Tony Cliff

 

Staatskapitalismus in Rußland

 

7. Kapitel:
Rußland – ein degenerierter Arbeiterstaat?
Überprüfung der trotzkistischen Definition

 

 

Trotzki geht bei seiner Analyse des Stalinismus von der Tradition des Bolschewismus aus. Dem Stalinismus und der bürokratischen Konterrevolution stellt er den Marxismus und die sozialistische Oktoberrevolution gegenüber. Der Autor dieses Buches versteht sich als Schüler Trotzkis und teilt dessen theoretischen Ansatz, den Stalinismus vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus zu beurteilen. Gerade deshalb soll Trotzkis Analyse des stalinistischen Regimes mit besonderer Aufmerksamkeit kritisch untersucht werden.

 

 

Kann ein Staat, der nicht unter der Kontrolle der Arbeiter steht, ein Arbeiterstaat sein?

In Trotzkis Schriften finden sich zwei verschiedene und ziemlich gegensätzliche Definitionen eines Arbeiterstaates. Nach der ersten Definition gilt als Kriterium für einen Arbeiterstaat, ob das Proletariat die direkte oder indirekte Kontrolle, wie eingeschränkt auch immer, über die Staatsmacht besitzt; das heißt, ob das Proletariat die Bürokratie allein auf dem Weg der Reform überwinden kann und keine Revolution dazu notwendig ist. 1931 schrieb Trotzki:

Die Kennzeichnung des gegenwärtigen Sowjetstaates als Arbeiterstaat bedeutet nicht nur, daß die Bourgeoisie die Macht nicht anders als auf dem Wege des bewaffneten Aufstandes erobern kann, sondern schließt gleichzeitig ein, daß das russische Proletariat noch die Möglichkeit hat, ohne eine neue Revolution auf dem Reformweg sich die Bürokratie zu unterwerfen, die Partei mit neuem Leben zu erfüllen und das Regime der Diktatur zu erneuern. [353]

In einem Brief an Borodai, der Mitglied der oppositionellen Gruppe der demokratischen Zentralisten war, drückte er diesen Gedanken noch klarer aus. Der Brief trägt kein Datum, doch sprechen alle Anzeichen dafür, daß er Ende 1928 geschrieben wurde. Darin heißt es:

Ist die Degeneration des Apparats und der Sowjetmacht eine Tatsache? Das ist die zweite Frage, schreiben Sie. Zweifellos ist die Degeneration des Sowjetapparates beträchtlich weiter fortgeschritten als die des Parteiapparates. Trotzdem, es ist die Partei, die entscheidet. Gegenwärtig heißt das: der Parteiapparat. Die Frage kommt so auf dasselbe hinaus: Ist der proletarische Kern der Partei mit Unterstützung der Arbeiterklasse in der Lage, über die Autokratie des Parteiapparates zu triumphieren, der mit dem Staatsapparat verschmilzt? Wer im voraus darauf antwortet, daß er nicht dazu in der Lage ist, geht nicht nur von der Notwendigkeit einer neuen Partei auf einem neuen Fundament aus, sondern auch von der Notwendigkeit einer zweiten, neuen proletarischen Revolution. [354]

An einer späteren Stelle desselben Briefes schreibt er:

Ist die Partei ein Leichnam, dann muß eine neue Partei auf einer neuen Plattform gebildet werden, und das muß der Arbeiterklasse offen gesagt werden. Ist der Thermidor eine vollendete Tatsache und die Diktatur des Proletariats liquidiert, dann muß das Banner einer zweiten proletarischen Revolution entfaltet werden. So würden wir handeln, wenn der Weg der Reform, für den wir eintreten, sich als hoffnungslos erwiese. [355]

Trotzkis zweite Definition beruht auf einem völlig anderen Kriterium. Gleichgültig, wie losgetrennt der Staatsapparat von den Massen ist, und selbst wenn nur eine Revolution die Bürokratie hinwegfegen kann: solange die Produktionsmittel verstaatlicht sind, bleibt der Staat ein Arbeiterstaat und ist das Proletariat die herrschende Klasse. In der „Verratenen Revolution“ schreibt Trotzki:

Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlagen der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse bestimmen für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates. [356]

Daraus müssen 3 Schlußfolgerungen gezogen werden:

  1. Trotzkis zweite Definition des Arbeiterstaates hebt die erste auf.
  2. Ist die zweite Definition richtig, dann hatte das Kommunistische Manifest unrecht, in dem es heißt: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates zu zentralisieren ...“ und es hatte Unrecht mit seiner Behauptung, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse [ist]“.

    Darüber hinaus wären dann weder die Pariser Kommune noch die Diktatur der Bolschewiki Arbeiterstaaten gewesen, denn die Pariser Kommune verstaatlichte die Produktionsmittel überhaupt nicht, und die Bolschewiki taten es erst nach einiger Zeit.

  3. Verfügt der Staat über die Produktionsmittel, und steht er nicht unter der Kontrolle der Arbeiter, dann verfügen diese auch nicht über die Produktionsmittel. Sie sind dann auch nicht die herrschende Klasse. In der ersten Definition ist das enthalten. Die zweite Definition umgeht das Problem, widerlegt allerdings auch nicht die erste.

 

 

Die Definition Rußlands als Arbeiterstaat und die Marxistische Staatstheorie

Die Behauptung, Rußland sei ein degenerierter Arbeiterstaat, muß zu Schlußfolgerungen führen, die der Marxschen Staatstheorie direkt entgegengesetzt sind. Eine Analyse der von Trotzki in bestimmter Weise verwandten Begriffe „politische Revolution, und „soziale Konterrevolution“ wird das verdeutlichen. In der Verratenen Revolution schreibt Trotzki:

Um den Charakter der heutigen UdSSR besser verstehen zu können, zeichnen wir zwei hypothetische Zukunftsvarianten. Stellen wir uns vor, die Sowjetbürokratie sei gestürzt von einer revolutionären Partei, die alle Eigenschaften des alten Bolschewismus besitzt, zugleich aber auch um die Welterfahrung der letzten Periode reicher ist. Eine solche Partei würde zunächst die Demokratie in Gewerkschaften und Sowjets wiederherstellen. Sie könnte und müßte den Sowjetparteien die Freiheit wiedergeben. Gemeinsam mit den Massen und an ihrer Spitze würde sie schonungslos den Staatsapparat säubern. Sie würde Titel und Orden, überhaupt alle Privilegien abschaffen und die Ungleichheit in der Entlohnung auf das Maß des für Wirtschaft und Staatsapparat Lebensnotwendigen beschränken. Sie würde der Jugend Gelegenheit geben, selbständig zu denken, zu lernen, zu kritisieren und sich zu formen. Sie würde entsprechend den Interessen und dem Willen der Arbeiter- und Bauernmassen tiefgehende Änderungen in der Verteilung des Volkseinkommens vornehmen. Doch was die Eigentumsverhältnisse anbelangt, so brauchte die neue Macht keine revolutionären Maßnahmen zu ergreifen. Sie würde das Planwirtschaftsexperiment fortsetzen und weiterentwickeln. Nach der politischen Revolution, d.h. nach der Niederringung der Bürokratie, hätte das Proletariat in der Wirtschaft eine Reihe wichtigster Reformen, doch keine neue soziale Revolution durchzuführen. Würde dagegen die herrschende Sowjetkaste von einer bürgerlichen Partei gestürzt, so fände letztere unter den heutigen Bürokraten, Administratoren, Technikern, Direktoren, Parteisekretären, überhaupt privilegierten Spitzen, nicht wenige willige Diener. Eine Säuberung des Staatsapparates wäre natürlich auch in diesem Falle erforderlich, doch brauchte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als ein revolutionäre Partei. Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre jedoch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherzustellen ... Obwohl die Sowjetbürokratie einer Restauration gut vorgearbeitet hat, müßte das neue Regime auf dem Gebiete der Eigentumsformen und Wirtschaftsmethoden nicht Reformen, sondern eine soziale Umwälzung durchführen. [357]

Schauen wir uns diese Aussage genauer an:

Im Verlauf bürgerlicher politischer Revolutionen, zum Beispiel der französischen Revolution von 1830 wie von 1848, wandelte sich mehr oder weniger die Regierungsform, doch der Staatstvp blieb derselbe – besondere Formationen bewaffneter Menschen, Gefängnisse usw. –, losgetrennt von der Bevölkerung und im Dienst der Kapitalistenklasse. Hitlers Sieg in Deutschland hatte zweifellos eine großangelegte Säuberung des Staatsapparats zur Folge, doch die Staatsmaschinerie insgesamt wurde nicht zerschlagen, sondern blieb grundsätzlich unverändert. In einem Arbeiterstaat ist der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt viel enger als in irgendeinem anderen Staatswesen. Selbst wenn man annimmt, in einem Arbeiterstaat könnten politische Revolutionen stattfinden, bleibt doch unbestritten, daß die Staatsmaschine dann nach der proletarisch-politischen Revolution in ihrer alten Form weiter bestehen kann. Wenn Rußland ein Arbeiterstaat ist, dann kann und wird die revolutionäre Partei die bestehende Staatsmaschine benutzen, auch wenn sie nach ihrer Machtübernahme eine große Säuberung des Staatsapparates durchführen müßte. Auf der anderen Seite könnte die an die Macht kommende Bourgeoisie die bestehende Staatsmaschine nicht in ihren Dienst stellen, sondern wäre gezwungen, sie zu zerschlagen und auf den Trümmern einen neuen Staat aufzubauen.

Sind diese Bedingungen in Rußland vorhanden? Die Frage richtig stellen, heißt sie schon halb beantworten. Es ist offensichtlich, daß die revolutionäre Partei weder die Geheimpolizei noch die Bürokratie und das stehende Heer in ihren Dienst stellen wird. Die revolutionäre Partei wird den bestehenden Staat zerschlagen und Räte, Volksmilizen etc. an seine Stelle setzen. Dagegen könnte die an die Macht gekommene Bourgeoisie ohne weiteres die Geheimpolizei, die reguläre Armee usw. für ihre Zwecke verwenden. Trotzki umgeht die Anwendung der marxistischen Staatstheorie auf die politische Revolution und die soziale Konterrevolution in Rußland zum Teil mit der Behauptung, die revolutionäre Partei würde mit der Wiederherstellung der Demokratie in Gewerkschaften und Räten beginnen. In Wirklichkeit gibt es in Rußland weder Gewerkschaften noch Räte, in denen die Demokratie wiederhergestellt werden könnte. Es geht nicht darum, den Staatsapparat zu reformieren, sondern darum, ihn zu zerschlagen und einen neuen Staat aufzubauen.

Gleichgültig, ob man davon ausgeht, daß das Proletariat bei seiner Machtübernahme die bestehende Staatsmaschine zerschlagen muß, während die Bourgeoisie sie in ihren Dienst stellen kann, oder daß weder Proletariat noch Bourgeoisie den existierenden Staatsapparat benutzen können (weil dessen Säuberung so tiefgreifend ist, daß er sich qualitativ verändert), die Schlußfolgerung ist in beiden Fällen dieselbe: Rußland ist kein Arbeiterstaat. Anzunehmen, Proletariat und Bourgeoisie könnten den gleichen Staatsapparat als Herrschaftsinstrument verwenden, wäre gleichbedeutend mit der Verwerfung der revolutionären Staatstheorie, wie sie von Marx, Engels, Lenin und Trotzki entwickelt wurde.

 

 

Es ist eine metaphysische Abstraktion, die Eigentumsform losgelöst von den Produktionsverhältnissen zu betrachten

Jeder Marxist geht davon aus, daß der Begriff des Privateigentums an sich ohne Berücksichtigung der Produktionsverhältnisse eine unhistorische Abstraktion ist. Die menschliche Geschichte kennt das Privateigentum der Sklavengesellschaft, des Feudalismus und des Kapitalismus, die sich fundamental voneinander unterscheiden. Marx machte sich über Proudhons Versuch lustig, das Privateigentum unabhängig von den Produktionsverhältnissen zu definieren. Was die Produktionsmittel in Kapital verwandelt, ist die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse. Wie Marx schrieb:

In jeder historischen Epoche hat sich das Eigentum anders und unter ganz verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt. Das bürgerliche Eigentum definieren, heißt somit nichts anderes, als die gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen. Eine Definition des Eigentums als eines unabhängigen Verhältnisses, einer besonderen Kategorie, einer abstrakten und ewigen Idee geben wollen, kann nichts anderes sein als eine Illusion der Metaphysik oder der Jurisprudenz. [358]

Alle Kategorien, die Beziehungen zwischen den Menschen im Produktionsprozeß ausdrücken – Wert, Preis, Lohn etc. –, sind integraler Bestandteil des bürgerlichen Eigentums. Die Bewegungsgesetze des kapitalistischen Systems bestimmen den geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter des kapitalistischen Privateigentums und unterscheiden es von anderen Formen des Privateigentums. Proudhon, der die Eigentumsform von den Produktionsverhältnissen abtrennte, „konfundierte die Totalität dieser Produktionsverhältnisse (der kapitalistischen) in dem allgemeinen juristischen Begriff des „Eigentums““. Deshalb „konnte er nicht über die Antwort hinausgelangen, die Brissot schon vor 1789 in einem ähnlichen Werk in den gleichen Worten gegeben hatte: „Eigentum ist Diebstahl“.“ [359]

Marx stellte immer klar heraus, daß Privateigentum und Privateigentum historisch etwas ganz Verschiedenes bedeuten und sehr verschiedenen Klassen als Basis dienen können. Daß dasselbe auch für Staatseigentum zutreffen kann, leuchtet auf den ersten Blick nicht so ein. Der wesentliche Grund dafür ist, daß die menschliche Geschichte, soweit sie uns bekannt ist, die Geschichte von Klassenkämpfen auf der Grundlage von Privateigentum gewesen ist. Die Fälle, in denen die Klassenspaltung nicht auf Privateigentumsbasis erfolgte, sind nicht sehr zahlreich und auch nicht sonderlich gut bekannt. Aber es hat sie gegeben.

Als erstes Beispiel können wir ein Kapitel europäischer Geschichte heranziehen: die katholische Kirche im Mittelalter. Die Kirche verfügte über riesigen Landbesitz, auf dem Hunderttausende von Bauern arbeiteten. Die Beziehungen zwischen Kirche und Bauern waren genauso feudal, wie die zwischen feudalem Gutsherrn und Bauern. Die Kirche als solche hatte feudalen Charakter. Gleichzeitig verfügte kein Bischof, Kardinal usw. über ein individuelles Besitzrecht an diesem Feudaleigentum. Die Produktionsverhältnisse bestimmten den Klassencharakter des kirchlichen Eigentums. Das Kircheneigentum hatte feudalen Charakter, obwohl es kein Privateigentum war.

Dagegen könnte eingewandt werden, die Kirche sei nur ein Anhängsel des gesamten Feudalsystems gewesen und daher rühre ihr feudaler Charakter; dieses Argument ist in unserem Zusammenhang irrelevant, da es hier gar nicht darum geht, den Aufstieg der katholischen Kirche, die Konzentration riesiger Ländereien in ihren Händen und die Herstellung feudaler Beziehungen zwischen Kirche und Bauern zu erklären. Es soll nur gezeigt werden, daß ein und dieselben Produktionsverhältnisse sich in verschiedenen Eigentumsformen ausdrücken können, einmal als privates und einmal als institutionelles Eigentum.

Aus der östlichen Geschichte ließen sich zahlreiche Beispiele von Wirtschaftssystemen mit scharfen Klassenspaltungen anführen, die kein Privateigentum, sondern Staatseigentum zur Grundlage hatten. Solche Gesellschaften bestanden im pharaonischen und mohammedanischen Ägypten, im Irak, in Persien und Indien. Daß der Staat das Land besaß, scheint hauptsächlich darauf zurückzuführen zu sein, daß die Landwirtschaft dieser Gesellschaften auf Bewässerungssysteme angewiesen war, die nur vom Staat organisiert werden konnten.

 

 

Die russische Bürokratie – ein Gendarm für die Verteilung?

Trotzki schreibt, die Unterdrückung der Massen durch den stalinistischen Staat sei die Folge dessen,

daß die heutige Übergangsordnung noch voller sozialer Gegensätze steckt, die auf dem Gebiete des Verbrauchs – das alle am nächsten und am fühlbarsten angeht furchtbar gespannt sind und stets drohen, von hier aus auf das Gebiet der Produktion überzugreifen. [360]

Das heißt,

Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Verbrauchsgegenständen mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muß ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie „weiß“ wem zu geben, und wer zu warten hat. [361]

Stimmt es, daß die Bürokratie nur im Verteilungsprozeß als Gendarm auftritt oder trifft das für den gesamten Produktionsprozeß zu, von dem der Verteilungsprozeß nur ein untergeordneter Teil ist?

Diese Frage ist von größter theoretischer und politischer Bedeutung. Bevor wir versuchen, sie zu beantworten, wollen wir uns in Erinnerung rufen, was Marx und Engels über die Beziehungen von Produktionsverhältnissen und Verteilung dachten. Marx schrieb:

Dem einzelnen Individuum gegenüber erscheint natürlich die Distribution als ein gesellschaftliches Gesetz, das seine Stellung innerhalb der Produktion bedingt, innerhalb deren es produziert, die also der Produktion vorausgeht. Das Individuum hat von Haus aus kein Kapital, kein Grundeigentum. Es ist von Geburt auf die Lohnarbeit angewiesen durch die gesellschaftliche Distribution. Aber dieses Angewiesensein selbst ist das Resultat (dessen), daß Kapital, Grundeigentum als selbständige Produktionsagenten existieren.

Ganze Gesellschaften betrachtet, scheint die Distribution noch nach einer Seite hin der Produktion vorherzugehen und sie zu bestimmen; gleichsam als anteökonomisches fact (vorökonomische Tatsache). Ein eroberndes Volk verteilt das Land unter die Eroberer und imponiert so eine bestimmte Verteilung und Form des Grundeigentums: bestimmt also die Produktion. Oder es macht die Eroberten zu Sklaven und macht so Sklavenarbeit zur Grundlage der Produktion, durch Revolution, zerschlägt das große Grundeigentum in Parzellen; gibt also durch diese neue Distribution der Produktion einen neuen Charakter. Oder die Gesetzgebung vereinigt das Grundeigentum in gewissen Familien, oder verteilt die Arbeit (als) erbliches Privileg und fixiert sie so kastenmäßig. In all diesen Fällen, und sie sind alle historisch, scheint die Distribution nicht durch die Produktion, sondern umgekehrt die Produktion durch die Distribution gegliedert und bestimmt.

Die Distribution in der flachsten Auffassung erscheint als Distribution der Produktion, und so weiter entfernt und quasi selbständig gegen die Produktion. Aber ehe die Distribution Distribution der Produkte ist, ist sie: 1. Distribution der Produktionsinstrumente und 2., was eine Bestimmung desselben Verhältnisses ist, Distribution der Mitglieder der Gesellschaft unter die verschiedenen Arten der Produktion. (Subsumtion der Individuen unter bestimmte Produktionsverhältnisse.) Die Distribution der Produkte ist offenbar nur Resultat dieser Distribution, die innerhalb des Produktionsprozesses selbst einbegriffen ist und die Gliederung der Produktion bestimmt. [362]

Diese Marxsche Äußerung, deren grundlegender Gehalt in all seinen Schriften immer wieder auftaucht, kann als geeigneter Ausgangspunkt angesehen werden, um die Stellung der stalinistischen Bürokratie in der Wirtschaft zu bestimmen. Bezüglich der russischen Bürokratie können folgende Fragen gestellt werden: Bestimmt die Bürokratie nur die Verteilung der Konsumtionsmittel unter die Bevölkerung, oder bestimmt sie auch die Stellung der Bevölkerung im Produktionsprozeß? Verfügt die Bürokratie nur bei der Kontrolle der Verteilung über ein Monopol oder auch bei der Kontrolle über die Produktionsmittel? Teilt sie nur die Konsumtionsmittel zu, oder teilt sie auch die verfügbare gesellschaftliche Arbeitszeit zwischen Akkumulation und Konsumtion auf, zwischen der Produktion von Produktionsmitteln und der Produktion von Konsumtionsmitteln? Reproduziert nicht die Bürokratie die Knappheit an Konsumgütern und damit auch bestimmte Verteilungsverhältnisse? Bestimmen die in Rußland vorherrschenden Produktionsverhältnisse nicht die Verteilungsverhältnisse, die noch einen Teil der Produktionsverhältnisse bilden?

 

 

Soziale oder politische Revolution?

Stimmt man Trotzki darin zu, daß eine Revolution der russischen Arbeiterklasse gegen die Bürokratie keine soziale Revolution darstellt, gerät man in unmittelbaren Widerspruch zur Marxschen Gesellschaftstheorie.

Für Marx war der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten eine soziale Revolution. Die Befreiung der Sklaven und ihre Verwandlung in Lohnarbeiter war eine soziale Revolution: Eine gesellschaftliche Klasse ging unter und machte einer anderen Platz. Warum sollte der Sturz der Stalin-Bürokratie und die Befreiung von Millionen Sklaven in den Arbeitslagern keine soziale Revolution sein, sondern nur eine politische? Die Agrarrevolution, die die feudalen Güter in den Besitz der Bauern brachte und Leibeigene in freie Bauern verwandelte, war eine soziale Revolution. Warum sollte das Ende der staatlichen Ausplünderung, der Zwangsablieferungen und die Transformation der Kolchosen in das wirkliche Eigentum der Kolchosmitglieder, das sie besitzen und über das sie verfügen, keine soziale Revolution sein?

Eine politische Revolution unterstellt, daß mit dem Regierungswechsel nur Individuen, Gruppen oder regierende Schichten ausgewechselt werden, aber dieselbe Klasse an der Macht bleibt. Folglich gehören der Bürokrat und der Arbeiter, der NKWD-Wächter und sein Gefangener derselben Klasse an. Wie kann das sein, wenn ihre Stellung im Produktionsprozeß nicht nur nicht dieselbe ist, sondern in scharfem Gegensatz zueinander steht? Akzeptiert man, daß Arbeiter und Bürokraten zur gleichen Klasse gehören, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß es in Rußland keinen Klassenkampf gibt, sondern nur Auseinandersetzungen innerhalb einer Klasse. Entzieht das nicht Trotzkis Angriff auf Stalin jede Grundlage, der behauptete, in Rußland gebe es keinen Klassenkampf mehr?

 

 

Trotzkis letzte Schrift

Die russische Arbeiterklasse war die einzige, die eine Zeitlang die Macht innehatte. Ihr Sturz nahm unter den sehr komplizierten ökonomischen und politischen Umständen Rußlands eine unvorhersehbare Form an. Es ist deshalb nicht zufällig, daß sogar ein Mann wie Trotzki mit seinen brillanten analytischen Fähigkeiten seine grundlegende Analyse des stalinistischen Regimes von Zeit zu Zeit neu überdenken mußte.

Von jener Zeit, als die Zustimmung zur Theorie des degenerierten Arbeiterstaates Mitgliedsbedingung für die linke Opposition war, bis hin zu dem Zeitpunkt, zu dem Trotzki keinen Ausschluß derjenigen, die sich gegen eine Verteidigung der SU wandten, aus der Internationale vorschlug, obwohl er ihre Position nicht akzeptierte, erfuhr seine eigene Position eine beachtliche Akzentverschiebung. Es war kein Zufall, daß er sich in seiner Polemik mit Schachtman Ende 1939 und 1940 gegen eine Spaltung der Partei aussprach, auch wenn er gegen Schachtman und Burnham in der Minderheit bliebe. Er würde dann nach wie vor in der gemeinsamen Partei für seine Position kämpfen. [363]

In Trotzkis letzter Schrift Stalin zeichnet sich ein deutlicher Schritt zur Neueinschätzung der Bürokratie als einer herrschenden Klasse ab. Im Zusammenhang mit seiner Erklärung der gesellschaftlichen Ursachen des Machtaufstiegs der stalinistischen Bürokratie schreibt er:

Die Substanz des Thermidor war sozialen Charakters und konnte nur sozialen Charakters sein. Sie war die Kristallisierung einer neuen privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaus für die ökonomisch herrschende Klasse. Zwei Anwärter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und die Bürokratie selbst. Sie kämpften Schulter an Schulter (in der Schlacht um die Brechung) des Widerstandes der proletarischen Avantgarde. Als diese Aufgabe erfüllt war, brach ein wütender Kampf unter ihnen los. Die Bürokratie in ihrer Isolierung und Trennung vom Proletariat bekam Angst. Allein war sie nicht imstande, weder den Kulaken niederzuhalten noch das Kleinbürgertum, das auf der Basis der NEP gewachsen war und weiter wuchs. Sie brauchte die Hilfe des Proletariats. Daher ihre planmäßigen Anstrengungen, den Kampf des Proletariats gegen die kapitalistischen Restaurierungsversuche darzustellen. [364]

Die Bürokratie, sagt Trotzki, gab vor, gegen die kapitalistische Restauration zu kämpfen, benutzte aber in Wirklichkeit das Proletariat nur, um die Kulaken zu vernichten, mit dem Ziel „der Kristallisierung einer neuen privilegierten Schicht, [der] Schöpfung eines neuen Unterbaus für die ökonomisch herrschende Klasse“. Einer der Thronbewerber um die Position der ökonomisch herrschenden Klasse – schreibt er – ist die Bürokratie. Dieser Formulierung muß große Bedeutung beigemessen werden, besonders wenn man seine Analyse des Kampfes zwischen der Bürokratie und den Kulaken im Zusammenhang mit seiner Definition des Klassenkampfes sieht. Er schreibt:

Der Klassenkampf ist nichts anderes als der Kampf um das Mehrprodukt. Wer das Mehrprodukt besitzt, ist der Herr der Lage – er besitzt Reichtum, ihm gehört der Staat, der Schlüssel zur Kirche, zu den Höfen, zu Wissenschaften und Künsten liegt in seiner Hand. [365]

Der Kampf zwischen Bürokratie und Kulaken war deshalb nach Trotzki ein „Kampf ... um das Mehrprodukt“.

 

 

In Rußland existieren keine Kräfte, die den Privatkapitalismus wiederherstellen könnten. Was ergibt sich daraus für den Klassencharakter Rußlands?

Wenn Trotzki von der Gefahr der sozialen Konterrevolution in Rußland sprach, meinte er die Wiederherstellung des Privatkapitalismus. Der stalinistische Bonapartismus wird von ihm als ausgleichendes Element zwischen zwei Klassenkräften verstanden, die sich in der nationalen Arena gegenüberstehen: auf der einen Seite die Arbeiterklasse, die Staatseigentum und Planung unterstützt, auf der anderen Seite die bürgerlichen Elemente, die für das Privateigentum kämpfen. Er schreibt:

Sie [die Bürokratie] verteidigt weiter das Staatseigentum nur insofern sie das Proletariat fürchtet. Diese heilsame Angst wird genährt und aufrechterhalten durch die illegale Partei der Bolschewiki-Leninisten, die den bewußtesten Ausdruck der sozialistischen Tendenz gegen die bürgerliche Reaktion darstellt, von welcher die thermidorianische Bürokratie ganz und gar durchdrungen ist. Als bewußte politische Kraft hat die Bürokratie die Revolution verraten. Aber die siegreiche Revolution ist zum Glück nicht nur Programm und Banner, nicht nur ein Ensemble politischer Einrichtungen, sondern auch ein System sozialer Beziehungen. Es verraten ist wenig, man muß es auch noch stürzen. [366]

An dieser Stelle wird die abstrakt-juristische Fassung der Eigentumsform besonders deutlich. Die inneren Widersprüche der Analyse treten klar hervor. Das russische Proletariat war nicht stark genug, um die Kontrolle über die Produktionsmittel zu behalten und wurde von der Bürokratie enteignet; aber es ist stark genug, zu verhindern, daß dieses Verhältnis juristischen Ausdruck findet!

Das Proletariat war nicht stark genug, eine höchst antagonistische Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsprodukts zu verhindern; es war nicht stark genug, die brutale Senkung des Lebensstandards, die Abschaffung seiner elementarsten Rechte und die Verurteilung von Millionen Arbeitern zu sibirischer Sklavenarbeit zu verhindern; aber es war stark genug, die Eigentumsform zu verteidigen! Als gäbe es irgendeine Beziehung zwischen Menschen und Eigentum, die nicht auf den Produktionsverhältnissen beruhte.

Außerdem: Nur wenn die Furcht vor der Arbeiterklasse das einzige Hindernis für die Wiederherstellung des Privatkapitalismus gewesen wäre, wenn die Bürokratie, wie Trotzki schreibt, bewußter Träger der Restauration war, dann hätte sich seine Aussage bewahrheitet, daß das stalinistische Regime so stabil sei, wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide; dann hätte sich seine Prognose über das Schicksal der verstaatlichten Ökonomie während des Krieges verwirklicht. Er faßte seine Position wie folgt zusammen:

In der Hitze der Kriegsatmosphäre kann man damit rechnen, daß scharfe Wendungen in der Richtung erfolgen werden, daß individualistische Prinzipien in der Landwirtschaft und in der handwerklichen Industrie sich verstärken, ausländisches und „verbündetes“ Kapital angezogen wird, das Außenhandelsmonopol Risse bekommt, die Regierungskontrolle über die Trusts geschwächt, die Konkurrenz zwischen den Trusts und der Konflikt mit den Arbeitern größer wird. Auf der politischen Ebene können diese Ereignisse die Vollendung des Bonapartismus bedeuten, begleitet von einer Reihe von Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen. Mit anderen Worten, im Fall eines langwierigen Krieges bei gleichzeitiger Passivität des Weltproletariats könnten nicht nur, sondern müßten die inneren gesellschaftlichen Widersprüche der UdSSR zu einer bürgerlich-bonapartistischen Konterrevolution führen. [367]

Vor den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges konnte man noch von der verständlichen, wenn auch falschen Annahme ausgehen, daß der Privatkapitalismus in Rußland ohne Besetzung durch eine imperialistische Macht wiederhergestellt werden könnte. Doch der Sieg der konzentrierten verstaatlichten russischen Wirtschaft über die deutsche Kriegsmaschine brachte all das Gerede von einer solchen Möglichkeit zum Schweigen.

Eine Restauration des Privatkapitalismus durch externe Kräfte ist deshalb nicht ausgeschlossen; denkbar wäre sogar, daß Rußland infolge von Kriegsverwüstungen und durch die Auslöschung des größten Teils seiner Bevölkerung auf eine vorkapitalistische Entwicklungssstufe zurückgeworfen würde.

Wenn Trotzki Rußland als Übergangsgesellschaft definierte, betonte er richtig, daß eine solche Gesellschaft unter dem Zwang ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten entweder zum Sieg des Sozialismus oder zur Restauration des Privatkapitalismus tendieren müsse. Wird die zweite Alternative ausgeschlossen, bleiben drei Möglichkeiten:

  1. Die innere Klassenstruktur Rußlands tendiert nur in eine Richtung – auf den Kommunismus zu. Das ist der Standpunkt der Stalinisten und auch der Bruno Rs. [368]
  2. Die russische Gesellschaft ist weder kapitalistisch noch sozialistisch. Obgleich die Produktivkräfte ununterbrochen anwachsen, wird das nicht zum Kommunismus führen. Obwohl die Ausbeutung der Klassen unverändert weitergeht, wird es auch nicht zum Privatkapitalismus kommen. Das ist die Theorie der „Revolution der Manager“, und des bürokratischen Kollektivismus in Schachtmans Formulierung von 1943.
  3. Die russische Gesellschaft ist entweder eine Übergangsgesellschaft mit zwei möglichen Entwicklungsrichtungen – Staatskapitalismus oder Sozialismus – oder sie ist bereits staatskapitalistisch.

Wir halten es für ausgeschlossen, daß die internen Klassenkräfte Rußlands zur Restauration des Privatkapitalismus führen können; gleichzeitig verwerfen wir den Standpunkt der Stalinisten, wie die Theorie des bürokratischen Kollektivismus (sei es in der Shachtmanschen Formulierung oder der Bruno Rs) und den Burnhamismus. Nur die dritte Alternative bleibt deshalb übrig. Im Staatskapitalismus wie im Arbeiterstaat ist der Staat der Besitzer der Produktionsmittel. Der Unterschied zwischen beiden Systemen kann nicht in der Eigentumsform liegen. Das Staatseigentum an Produktionsmitteln, das Trotzki zur Grundlage für seine Einschätzung des Klassencharakters der russischen Gesellschaft nimmt, muß deshalb als nicht stichhaltiges Kriterium zurückgewiesen werden.

 

 

Die „Volksdemokratien“ und die Definition Rußlands als Arbeiterstaat

Die Entstehung der „Volksdemokratien“ brachte die Probe aufs Exempel für die Definition Rußlands als Arbeiterstaat. Wenn Staatseigentum, Planung und Außenhandelsmonopol ein Land zum Arbeiterstaat machen, dann sind zweifellos Rußland wie die Volksdemokratien Arbeiterstaaten. Das heißt, daß in den Volksdemokratien proletarische Revolutionen stattgefunden haben. Diese wurden von den Stalinisten auf der Grundlage nationaler Einheitsparolen, von Regierungskoalitionen mit der Bourgeoisie und chauvinistischen Ideologien eingeleitet und führten zur Vertreibung von Millionen deutscher Arbeiter und ihrer Familien. Diese Politik diente nur dazu, das Rad der proletarischen Revolution in Bewegung zu setzen.

Wie steht es dann um die Zukunft des internationalen Sozialismus? Worin besteht dann noch seine historische Legitimation? Die stalinistischen Parteien sind den internationalen Sozialisten in jeder Hinsicht überlegen – sie verfügen über Staatsapparate, Massenorganisationen, Geld usw. Das einzige, was ihnen fehlt, ist das internationalistische Klassenbewußtsein. Doch wenn die proletarische Revolution ohne dieses Bewußtsein möglich ist, was sollte die Arbeiter dann dazu bewegen, dem Stalinismus den Rücken zu kehren?

Wenn in den osteuropäischen Ländern proletarische Revolutionen ohne eine revolutionäre proletarische Führung stattgefunden haben, dann müssen wir daraus schließen, daß in den zukünftigen – wie in den vergangenen – sozialen Revolutionen die Massen die Kampfbataillone stellen, aber nicht die politischen Ziele bestimmen.

Wer behauptet, die Volksdemokratien seien Arbeiterstaaten, akzeptiert damit, daß die proletarische Revolution im Prinzip genauso wie die bürgerliche auf Volksbetrug beruht. Sind die Volksdemokratien Arbeiterstaaten, dann hat Stalin die proletarische Revolution verwirklicht, und zwar in überraschendem Tempo. 47 Jahre verstrichen seit der Pariser Kommune bis zur Bildung des ersten Arbeiterstaates in einem Land mit 140 Millionen Menschen. Weniger als 40 Jahre gingen vorüber, bis eine Anzahl weiterer Länder zu Arbeiterstaaten wurden. Im Westen fügten Polen, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei 75 Millionen Menschen dazu (nicht eingerechnet die 20 Millionen in den baltischen Staaten, Ostpolen und Bessarabien, die von der UdSSR annektiert wurden). Im Osten kam China mit seiner 600-Millionen-Bevölkerung dazu. Wenn diese Länder Arbeiterstaaten sind, was soll dann der Marxismus noch, was eine IV. Internationale? Sind die Volksdemokratien Arbeiterstaaten, dann muß man die Aussage von Marx und Engels zurückweisen, daß sich im Akt der sozialistischen Revolution „die Geschichte ihrer selbst bewußt wird“. Das gleiche gilt für das, was Engels schrieb:

Erst von da an (der sozialistischen Revolution) werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. [369]

Auch Rosa Luxemburg muß dann Unsinn geredet haben, als sie zusammenfaßte, was alle marxistischen Denker über die Rolle des proletarischen Klassenbewußtseins in der Revolution geschrieben haben:

In allen bisherigen Klassenkämpfen, die im Interesse von Minoritäten ausgefochten wurden oder wo, wie Marx sagt, die gesamte historische Entwicklung im Gegensatz zu der großen Volksmasse stattgefunden hat, da bildete die Unklarheit der Masse über die eigentlichen Ziele den materiellen Gehalt und die Grenzen der historischen Aktion die Vorbedingung selbst dieser Aktion. Dieses Mißverständnis war auch der spezifische geschichtliche Boden der „Führerschaft“ auf seiten der „gebildeten“ Bourgeoisie, der das „Nachrollen“ der Masse entsprach.

Aber, schrieb Marx schon 1845,

mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist. Der proletarische Klassenkampf ist die „gründlichste“ aller bisherigen historischen Aktionen, sie umfaßt die gesamten unteren Volksschichten, und sie ist die erste Aktion, seit dem Bestehen der Klassengesellschaft, die dem eigenen Interesse der Masse entspricht. [370]

 

 

Sind Rußlands Kriegserfolge ein Beweis dafür, daß das Land ein Arbeiterstaat ist?

Während Trotzki aus seiner Theorie des degenerierten Arbeiterstaates den Schluß zog, die russische Bürokratie werde dem Krieg nicht standhalten, sehen viele Trotzkisten heute gerade in Rußlands Kriegserfolgen den Beweis dafür, daß Rußland ein Arbeiterstaat ist. Dieses nachträgliche Argument hält jedoch der Kritik nicht stand. Es stützt sich auf zwei verschiedene Begründungen. 1. Der Enthusiasmus der Massen während des Krieges habe deutlich gemacht, daß sie mehr als ihre Ketten zu verlieren haben, daß sie die herrschende Klasse sind. 2. Die industriell-militärische Stärke Rußlands beweise die historische Überlegenheit des russischen Regimes über den Kapitalismus.

Der ersten Begründung, die in der Presse der IV. Internationale in der Zeit von 1941-1943 vorherrschte, wurde durch den Kriegsverlauf der Boden unter den Füßen weggezogen. Auch die deutsche Armee kämpfte mit letzter Kraft bis vor die Tore Berlins, als bereits jede Siegeshoffnung dahin war. Hatten die deutschen Soldaten auch mehr zu verlieren als ihre Ketten? War die deutsche Arbeiterklasse auch die herrschende Klasse? Was die zweite Begründung angeht, so stimmt es zweifellos, daß die großindustrielle Produktion der kleinindustriellen enorm überlegen ist. Das erklärt weitgehend die Überlegenheit der amerikanischen über die britische Industrie, obgleich beide auf demselben Gesellschaftssystem beruhen. Die jüngere und technisch moderne russische Industrie ist sogar noch auf größerer Stufenleiter aufgebaut als die amerikanische. Außerdem lassen sich durch das Staatseigentum an Produktionsmitteln Überschneidungen und mangelnde Koordination ausschalten, die für privatkapitalistische Länder charakteristisch sind.

Ein weiterer Kriegsvorteil Rußlands gegenüber vielen anderen Staaten bestand darin, daß die russischen Arbeiter keinerlei demokratische Rechte haben. In Rußland wie in Nazi-Deutschland ist es möglich, Kanonen statt Butter zu produzieren, Millionen Arbeiter aus dem Westen hinter den Ural zu schicken und sie in Erdbunkern unterzubringen, ohne Angst vor einer organisierten Opposition haben zu müssen. Die Macht des Staates über Wirtschaft und Arbeiter – darin liegt die Starke von Rußlands militärisch-industri­eller Produktion. Aber genau das erklärt auch die Überlegenheit Nazi-Deutschlands über das bürgerlich-demokratische Frankreich, das bekanntlich beim Vormarsch der deutschen Truppen wie ein Kartenhaus zusammenbrach; sogar England, diese frühere „Werkstatt der Welt“, blieb von der lnvasion nur durch den Kanal, durch die amerikanische Hilfe aus dem Westen und den russischen Druck auf Deutschland aus dem Osten verschont.

Deutschlands anfängliche Kriegserfolge verleiteten verschiedene Leute zu dem Glauben, Deutschland sei kein kapitalistisches Land mehr, sondern repräsentiere ein neues, überlegenes Gesellschaftssystem. Burnham gehörte bemerkenswerterweise zu ihnen.

Der Glaube, Rußlands militärische Erfolge bewiesen an sich schon die Existenz eines neuen Gesellschaftssystems in Rußland, ist ebensowenig begründet wie die Behauptung, das träfe für Nazi-Deutschland zu.

 

 

Was hinderte Trotzki daran, seine Theorie zu widerrufen, Rußland sei ein Arbeiterstaat?

Man neigt dazu, die Zukunft mit den Augen der Vergangenheit zu betrachten. Jahrzehntelang kämpften Sozialisten, wenn sie gegen die Ausbeutung kämpften, gegen die Privateigentümer an den Produktionsmitteln, gegen die Bourgeoisie. Wenn Lenin, Trotzki und die übrigen bolschewistischen Führer davon sprachen, daß der russische Arbeiterstaat zum Untergang verdammt sei, wenn er isoliert bliebe, hatten sie eine bestimmte Vorstellung von der Art dieses Untergangs im Auge: die Wiederherstellung des Privateigentums, während das Staatseigentum als Frucht des Kampfes der Arbeiterklasse galt. Von hier aus war es nicht weit zu der Schlußfolgerung, die Existenz des Staatseigentums in Rußland sei auf die Furcht der Bürokratie vor der Arbeiterklasse zurückzuführen und umgekehrt das Streben der Bürokratie nach immer neuen Privilegien (einschließlich des Erbrechts) als Versuch zu interpretieren, das Privateigentum wiederherzustellen.

Die frühere Erfahrung hinderte Trotzki daran zu verstehen, daß ein Triumph der Reaktion nicht immer die Rückkehr zum Ausgangspunkt bedeutet. Der Niedergang kann vielmehr spiralenförmig erfolgen und sowohl Elemente der vorrevolutionären Zeit wie der revolutionären Periode enthalten, wobei letztere den ersteren untergeordnet werden. Der alte kapitalistische Klasseninhalt wird dann in einer neuen „sozialistischen“ Form aufgehen. Das kann man als eine weitere Bestätigung des Gesetzes der kombinierten Entwicklung betrachten, für dessen Formulierung Trotzki soviel geleistet hat.

Zusammenfassend kann man sagen, daß Trotzki sicher ungleich mehr als jeder andere Marxist zum Verständnis des stalinistischen Regimes beigetragen hat, doch dafür seine Analyse eine schwerwiegende Schwäche offenbart: einen konservativen Hang zum Formalismus, der dem Marxismus fremd ist, der die Form dem Inhalt unterordnet.

 

 

Anmerkungen

353. Problems of the Development of the U.S.S.R. A Draft of the Thesis of the Iniernational Left Opposition on the Russian Question, New York 1931, S.36.

354. New International, April 1943.

355. Ebda.

356. L. Trotzki: Die verratene Revolution, Zürich, S.241.

357. a.a.O., S.245-246.

358. K. Marx: Das Elend der Philosophie, MEW, Bd.4, S.165.

359. a.a.O., S.168-170.

360. Trotzki: Die verratene Revolution, a.a.O., S.111.

361. a.a.O., S.111.

362. K. Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd.13, S.627-628.

363. L. Trotzki: In Defense of Marxism, New York 1942, S.63-70.

364. L. Trotzki: Stalin – Eine Biographie, Köln-Berlin 1952, S.519.

365. L. Trotzki: The Living Thoughts of Karl Marx, London 1940, S.9.

366. L. Trotzki: Die verratene Revolution, a.a.O., S.244-245.

367. L. Trotzki: War and the Fourth International, New York 1934, S.22.

368. In seinem Buch La Bureaucratisation du Monde, Paris 1939.

369. Engels: Anti-Dühring, a.a.O., S.351.

370. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd.1/2, Berlin 1972, S.396.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.9.2002