden. Irren ist menschlich, aber nicht wissenschaftlich. Da nun die Wissenschaft eine menschliche Sache ist, mögen Irrtümer ewig bleiben, aber dass man dieselben für wissenschaftliche Wahrheiten ausgibt und, noch mehr, sie allgemein dafür akzeptiert, davon wird das Verständnis des Denkprozesses „ ebensoweit befreien können, wie das Verständnis der Mathematik von falschen Rechnungen befreien kann. Es klingt paradox und ist dennoch wahr: Wer die allgemeine Regel, welche Wahrheit und Irrtum scheidet, so genau kennt wie die Regel der Sprachlehre, welche das Hauptwort vom Zeitwort trennt, wird dort wie hier mit gleicher Sicherheit unterscheiden. Von jeher haben Gelehrte sowohl wie Schriftgelehrte einander in Verlegenheit gesetzt mit der Frage: was ist Wahrheit? Diese Frage bildet seit Jahrtausenden ein wesentliches Objekt, vornehmlich der Philosophie. Sie findet schließlich, wie letztere selbst, ihre Auflösung in der Erkenntnis des menschlichen Denkvermögens. Mit anderen Worten: Die Frage nach den Kennzeichen der Wahrheit im allgemeinen ist gleich mit der Frage nach dem Unterschiede zwischen Wahrheit und Irrtum. Die Philosophie ist die Wissenschaft, welche sich darum bemüht hat und mit dem Rätsel zuletzt sich selbst durch endliche klare Erkenntnis des Denkprozesses auflöste. Eine kurze Betrachtung des Wesens und des Verlaufs der Philosophie darf also füglich unserem Thema als Einleitung dienen.
Da das Wort in mannigfaltiger Bedeutung gebraucht wird, sei bemerkt, dass hier nur von der sogenannten spekulativen Philosophie die Rede ist. Wir unterlassen dabei, das Gesagte mit häufigen Zitaten und Quellenangaben zu belegen, weil das, was wir davon sagen, so offenkundig, so widerspruchslos gilt, dass wir des gelehrten Beiwerks wohl entraten können.
Legen wir den erwähnten Maßstab Kants an, so erscheint die spekulative Philosophie mehr als Tummelplatz differenter Meinungen denn als Wissenschaft. Ihre Zelebritäten, ihre klassischen Größen sind nicht einmal einhellig in der Antwort auf die Frage: was ist, was will die Philosophie? Deshalb, um die verschiedenen Meinungen darüber nicht noch mit unserer Privatmeinung zu vermehren, lassen wir alles als Philosophie gelten, was sich so nennt, und suchen aus dieser reichen Bibliothek dickleibiger Bände – ohne vom Besonderen oder Sonderbaren uns beirren zu lassen — das Gemeinschaftliche oder Allgemeine.
Auf diesem empirischen Wege finden wir dann zunächst, dass die Philosophie ursprünglich keine besondere einzelne Wissenschaft ist, neben oder in Gemeinschaft mit anderen Wissenschaften, dass sie vielmehr Gattungsname des Wissens überhaupt, Inbegriff alles Wissens ist, wie die Kunst Inbegriff der verschiedenen Künste. Wer sich das Wissen, wer sich die Kopfarbeit zu wesentlicher Beschäftigung machte – jeder Denker ohne Rücksicht auf den Inhalt seiner Gedanken war ursprünglich Philosoph.
Sobald dann mit der fortschreitenden Bereicherung des menschlichen Wissens sich die einzelnen Fächer von der mater sapientiae loslösten, vornehmlich seit Entstehung der modernen Naturwissenschaft, findet sich, dass die Philosophie nicht sowohl durch ihren Inhalt als durch ihre Form gekennzeichnet ist. Alle anderen Wissenschaften unterscheiden sich durch ihre verschiedenen Gegenstände, die Philosophie hingegen durch ihre eigene Methode. Sie besitzt wohl auch einen Gegenstand, einen Zweck; sie will das Allgemeine, die Welt als Ganzes, den Kosmos begreifen. Aber es ist nicht dieser Gegenstand, nicht das Vorhaben, was sie charakterisiert, sondern die Art und Weise, wie sie es verfolgt.
Alle anderen Wissenschaften beschäftigen sich mit besonderen Dingen oder Gegenständen, und wenn auch mit dem All, mit dem Kosmos, dann immer doch nur mit Beziehung auf die besonderen Teile oder Momente, woraus sich das Weltall zusammensetzt. Alexander von Humboldt sagt in der Einleitung zu seinem „Kosmos“, dass er sich in diesem Werke auf eine empirische Betrachtung beschränke, auf die physische Forschung, welche mittelst der Mannigfaltigkeit die Gleichartigkeit oder Einheit zu erkennen suche. So gelangen überhaupt die induktiven Wissenschaften nur auf Grund ihrer Beschäftigung mit dem Einzelnen, Besonderen, sinnlich Gegebenen zu allgemeinen Schlüssen oder Erkenntnissen. Sie sagen deshalb von sich: „Unsere Schlüsse beruhen auf Tatsachen.“ Umgekehrt verfährt die spekulative Philosophie. Wo auch irgendein besonderes Thema ihr als Gegenstand der Forschung dient, so verfolgt sie es doch nicht im Besonderen. Die Offenbarungen der Sinne, die mit Aug' und Ohr, mit Hand und Kopf gemachte physische Erfahrung, weist sie als trügerische Erscheinung zurück und beschränkt sich auf das „reine“, von allen Voraussetzungen absehende Denken, um so auf umgekehrtem Wege, mittelst der Einheit menschlicher Vernunft die Mannigfaltigkeit des Weltalls zu erkennen. Bei der Frage z. B., welche uns gegenwärtig beschäftigt, bei der Frage: was ist Philosophie? – würde sie nicht von ihrer wirklichen sinnlichen Gestalt, von den hölzernen und schweinsledernen Folianten, von ihren großen und kleinen Abhandlungen ausgehen, um von hier aus zum Begriff zu gelangen. Umgekehrt, der spekulative Philosoph sucht innerlich in sich, in der Tiefe seines Geistes den wahren Begriff der Philosophie, nach dessen Maßstab er dann die sinnlich gegebenen Exemplare als echt oder unecht aburteilt. Mit der Erforschung handgreiflicher Objekte hat sich die spekulative Methode wohl niemals beschäftigt, es sei denn, dass wir in jeder unwissenschaftlichen Naturanschauung, welche die Welt mit Hirngespinsten bevölkerte, die Manier der Philosophie wiedererkennen. Die Anfänge der wissenschaftlichen Spekulation forschten wohl auch nach Sonnen-und Weltenlauf. Seitdem jedoch die induktive Astronomie diese Gebiete mit größerem Erfolg kultiviert, beschränkt die Spekulation sich ganz und gar auf Behandlung mehr abstrakter Themen. Hier ist sie denn, wie überhaupt, charakterisiert durch Erzeugung ihrer Resultate aus der Idee oder dem Begriff. —
Für die empirische Wissenschaft, für die Methode der Induktion ist die erfahrene Mannigfaltigkeit das erste und das Denken das zweite. Dagegen will die Spekulation ohne Hilfe der Erfahrung die wissenschaftliche Wahrheit erzeugen. Die philosophische Erkenntnis soll sich nicht auf vergängliche Tatsachen stützen, sondern absolut, über Raum und Zeit erhaben sein. Die spekulative Philosophie will keine physische Wissenschaft, sie will Metaphysik sein. Ihre Aufgabe besteht darin, rein aus der Vernunft, ohne Beihilfe von Erfahrung ein System zu finden, eine Logik oder Wissenschaftslehre, mittelst deren sich die Wissenswürdigkeiten logisch oder systematisch abwickeln lassen, ähnlich, wie wir grammatisch aus dem gegebenen Stamme eines Wortes seine verschiedenen Formen abzuwickeln vermögen. Die physischen Wissenschaften agieren unter der Voraussetzung, dass unser Erkenntnisvermögen – um bekannte Bilder zu gebrauchen – einem Stück weichen Wachses ähnlich sei, welches seine Eindrücke von der Außenwelt empfange, oder einer leeren Tafel, die von der Erfahrung beschrieben wird. Die Philosophie hingegen setzt angeborene Ideen voraus, welche mittelst des Denkens aus den Tiefen des Geistes zu schöpfen und produzieren sind.
Der Unterschied zwischen spekulativer und induktiver Wissenschaft beruht auf dem Unterschiede zwischen Phantasie und gesundem Menschenverstände. Letzterer zeugt seine Begriffe mittelst der Außenwelt, mittelst der Erfahrung, während die Phantasie ihr Produkt aus der Tiefe des Geistes, mit sich selbst, von innen heraus zeugt. Jedoch ist diese Zeugung nur scheinbar einseitig. Sowenig der Maler übersinnliche Bilder, übersinnliche Gestalten zu erfinden weiß, sowenig vermag der Denker außerhalb der Erfahrung liegende, übersinnliche Gedanken zu denken. Wie die Phantasie aus Zusammensetzung von Mensch und Vogel Engel schafft oder aus Fisch und Weib Sirenen, in derselben Art sind alle ihre anderen Produkte, obgleich scheinbar Erzeugnisse ihrer selbst, doch in der Tat nur willkürlich geordnete Eindrücke der Außenwelt. Der Verstand, die Vernunft bindet sich an Zahl und Ordnung, an Zeit und Maß der Erfahrung, während die Phantasie das Erfahrene ungebunden, in willkürlicher Form reproduziert.
Der Drang nach Wissen hat von jeher veranlaßt, auch schon dort, wo wegen Mangel an Erfahrung und Beobachtung keine induktive Erkenntnis möglich war, dennoch die Erscheinungen der Natur und des Lebens aus dem menschlichen Geiste, d. h. spekulativ, zu erklären. Man suchte die Erfahrung durch Spekulation zu ergänzen. In einer folgenden, durch Erfahrung bereicherten Zeit erkannte man gewöhnlich die vorhergegangene Spekulation als Irrtum. Aber dennoch bedurfte es tausendjähriger angehäufter Wiederholung dieses Enttäuschungsaktes einerseits und der zahlreichsten eklatantesten Erfolge induktiver Methode andererseits, bevor man diese spekulative Liebhaberei verlassen mochte.
Gewiß ist auch die Phantasie ein positives Vermögen, und sehr oft geht die spekulative, durch Analogie erworbene Ahnung der erfahrungsmäßigen induktiven Erkenntnis voraus. Nur sollen wir klar, bewußt sein, was und wieviel Vermutung und was und wieviel Wissenschaft. Bewußte Ahnung fordert zu wissenschaftlicher Forschung auf, während vermeintliche Wissenschaft der induktiven Forschung die Türe schließt. Die Erwerbung eines klaren Bewußtseins über den Unterschied zwischen Spekulation und Wissen ist ein geschichtlicher Prozeß, dessen Anfang und Ende mit Anfang und Ende der spekulativen Philosophie zusammenfällt.
Im Altertum arbeitete der gesunde Menschenverstand mit der Phantasie, die induktive Methode mit der spekulativen gemeinschaftlich und unentzweit. Die Auseinandersetzung beider beginnt erst mit Erkenntnis der mannigfachen Täuschungen, welchen bis zur neueren Zeit das noch ungeübte Urteil unterlegen hatte. Statt nun die erfahrenen Täuschungen aus dem Mangel an Verständnis herzuleiten, schrieb man sie der Mangelhaftigkeit der Sinne zu, schalt die Sinne Betrüger und die sinnliche Erscheinung unwahr. Wer kennt nicht das alte Lamento über die Unzuverlässigkeit der Sinne? Die Mißverständnisse der Natur und ihrer Erscheinungen dienten vorerst zum völligen Zerwürfnis mit der Sinnlichkeit. Man hatte sich getäuscht, und glaubte, getäuscht worden zu sein. Der Unmut darüber verkehrte sich zur totalen Mißachtung der sinnlichen Welt. Ebenso kritiklos gläubig, wie man bis dahin das Scheinbare für Wahrheit angenommen, ebenso unkritisch im Zweifel verwarf man jetzt den Glauben an die sinnliche Wahrheit ganz und gar. Die Forschung wandte sich von der Natur, von der Erfahrung weg und begann mit reinem Denken die Arbeit der spekulativen Philosophie.
Doch nein! So ganz ließ sich die Wissenschaft niemals vom Wege des gesunden Menschenverstandes, von der Wahrheit der sinnlichen Welt abbringen. Die Naturwissenschaft trat bald dafür ein, und ihre glänzenden Erfolge erwarben der induktiven Methode das Bewußtsein der Fruchtbarkeit, während andererseits die Philosophie nach einem System forschte, mittels dessen sich die großen allgemeinen Wissenswürdigkeiten ohne Forschung en detail, ohne sinnliche Erfahrung und Beobachtung mit der Vernunft allein erschließen.
Solcher spekulativen Systeme besitzen wir nun eine mehr als hinreichende Zahl. Messen wir dieselben mit dem erwähnten Maße der Einhelligkeit, so findet sieh die Philosophie nur einig in einer allgemeinen Uneinigkeit. Die Geschichte der spekulativen Philosophie besteht denn auch nicht, wie die Geschichte anderer Wissenschaften, in der allmählichen Ansammlung von Kenntnissen, sondern in einer Reihe mißglückter Versuche, mit der puren Denkkraft, ohne Hilfe der Objekte oder der Erfahrung davon, die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens zu erforschen. Den kühnsten Versuch, den künstlichsten Gedankenbau vollendete Hegel im Anfange unseres Jahrhunderts, welcher, einer Redensart nachzusprechen, in der wissenschaftliehen Welt eine Berühmtheit erlangte wie Napoleon in der politischen. Aber auch die Hegeische Philosophie hat die ihr gestellte Probe nicht bestanden. „Sie ist“, wie Haym („Hegel und seine Zeit“) sagt, „durch den Fortschritt der Welt und durch die lebendige Geschichte beseitigt worden.“
Das Resultat der Philosophie bis dahin war also die Unfähigkeitserklärung ihrer selbst. Jedoch werden wir nicht verkennen, dass einer Arbeit, welche Jahrtausende lang die besten Köpfe beschäftigte, wohl etwas Positives zugrunde liegt. Und in der Tat, die Philosophie besitzt eine Geschichte – eine Geschichte nicht nur im Sinne einer Reihenfolge mißglückter Versuche, sondern auch eine Geschichte im Sinne lebendiger Entwicklung. Aber es ist nicht der Gegenstand, nicht das gesuchte logische Weltsystem, welches sich mit ihr entwickelt, sondern die Methode.
Jede positive Wissenschaft besitzt ein sinnliches Objekt, einen äußerlich gegebenen Anfang, eine Voraussetzung, auf welche sich ihre Erkenntnis steift. Jeder empirischen Wissenschaft unterliegt ein sinnliches Material, ein gegebener Gegenstand, infolgedessen ihr Wissen abhängig, unrein ist. Die spekulative Philosophie sucht ein reines, totales, absolutes Wissen. Sie will ohne Material, ohne Erfahrung, aus „reiner“ Vernunft erkennen. Sie entspringt aus dem begeisterten Bewußtsein von der überlegenen Vortrefflichkeit der Erkenntnis oder Wissenschaft über die empirische sinnliche Erfahrung. Sie will deshalb ganz und gar über die Erfahrung hinaus, zu einer totalen, reinen Erkenntnis. Ihr Gegenstand ist die Wahrheit, aber nicht die besondere, nicht die Wahrheit dieser oder jener Sache, sondern die Wahrheit im allgemeinen, die Wahrheit „an sich“. Die spekulativen Systeme suchen an einem voraussetzungslosen Anfang, an einem unbezweifelbaren sich selbst tragenden Standpunkt, um von hier aus das überhaupt Unbezweifelbare zu bestimmen. Die Systeme der Spekulation sind ihrem eigenen Bewußtsein nach vollkommene, abgeschlossene, in sich selbst begründete Systeme. Jedes spekulative System fand seine Auflösung in der nachfolgenden Erkenntnis, dass seine Totalität, seine Selbstbegründung, seine Voraussetzungslosigkeit vermeintlich war, dass es sich wie andere Erkenntnisse äußerlich, empirisch hat bestimmen lassen, dass es kein philosophisches System, sondern eine relative empirische Erkenntnis ist. Die Spekulation löste sich schließlich in die Wissenschaft auf, dass das Wissen an sich oder im allgemeinen unrein ist, dass das Organ der Philosophie, das Erkenntnisvermögen ohne gegebenen Anfang nicht anfangen kann, dass die Wissenschaft der Erfahrung nicht total, sondern nur insoweit überlegen ist, als sie zahlreiche Erfahrungen zu organisieren vermag, dass also nur insoweit eine allgemeine, objektive Erkenntnis oder die Wahrheit „an sich“ Gegenstand der Philosophie sein kann, als man aus gegebenen besonderen Erkenntnissen oder Wahrheiten die Erkenntnis oder Wahrheit im allgemeinen zu charakterisieren, zu erkennen vermag. Schlicht gesprochen reduziert sich die Philosophie auf die unphilosophische Wissenschaft des empirischen Erkenntnisvermögens, auf die Kritik der Vernunft.
Von der Erfahrung des Unterschieds zwischen Schein und Wahrheit geht die neuere, die bewußte Spekulation aus. Sie negiert jede sinnliche Erscheinung, um, von keinem Scheine betrogen, die Wahrheit durch Denken zu finden. Im Verlauf erkennt der folgende Philosoph jedesmal, dass die derartig gewonnenen Wahrheiten der Vorgänger nicht das sind, was sie zu sein prätendieren, sondern ihrem positiven Gehalt nach sich darauf beschränken, die Wissenschaft des Erkenntnisvermögens, des Denkprozesses gefördert zu haben. Durch ihre Negation der Sinnlichkeit, durch das Bestreben, das Denken von allem sinnlich Gegebenen, gleichsam von seiner natürlichen Hülle zu scheiden, legte die Philosophie mehr als jede andere Wissenschaft die Struktur des Geistes bloß. So dass, je älter sie wurde, je mehr sie sich in geschichtlichem Verlauf entwickelte, je klassischer, je frappanter dieser Kern ihrer Arbeit zu Tage trat. Nach wiederholten Schöpfungen großer Hirngespinste fand sie ihre Auflösung in der positiven Erkenntnis, dass das reine, philosophische, von jedem gegebenen Inhalt absehende Denken auch ein Denken ohne Inhalt, Gedanken ohne Wirklichkeit, Hirngespinste zeugt. Der Prozeß der spekulativen Täuschung und wissenschaftlichen Enttäuschung setzte sich fort bis in die neuste Zeit, wo endlich die Lösung der Gesamtfrage, die Auflösung der Spekulation mit den Worten Ludwig Feuerbachs beginnt: „Meine Philosophie ist keine Philosophie.“
Die lange Rede der spekulativen Arbeit reduziert sich auf die Erkenntnis des Verstandes, der Vernunft, des Geistes, auf die Enthüllung jener geheimnisvollen Operationen, welche wir Denken nennen.
Das Geheimnis der Art und Weise, wie sich die Wahrheiten der Erkenntnis zeugen, die Unkenntnis der Tatsache, dass jedes Denken eines Objekts, einer Voraussetzung bedarf, war die Ursache jener spekulativen Irrung, welche in der Geschichte der Philosophie enthalten ist. Dasselbe Geheimnis ist heute die Ursache jener vielen spekulativen Irrungen und Widersprüche, welchen wir en passant in den Worten und Werken unserer Naturforscher begegnen. Das Wissen und Erkennen ist dort weit gediehen, jedoch nur soweit, als man greifbare Gegenstände behandelt. Bei irgendeinem Thema anderer, abstrakterer Art finden wir an Stelle „beweisender Tatsachen“ „advokatorische Durchführungen“, weil man, wenn auch im besonderen, wenn auch instinktiv, so doch nicht im allgemeinen, nicht mit Bewußtsein, nicht theoretisch weiß, was eine Tatsache, ein Schluß, eine Regel, eine Wahrheit ist. Die naturwissenschaftlichen Erfolge haben gelehrt, das Instrument des Wissens, den Geist, instinktiv zu handhaben. Jedoch fehlt die systematische Erkenntnis, welche mit Vorausbestimmung des Erfolges agiert. Es fehlt das Verständnis für die Arbeit der spekulativen Philosophie.
Unsere Aufgabe wird nun darin bestehen, das, was die Philosophie positiv Wissenschaftliches langstielig und größtenteils unbewußt gefördert hat, durch eine kurze Rekapitulation zum Bewußtsein zu bringen, d. h. die allgemeine Natur des Denkprozesses zu enthüllen. Wir werden sehen, wie die Erkenntnis dieses Prozesses uns das Mittel an die Hand gibt, alle die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen, wie somit jener fundamentale Standpunkt, jene systematische Weltanschauung gewonnen ist, welche das langerstrebte Ziel der spekulativen Philosophie war.
Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007