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Im September und Oktober 1918 schrieb Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis eine Broschüre über die russische Revolution. Dafür benutzte sie nicht nur die deutsche, sondern auch die russische Presse jener Zeit, die von Freunden in ihre Gefängniszelle geschmuggelt wurde. Sie hat diese Schrift niemals abgeschlossen oder überarbeitet, da der Ausbruch der deutschen Revolution ihr die Freiheit brachte.
Die erste Ausgabe dieser Broschüre wurde nach Rosa Luxemburgs Tod 1922 von ihrem Kampfgenossen Paul Levi herausgegeben. Diese Ausgabe war jedoch nicht vollständig, und 1928 wurde nach einem wiederaufgefundenen Manuskript eine neue Ausgabe veröffentlicht.
Rosa Luxemburg hat in diesen Aufzeichnungen die Oktoberrevolution und die Bolschewiki enthusiastisch unterstützt:
Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus. [1]
In dieser letzten Periode, in der wir vor den entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!
Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben ... Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem „Bolschewismus“. [2]
Obwohl sie die Oktoberrevolution begeistert feierte, glaubte Rosa Luxemburg, eine unkritische Haltung allen Malnahmen der Bolschewiki gegenüber sei für die Arbeiterbewegung ohne Nutzen. Die Methode marxistischer Analyse bestand ihrer Meinung nach darin, nur das zu akzeptieren, was die Probe der revolutionären Kritik bestanden hatte.
Es war ihr klar, daß die durch den Verrat der westlichen Sozialdemokratie verursachte Isolierung der russischen Revolution, zu Verzerrungen in ihrer Entwicklung führen mußte. Ohne internationale revolutionäre Unterstützung müssen „auch die größte Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen verwickeln.“ [3]
Nachdem sie einige dieser Widersprüche und Fehler aufgezeigt hatte, machte sie deren Ursachen klar:
Alles was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. [4]
Objektive Faktoren können im Verlauf einer Revolution Fehler bedingen, durch subjektive Faktoren, durch Versagen der Führung können solche Fehler gefährlich werden, vor allem, wenn Fehler in Tugenden umgedeutet werden. „Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.“ [5]
Aber genau das wurde später von den stalinistischen Parteien bis zum Exzeß betrieben (und leider auch von einigen, die sich Anti-Stalinisten nennen).
Rosa Luxemburg kritisierte die ihrer Meinung nach falsche Politik der Bolschewiki in folgenden Punkten:
Wir werden jedes dieser Probleme gesondert behandeln.
Eine sozialistische Agrarpolitik muß nach Rosa Luxemburg darauf abzielen, die Sozialisierung der landwirtschaftlichen Produktion zu fördern:
Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden, die allein dem Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen braucht und man es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluß und schließlich für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muß jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muß hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen; denn nur dies gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu organisieren. [6]
Die Bolschewiki machten aber gerade das Entgegengesetzte: „Die Parole ... die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: Sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern ... ist nicht nur keine sozialistische Malnahmen, sondern ... schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.“ [7]
Und Rosa Luxemburg wies völlig zu Recht und, wie sich gezeigt hat, prophetisch darauf hin, daß die Verteilung des Grundbesitzes an die Bauern die Macht des Privateigentums auf dem Lande stärken und damit der Zukünftigen Sozialisierung der Landwirtschaft zusätzliche Schwierigkeiten bereiten würde:
Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der „Besitzergreifung“ steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. [8]
Die Isolierung der kleinen Arbeiterklasse in einem Meer feindlicher, rückständiger, kleinkapitalistischer Bauern hatte später für den Aufstieg Stalins größte Bedeutung.
Lenin und Trotzki hatten indessen keine Wahl. Es ist richtig, daß das bolschewistische Parteiprogramm die Nationalisierung allen Großgrundbesitzes vorsah. Viele Jahre lang hatte Lenin gegen die Sozialrevolutionäre polemisiert, die das Land der Großgrundbesitzer unter die Bauern aufteilen wollten. Aber 1917, als die Bodenfrage eine sofortige Lösung erforderte, übernahm er ohne Zögern die Parolen der früher so sehr bekämpften Sozialrevolutionäre bzw. die der spontanen Bauernbewegung. Hätten die Bolschewiki das nicht getan, wären sie und die von ihnen geführte städtische Arbeiterklasse vom Lande isoliert gewesen, die Revolution wäre erstickt worden oder hätte bestenfalls nur kurze Zeit gedauert (wie die ungarische Revolution von 1919).
Durch keine Wendung ihrer Strategie und Taktik konnten die Bolschewiki den grundlegenden Widerspruch der russischen Revolution überwinden, da sie von zwei verschiedenen, der Interessenlage nach kontradiktorischen Klassen getragen wurde, dem kollektivistisch orientierten Proletariat und der individualistisch orientierten Bauernschaft. Schon 1906 hatte Trotzki die Prognose formuliert, die kommende Revolution, in der die Arbeiterklasse die Bauern anführen werde, werde mit der erbitterten Opposition der Bauern gegen die Arbeiterklasse enden, so daß nur die internationale Ausbreitung der Revolution die Arbeitermacht vor dem Sturz bewahren könne: Das russische Proletariat an der Macht wird „der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ [9]
Rosa Luxemburgs Einschätzung der bolschewistischen Agrarpolitik zeigt viele richtige Einsichten in die Bedingungen der russischen Revolution und weist auf die vielfältigen, der bolschewistischen Politik immanenten Gefahren hin. Aber die Situation ließ den Bolschewiki keine Möglichkeit für eine andere revolutionäre Agrarpolitik als die, die sie machten. Sie muten dem demokratischen, spontanen Wunsch der Bauern nachgeben, das den Großgrundbesitzern abgenommene Land aufzuteilen.
Nicht weniger kritisch stand Rosa Luxemburg der bolschewistischen Nationalitätenpolitik gegenüber, in der sie die größten Gefahren für die Revolution sah: „Daß sich die militärische Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Rußlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: den staatlichen Zerfall Rußlands. [10]
Statt der Parole der Selbstbestimmung forderte sie: „... die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiete des Reiches anzustreben, die Integrität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Länder im Bereiche der russischen Revolution als oberstes Gebot allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen ...“ [11]
Wie unrecht hatte Rosa Luxemburg in dieser Frage! Wären die Bolschewiki ihrem Rat gefolgt, so hätten die herrschenden Klassen der bisher unterdrückten Nationen leichtes Spiel gehabt, die Volksmassen um sich zu scharen, und die Isolierung der Sowjetmacht zu verstärken. Nur wenn die ehemalige Unterdrückernation die Parole der Selbstbestimmung ausgab, konnte sie die revolutionäre Einheit aller Völker erreichen. Auf diese Weise vermochten die Bolschewiki wenigstens einen Teil des im Weltkrieg und zu Anfang des Bürgerkrieges verlorenen Territoriums für sich zu gewinnen – z.B. die Ukraine. Gerade wegen eines Abweichens von dieser Politik der Selbstbestimmung aller Völker wurde die Rote Armee zum ersten Male – vor den Toren Warschaus – geschlagen, und zog sich später den Haß der Georgier zu, als sie in Georgien einmarschierte, und es in der bürokratischsten und antidemokratischsten Weise besetzte. [12]
In der nationalen Frage irrte Rosa Luxemburg ebenso wie in der Agrarfrage, weil sie vom Prinzip der Volksentscheidung abwich, das sonst in ihrem Denken und Handeln eine zentrale Rolle spielte.
Ein weiterer Punkt der Kritik Rosa Luxemburgs betraf die Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki. Sie schrieb: „Es ist eine Tatsache, daß Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der Konstitutionsversammlung stürmisch forderten, daß gerade die Verschleppungstaktik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen Anklagepunkt der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten Ausfällen Anlag gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten Schriftchen Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag [13], der Oktoberumschwung sei geradezu „eine Rettung für die Konstituante“ gewesen, wie für die Revolution überhaupt. „Und als wir sagten“, fährt er fort, „daß der Eingang zur konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretellis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.“ [14] Dieselben Führer, die die konstituierende Versammlung gefordert hatten, ließen sie am 6. Januar 1918 auflösen.
Was Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre vorschlug, war eine Kombination der Sowjets und der konstituierenden Versammlung. Aber die politischen Ereignisse zeigten, daß dies zu einer Doppelherrschaft geführt hätte, die dem Organ der Arbeitermacht, den Sowjets, gefährlich geworden wäre. Die bolschewistischen Führer rechtfertigten die Auflösung der konstituierenden Versammlung in erster Linie mit der Begründung, die Wahlen hätten nach einem veralteten Gesetz stattgefunden, das jener Minorität wohlhabender Bauern überproportionales Gewicht gab, die bei der ersten und einzigen Sitzung der Versammlung sich weigerten, die Dekrete über Land, Frieden und die Machtübernahme der Sowjets zu ratifizieren. Rosa Luxemburg erwiderte, die Bolschewiki hätten einfach Neuwahlen durchfahren lassen können, die den aktuellen Stand des Bewußtseins und das wirkliche soziale Kräfteverhältnis besser repräsentiert hätten.
Aber der wahre Grund für die Auflösung der Konstituante lag tiefer. Die Sowjets waren weitgehend Organisationen der Arbeiterklasse, die konstituierende Versammlung aber stützte sich in der Hauptsache auf die Stimmen der Bauern. Es war daher kein Zufall, daß die Bolschewiki, die auf dem von etwa 20 Millionen gewählten zweiten Sowjetkongreß (vom 8. November 1917), die überwältigende Mehrheit hatten, in der von der Gesamtbevölkerung gewählten konstituierenden Versammlung nur über ein Viertel der Stimmen verfugten. Der Bauer konnte sich als Anhänger des Privateigentums nicht mit dem Bolschewismus identifizieren, selbst wenn er für die bolschewistische Unterstützung bei der Landverteilung und im Kampf um den Frieden dankbar war. Die Sowjets waren daher für die Arbeitermacht eine weitaus zuverlässigere Stütze, als die konstituierende Versammlung jemals hätte sein können.
Aber es gibt noch einen gewichtigeren Grund dafür, neben den Sowjets keine Konstituante (kein Parlament) zuzulassen, der nichts mit der bäuerlichen Mehrheit der russischen Bevölkerung zu tun hat: Sowjets sind die spezifische Form der Herrschaft der Arbeiterklasse, ebenso wie das Parlament die spezifische Form der bürgerlichen Herrschaft ist.
In der deutschen Revolution hat Rosa Luxemburg ihre Haltung dann tatsächlich radikal geändert und die Parole der USPD: „Arbeiterräte und Nationalversammlung“ energisch bekämpft. So schrieb sie am 20. November 1918:
Wer heute bewußt zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums ...
Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. [15]
Rosas Hauptkritik an den Bolschewiki zielte darauf ab, daß sie für die Einschränkung und Aushöhlung der Arbeiterdemokratie verantwortlich waren. Und hier zeigt die ganze tragische Geschichte Rußlands, daß sie in prophetischer Weise recht hatte. Wie allem, was Rosa Luxemburg schrieb und sagte, lag auch ihrer Broschüre über die russische Revolution das Vertrauen in die Arbeiterklasse zugrunde, die Überzeugung, daß sie, und nur sie allein, fähig ist, die Krise der Menschheit zu überwinden. Sie war zutiefst davon überzeugt, daß Arbeiterdemokratie, proletarische Revolution und Sozialismus untrennbar miteinander verbunden seien. Sie schrieb:
Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats.
Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht nur in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse sein ... [16]
Obwohl sie ohne Zögern die Diktatur des Proletariats gegen die Feinde des Sozialismus bejahte, vertrat sie die Ansicht, daß nur vollständige und konsequente Demokratisierung die Herrschaft der Arbeiterklasse festigen und die Bedingungen für ihre ungeheuren produktiven Möglichkeiten schaffen könne. Sie behauptete, die Bolschewiki seien von dieser Konzeption abgewichen:
Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Malnahmen gesucht werden müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zuallererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend praktischen konkreten großen und kleinen Malnahmen sind, um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzufahren, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt, durch Ukase einführen. [17]
Rosa Luxemburg sagte voraus, daß das Kollektiv der russischen Arbeiter am wirtschaftlichen und sozialen Leben nicht aktiv teilnehmen werde: Der Sozialismus wird dann „vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert, ... mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution(en), wird zum Scheinleben, in der (dem) die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft ...“ [18]
Wie alle ihre anderen Schriften, war Rosa Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution für die reformistischen Kritiker des revolutionären Sozialismus nicht gerade ein Trost; sie konnten vielmehr nur für diejenigen von Nutzen sein, die die Wissenschaft vom Handeln der Arbeiterklasse lebendig und unverkrüppelt bewahren wollten. Ihre Kritik an der bolschewistischen Partei entspricht den besten Traditionen des Marxismus, der grundlegenden Maxime Karl Marx': Erbarmungslose Kritik alles Bestehenden.
1. Die russische Revolution (1918); zit. nach PS III, S.116.
2. a.a.O., S.141.
3. a.a.O., S.109.
4. a.a.O., S.140.
5. a.a.O.
6. a.a.O., S.116f.
7. a.a.O., S.118.
8. a.a.O., S.119.
9. Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven: Die treibenden Kräfte der Revolution (1906), Frankfurt (Neue Kritik) 1967, S.19f.
10. Die russische Revolution, a.a.O., S.120.
11. a.a.O., S.124.
12. Rosa Luxemburgs Kritik an der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki war eine Fortsetzung der beinahe zwei Jahrzehnte währenden Debatte, die sie mit ihnen über dieses Problem führte.
13. Belp-Bern, 1918, S.90.
14. Die russische Revolution, a.a.O., S.127
15. Die Nationalversammlung, zit. nach ARuS, Bd.II, S.606.
16. Die russische Revolution, a.a.O., S.139.
17. a.a.O., S.134f.
18. a.a.O., S.135 u. S.136.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003