Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

 

II. Sozialreform oder Revolution

 

Verteidigung des Marxismus

Durch das gesamte Werk Rosa Luxemburgs zieht sich wie ein roter Faden der Kampf gegen den Reformismus, der die Ziele der Arbeiterbewegung im Zusammenspiel mit dem Kapitalismus beschränkt, statt ihn revolutionär zu stürzen. Der prominenteste Sprecher des Reformismus (oder Revisionismus, wie er damals hieß), war Eduard Bernstein; ihn bekämpfte Rosa Luxemburg als ersten. Sie widerlegte seine Ansichten mit besonderer Schärfe in ihrer Broschüre Sozialreform oder Revolution?, die aus zwei Artikelserien entstand, die in der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht worden waren – die erste im September 1898 als Antwort auf Bernsteins Artikel in der Neuen Zeit, die zweite im April 1899 als Antwort auf sein Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.

Bernstein gab eine Neuinterpretation des Wesens der Arbeiterbewegung als einer „demokratisch-sozialistischen Reformpartei“ statt einer Partei der sozialen Revolution. Im Gegensatz zu Marx behauptete er, die Widersprüche im Kapitalismus verschärften sich nicht, sondern verlören ständig an Schärfe; der Kapitalismus werde ständig zahmer, annehmbarer. Kartelle, Trusts und Kreditinstitutionen unterwürfen schrittweise die anarchische Struktur des Systems festen Regeln, so daß anstelle der von Marx vorausgesehenen regelmäßigen Krisen eine Tendenz zu ständiger Prosperität bestehe. Auch die sozialen Widersprüche würden schwächer, und zwar, wie Bernstein meinte, auf Grund der Lebensfähigkeit der Mittelklassen und der demokratischeren Verteilung des kapitalistischen Eigentums durch Aktiengesellschaften. Die Anpassungsfähigkeit des Systems gegenüber den Bedürfnissen der Zeit zeige sich auch in der Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stellung der Arbeiterklasse als eines Resultats der Tätigkeit der Gewerkschaften und Genossenschaften.

Aus dieser Analyse zog Bernstein den Schluß, daß sich die sozialistische Partei der schrittweisen Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse widmen müsse, nicht aber der revolutionären Übernahme der politischen Macht.

 

 

Widersprüche im Kapitalismus

Im Gegensatz zu Bernstein argumentierte Rosa Luxemburg, daß die kapitalistischen Monopolorganisationen (Kartelle und Trusts) und Kreditinstitutionen dazu tendierten, die Antagonismen im Kapitalismus zu vertiefen, nicht aber zu mildern. Sie beschreibt deren Funktion:

Im ganzen erscheinen also die Kartelle ... als bestimmte Entwicklungsphasen, die in letzter Linie die Anarchie der kapitalistischen Welt nur noch vergrößern und alle ihre inneren Widersprüche zum Ausdruck und zur Reife bringen. Sie verschärfen den Widerspruch zwischen der Produktionsweise und der Austauschweise, indem sie den Kampf zwischen den Produzenten und den Konsumenten auf die Spitze treiben ... Sie verschärfen ferner den Widerspruch zwischen der Produktions- und der Aneignungsweise, indem sie der Arbeiterschaft die Obermacht des organisierten Kapitals in brutalster Form entgegenstellen und so den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs äußerste steigern.

Sie verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so die Gegensätze zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten auf die Spitze treiben. Dazu kommt die direkte, höchst revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung usw.

So erscheinen die Kartelle und Trusts in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein „Anpassungsmittel“, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat. [1]

Auch der Kredit, sagte Rosa Luxemburg, beseitigt keinesfalls die kapitalistische Krise, sondern vertieft sie. Die beiden wichtigsten Funktionen des Kredits sind die Expansion der Produktion und die Erleichterung des Austausches, und beide Funktionen tragen zur Instabilität des Systems bei. Die kapitalistischen Wirtschaftskrisen entwickeln sich als Ergebnis der Widersprüche zwischen der ständigen Expansionsneigung der Produktion und der begrenzten Aufnahmefähigkeit des kapitalistischen Marktes. Der Kredit verstärkt, indem er die Produktion anheizt, die Tendenz zur Überproduktion und tendiert, da er selbst unter widrigen Umständen einer gefährlichen Instabilität unterworfen ist, dazu, die Wirtschaft noch mehr zu erschüttern und die Krise zu verschärfen. Die Rolle des Kredits als Ermutigung zu Spekulationen ist ein weiterer Faktor, der die Instabilität der kapitalistischen Produktionsweise erhöht.

Bernsteins Trumpfkarte für sein Argument, daß die Widersprüche des Kapitalismus abnähmen, war, daß der Kapitalismus zwei Jahrzehnte lang, seit 1873, keine größere Krise erlebt hatte. Aber, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen:

Kaum hatte Bernstein 1898 die Marxsche Krisentheorie zum alten Eisen geworfen, als im Jahre 1900 eine allgemeine heftige Krise ausbrach und sieben Jahre später, 1907, eine erneute Krise von den Vereinigten Staaten aus über den Weltmarkt gezogen kam. So war durch laut sprechende Tatsachen selbst die Theorie von der „Anpassung“ des Kapitalismus zu Boden geschlagen. Zugleich war es damit erwiesen, daß diejenigen, die die Marxsche Krisentheorie, nur weil sie in zwei angeblichen „Verfallsterminen“ versagt hatte, preisgaben, den Kern dieser Theorie mit einer unwesentlichen äußerlichen Einzelheit ihrer Form – mit dem zehnjährigen Zyklus verwechselten. Die Formulierung des Kreislaufs der modernen kapitalistischen Industrie als einer zehnjährigen Periode war aber bei Marx und Engels in den 60er und 70er Jahren eine einfache Konstatierung der Tatsachen, die ihrerseits nicht auf irgendwelchen Naturgesetzen, sondern auf einer Reihe bestimmter geschichtlicher Umstände beruhten, die mit der sprungweisen Ausdehnung der Wirkungssphäre des jungen Kapitalismus in Verbindung standen. [2]

Mögen sich diese Krisen alle zehn, alle fünf oder abwechselnd alle zwanzig Jahre und alle acht Jahre wiederholen ... Die Annahme, die kapitalistische Produktion könnte sich dem Austausch „anpassen“, setzt eins von beiden voraus: entweder, daß der Weltmarkt unumschränkt und ins Unendliche wächst, oder umgekehrt, daß die Produktivkräfte in ihrem Wachstum gehemmt werden, damit sie nicht über die Marktschranken hinauseilen. Ersteres ist eine physische Unmöglichkeit, letzterem steht die Tatsache entgegen, daß auf Schritt und Tritt technische Umwälzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehen und jeden Tag neue Produktivkräfte wachrufen. [3]

Rosa Luxemburg sagte, die Grundlage des Marxismus sei tatsächlich die Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus – zwischen den sich entfaltenden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Daß diese Widersprüche ihren Ausdruck in einer katastrophalen allgemeinen Krise finden sollten, sei „für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich“. [4] Die Form des grundsätzlichen Widerspruchs ist nicht so wichtig wie sein Inhalt. (Übrigens hätte Rosa Luxemburg wahrscheinlich kaum den Gedanken bestritten, daß eine Form, in der sich die grundlegenden Widersprüche ausdrücken können, die ständige Kriegswirtschaft mit ihrer ungeheuren Verschwendung von Produktivkräften darstellt.)

Rosa Luxemburg meinte, wenn Bernstein die sich vertiefenden Widersprüche im Kapitalismus leugne, entzöge er damit dem Kampf für den Sozialismus seine Grundlage. Der Sozialismus werde somit aus einer ökonomischen Notwendigkeit in einen Wunschtraum, ein Utopia verwandelt. Bernstein klagte:

Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange? Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen? [5]

Rosa Luxemburg kommentierte:

Die Bernsteinsche gerechtere Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittener Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts anderes heimzubringen als ein blaues Auge. [6]

Abgelöst von den Widersprüchen des Kapitalismus wird der Drang zum Sozialismus zur bloßen idealistischen Schimäre.

 

 

Die Rolle der Gewerkschaften

Wie oben bereits bemerkt, sah Bernstein (und viele Bernsteins nach ihm – siehe zum Beispiel John Strachey: Kapitalismus heute und morgen [7]) in den Gewerkschaften eine Waffe zur Schwächung des Kapitalismus. Rosa Luxemburg vertrat demgegenüber die Ansicht, daß die Gewerkschaften zwar in gewissem Maße das Lohnniveau beeinflussen, es aber nicht beseitigen können, und ebensowenig die grundlegenden, objektiven ökonomischen Faktoren, die das Lohnniveau determinieren.

Die Gewerkschaften ... sind ... nichts ... als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus zwei Gründen.

Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Prozeß der Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuführt, beständig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt ...

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit. [8] Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt werden. [9]

Eine Sisyphusarbeit! Dieser Ausdruck brachte die deutschen Gewerkschaftsbürokraten zur Weißglut. Sie konnten nicht zugeben, daß der gewerkschaftliche Kampf, so nützlich er auch war, um die Arbeiter vor der drohenden Tendenz des Kapitalismus zur fortschreitenden Senkung ihres Lebensstandards zu schützen, die Befreiung der Arbeiterklasse nicht ersetzen kann.

 

 

Parlamentarismus

Während die Gewerkschaften (und Genossenschaften) für Bernstein die wichtigsten ökonomischen Hebel auf dem Wege zum Sozialismus darstellten, sah er in der parlamentarischen Demokratie den politischen Hebel für diesen Übergang. Das Parlament schien ihm die Verkörperung des gesamtgesellschaftlichen Willens, d.h. eine Institution über den Klassen zu sein. Rosa Luxemburg stellte demgegenüber fest:

Der heutige Staat ist eben keine „Gesellschaft“ im Sinne der „aufstrebenden Arbeiterklasse“, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft, d.h. Klassenstaat. [10]

Und der Parlamentarismus im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbar sozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaft allmählich durchtränkt ..., sondern umgekehrt als ein spezifisches Mittel des bürgerlichen Klassenstaates, die kapitalistischen Gegensätze zur Reife und zur Ausbildung zu bringen. [11]

 

 

Koalitionsregierungen

Zur gleichen Zeit, da der Streit über den parlamentarischen Weg zum Sozialismus in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde das, was die Revisionisten für die Eroberung der politischen Macht mittels des Parlaments hielten, zum ersten Mal von französischen Sozialisten realisiert. Im Juni 1899 ging Alexandre Millerand in die radikale Regierung Waldeck-Rousseau und saß dort neben dem General Gallifet, dem Schlächter der Pariser Kommune. Diese Praxis wurde von dem französischen Sozialistenführer Jaurès und den Reformisten des rechten Flügels als ein großer taktischer Wendepunkt begrüßt. Die politische Macht wurde nun nicht mehr von der Bourgeoisie allein ausgeübt, sondern von Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam, eine Situation, die ihnen zufolge den politischen Ausdruck des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus darstellte.

Rosa folgte diesem ersten Experiment einer Koalitionsregierung von kapitalistischen und sozialistischen Parteien mit gespannter Aufmerksamkeit und untersuchte es mit äußerster Gründlichkeit. Sie zeigte, daß diese Koalition die Arbeiterklasse, indem sie sie ganz und gar an die Regierung fesselte, daran hinderte, ihre wirkliche Macht zu zeigen. Und was die Opportunisten eine „unfruchtbare Opposition“ nannten, war eigentlich eine wesentlich effektivere und praktischere Politik: weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitspartei im allgemeinen, ganz besonders aber für die sozialistische, das einzige wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.“ [12] Die sozialistische Partei sollte nur solche Positionen einnehmen, die dem antikapitalistischen Kampf Raum lassen: „Es ist freilich Tatsache, daß die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muß. Allein als Voraussetzung gilt dabei, daß es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann.“ [13]

Und sie schloß: „in der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.“ [14] Auch auf die äußerste mögliche Gefahr des Koalitionsexperiments wies sie hin: „Jaurès, der unermüdliche Verteidiger der Republik, der den Boden für den Zäsarismus bereitet – es klingt wie ein schlechter Scherz. Aber solche Scherze bilden den alltäglichen Ernst der Geschichte.“ [15] Wie prophetisch! MacDonalds Fiasko in England, die Ablösung der Weimarer Republik durch Hitler, der Bankrott der Volksfront in den 30er Jahren und die Koalitionsregierungen in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, die zu de Gaulle führten: das alles sind Resultate solcher Koalitionspolitik.

 

 

Revolutionäre Gewalt

Die Reformisten glaubten, Parlamentarismus und bürgerliche Legalität bedeuteten das Ende der Gewalt als eines Faktors der historischen Entwicklung. Rosa entgegnete ihnen:

Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Wenn ein „freier Bürger“ von einem anderen gegen seinen Willen zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelaß gesteckt und dort eine Zeit lang gehalten wird, so versteht jeder, daß dies ein Gewaltakt ist. Sobald jedoch die Operation auf Grund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelaß „königlich preußisches Gefängnis oder Zuchthaus“ heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist es ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe „Militärdienst“ heißt, bildet sich der gute Bürger ein, im vollen Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, daß ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang „indirekte Steuererhebung“, dann liegt bloß eine Ausübung der geltenden Gesetze vor.

Mit einem Worte: Was sich uns als bürgerliche Gesetzlichkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm erst einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Opportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln: die „gesetzliche Ordnung“ als eine selbständige Schöpfung der „Gerechtigkeit“ und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine „Sanktion“ der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als eine Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporgewachsenen politischen Gewalt der Bourgeoisie. [16]

Daher ist der Gedanke absurd, der Kapitalismus könne mittels der von ihm selbst produzierten Rechtsformen überwunden werden, denn diese sind ja im Grunde nichts anderes als Ausdruck bürgerlicher Gewalt. Letzten Endes braucht es für den Sturz des Kapitalismus revolutionäre Gewalt:

Die Gewalt ist und bleibt die ultima ratio auch der Arbeiterklasse, das bald in latentem, bald in aktivem Zustand wirkende oberste Gesetz des Klassenkampfes. Und wenn wir durch die parlamentarische wie jede andere Tätigkeit die Köpfe revolutionieren, so geschieht es, damit schließlich im Notfall die Revolution von den Köpfen in die Fäuste hinuntersteigt.

Wollte die Sozialdemokratie wirklich einmal, wie ihr die Opportunisten nahelegen, von vornherein und ein für allemal auf den Gebrauch der Gewalt verzichten und die Arbeitermassen auf die bürgerliche Gesetzlichkeit einschwören, dann würde ihr ganzer parlamentarischer und sonstiger politischer Kampf früher oder später kläglich in sich zusammenfallen, um der uneingeschränkten Herrschaft der Gewalt der Reaktion das Feld zu räumen. [17]

Aber obwohl Rosa Luxemburg wußte, daß die Arbeiter gezwungen waren, gegen Ausbeutung und Unterdrückung mit revolutionärer Gewalt anzugehen, litt sie unter jedem Tropfen vergossenen Blutes. Mitten in der deutschen Revolution schrieb sie: Ströme von Blut sind während der vier Jahre des imperialistischen Völkermordes geflossen. Nun müssen wir Sorge tragen, jeden Tropfen dieser kostbaren Flüssigkeit voll Achtung zu hüten und in Kristall zu fassen. „Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.“ [18]

 

 

Hunger und Revolution

Unter Reformisten wie unter manchen, die sich selbst Revolutionäre nennen, herrscht der Glaube, nur Hunger könne Arbeiter dazu bringen, revolutionäre Wege zu beschreiten: Die besser gestellten Arbeiter von Mittel- und Westeuropa, so argumentierten die Reformisten, könnten daher nur sehr wenig von den hungrigen und unterdrückten russischen Arbeitern lernen. Rosa Luxemburg tat viel für eine Korrektur dieser falschen Auffassung, als sie 1906 schrieb:

Desgleichen liegt viel Übertreibung in der Vorstellung, als habe der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im ökonomischen wie politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht der großindustriellen und großstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann man in Rußland gleiche, ja hier und da selbst höhere Lehne finden als in Deutschland. Auch in bezug auf die Arbeitszeit wird der Unterschied zwischen den großindustriellen Betrieben hier und dort kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit einem vermeintlichen materiellen und kulturellen Helotentum der russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen. Dieser Vorstellung müßte bei einigem Nachdenken schon die Tatsache der Revolution selbst und der hervorragenden Rolle des Proletariats in ihr widersprechen. Mit Paupers werden keine Revolutionen von dieser politischen Reife und Gedankenklarheit gemacht, und der im Vordertreffen des Kampfes stehende Petersburger und Warschauer, Moskauer und Odessaer Industriearbeiter ist kulturell und geistig dem westeuropäischen Typus viel näher, als sich diejenigen denken, die als die einzige und unentbehrliche Kulturschule des Proletariats den bürgerlichen Parlamentarismus und die regelrechte Gewerkschaftspraxis betrachten. [19]

Übrigens können leere Mägen nicht nur zur Rebellion, sondern auch zur Unterwerfung führen.

 

 

Sozialreform oder Revolution

Rosa Luxemburg stand stets auf dem Boden des Klassenkampfes, gleichviel ob er auf Konzessionen der Kapitalistenklasse abzielte oder auf den Sturz des kapitalistischen Systems. Sie unterstützte den Kampf um soziale Reformen ebenso wie die soziale Revolution; sie betrachtete den Kampf um Reformen vor allem als Schule für den revolutionären Kampf, deren große historische Bedeutung sie aus der Analyse ihrer wechselseitigen Beziehungen ableitete.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie zum Beispiel Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.

Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergang einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.

Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten des Revisionismus zu dem selben Schluß, wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen. [20]

 

 

Anmerkungen

1. Sozialreform oder Revolution?; zit. nach GW III, S.45f.

2. a.a.O., S.47, Text der 2. Aufl.

3. a.a.O., S.49, der erste Satz nach dem Text der 2. Aufl.

4. a.a.O., S.39.

5. Vorwärts vom 26. März 1899 (Anm. von Rosa Luxemburg).

6. Sozialreform oder Revolution?, a.a.O., S.79

7. Düsseldorf 1957.

8. Der mythische König von Korinth, der in der Unterwelt dazu verdammt war, einen riesigen Stein auf einen Berg zu rollen; das ständige Zurückrollen dieses Steins machte es ihm unmöglich, seine Aufgabe jemals zu vollenden.

9. Sozialreform oder Revolution?, a.a.O., S.77f.

10. a.a.O., S.54.

11. a.a.O., S.60

12. Die sozialistische Krise in Frankreich (1901), zit. nach GW III, S.307.

13. Eine taktische Frage (1899), zit. nach GW III, S.271.

14. a.a.O., S.273.

15. Zum französischen Einigungskongreß (1900), zit. nach GW III, S.355.

16. Und zum dritten Mal das belgische Experiment (1902), zit. nach GW IV, S.361f.

17. a.a.O., S.366.

18. Rote Fahne, 18.11.1918.

19. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, (1906), zit. nach PS I, S.186f.

20. Sozialreform oder Revolution?, zit. nach GW III, S.86f.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004