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Aus Russische Korrespondenz, 1920, Jahrg.1., Nr.19/20, S.1122-1124.
Nachgedruckt in Karl-Heinz Neumann (Hrsg.), Marxismus Archiv, Bd.I, Marxismus und Politik, Frankfurt/M. 1971, S.268-271.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Unsere Revolution, die den Abschluß der „Vorgeschichte der Menschheit“ bildet und die ersten Seiten ihrer wirklichen Geschichte einleitet, ist durch ihre gewaltigen und völlig neuen Versuche überaus interessant und lehrreich. Greift man jetzt beispielsweise zu dem bekannten Buch von Kautsky Über die soziale Revolution, so erscheint dort vieles geradezu wie ein kindliches Lallen. Es fehlte damals noch das empirische Material, um über die konkreten Formen der proletarischen Diktatur, wie überhaupt über alle konkreten Bedingungen zu ihrer Durchführung urteilen zu können. Daß der Sozialismus aus dem Chaos des Weltkrieges, auf dem Boden einer erschöpften und blutleer gewordenen Wirtschaft entsteht, verleiht allein schon der Entwicklung einen ganz besonderen Zug. Hieran hatten nur die großen „Alten“ Marx und Engels gedacht, während die jämmerlichen Epigonen, die künftigen Helden der zweiten Internationale, fast nie daran gedacht haben. In diesem Sinne ist an der russischen Revolution alles neu. Daher wird kein ernster Revolutionär in Deutschland oder in Argentinien an dem gigantischen Laboratorium, das Sowjetrußland heute darstellt, achtlos vorübergehen.
Die russische Revolution hat in erster Reihe die Frage nach der Form der Diktatur beantwortet. Sie hat eine Antwort erteilt auf die Frage, wie die proletarische Staatsmacht gebildet sein muß. Die Räte, die Rätemacht – das ist die durch unsere Revolution geborene Form. Zunächst konnte man glauben, daß die Räte ein spezifisch russisches Produkt wären. Die weiteren Erfahrungen, die Erfahrungen Westeuropas, haben bewiesen, daß dies eine Universalform ist, die in den grundlegenden Bedingungen für den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie wurzelt. Daher müssen alle, die tatsächlich für die Diktatur des Proletariats eintreten, für die Räte- macht kämpfen. Gegenwärtig ist man schon daran gewöhnt, und es gilt an sich als eine selbstverständliche Sache. Aber erst unsere Revolution hat uns diesen Grundsatz der proletarischen Politik geschenkt.
Unsere Revolution hat zum ersten Mal die Rolle und die Bedeutung des proletarischen Vortrupps – der Kommunistischen Partei – in ihrer ganzen gewaltigen Bedeutung aufgezeigt. Niemand hat sich eine konkrete Vorstellung davon gemacht, wieweit nach Eroberung der Macht ihre Bedeutung wächst, niemand hat sich ein Bild davon gemacht, welche ausschließliche und entscheidende organisatorische Rolle diese wichtigste Organisation der Arbeiterklasse wird spielen müssen. Früher stellte man sich die Rolle der Partei mehr oder minder nach parlamentarischer Art vor, bestenfalls sah man in ihr ein gewisses kontrollierendes oder regelndes Organ. Und in Wirklichkeit? In Wirklichkeit ist die Partei überall tätig, und nur deshalb ist die proletarische Diktatur imstande, sich zu halten. Das Transportwesen, die Fabriken, Badeanstalten, Kasernen, die Brotbeschaffung, die Regimenter und Divisionen, der Sanitätsdienst, die Gruppe, die für die Beseitigung des Analphabetentums zu sorgen hat, die politische Abteilung im Heere – alles, was man will, alles, was vorwärts getrieben, organisiert, zu neuem Leben erweckt, aufgebaut werden muß, alles geschieht durch die Räte, die Gewerkschaften und Tausende von Partei- Organisationen. Die Partei gewährleistet die Einheitlichkeit des Handelns, sie beherrscht nicht nur, sondern sie leitet alle Gebiete des Lebens, sie steht in ihrer Bedeutung als organisatorische und schöpferische Kraft einzig da. Dies hat unsere Revolution gezeigt, und sie hat die Notwendigkeit hierfür bewiesen.
Früher liebte man auch, von der Herrschaft der Arbeiterklasse zu sprechen. Doch erst die jetzige Erfahrung zeigt deutlich, wie diese Herrschaft zu verwirklichen ist. Und gerade hier besitzen wir, wie bereits oben erwähnt, reiche Erfahrungen auf dem Gebiete der Heranziehung der proletarischen Massen zur Mitarbeit. Die Rolle der Arbeiter im Heere, die Mobilisierungen durch die Partei und die Gewerkschaften, die Verpflegungstrupps und die Verpflegungsarmeen, unsere wirtschaftlichen Feldzüge, die Struktur unserer wirtschaftlichen Organe, die Rolle der Gewerkschaften, die Arbeiter- und Bauerninspektionen, die parteilosen Konferenzen – das alles sind neue Worte und sind von unserer Revolution gesprochen.
Die Schaffung eines neuen Stammes von Verwaltungsbeamten aus den Reihen der Arbeiter, eines neuen Menschenschlages – auch das ist eine unserer größten Errungenschaften, und vielleicht sogar die größte von allen. Wir haben jetzt bereits gründlich die Vergangenheit vergessen. Es erscheint uns nicht mehr verwunderlich, wenn man an der Spitze eines Kreises oder eines Gouvernements einen Petersburger Metallarbeiter oder Moskauer Textilarbeiter sieht, wenn ein Friseur eine Division befehligt, wenn ein Maler in der Parteischule unterrichtet, und wenn ein Landarbeiter über die Ursächlichkeit und Teleologie in den sozialen Wissenschaften referiert. Wir staunen schon nicht mehr darüber, daß eine ganze Schicht von Menschen existiert, die für die Revolution entstanden sind, die ihre „Goldene Hand“ bilden, die sich zu allem eignen, die heute im Kampf die Führung haben, morgen die Brotrationierung zur Durchführung bringen und übermorgen die Leitung einer Fabrik übernehmen oder mit der Waffe in der Hand eine weißgardistische Verschwörung niederschlagen. Uns wundert nicht mehr, daß das frühere Dienstmädchen oder die frühere Köchin an der Spitze einer politischen Abteilung steht oder die Sekretärin eines Parteikomitees ist, daß sie erst auf dem einen Gebiet und dann auf einem anderen tätig ist und überall mit eigenen Händen neue Lebensverhältnisse schafft. Es genügt, die Jetztzeit mit der Vergangenheit zu vergleichen, um den ganzen Unterschied zu begreifen und zu empfinden. Kälte und Hunger sind noch vorhanden. Dafür sind aber auch Menschen da, und ihre Zahl wächst von Tag zu Tag, die diesen Hunger und diese Kälte überwinden und das Land von seinen Qualen befreien werden.
Es werden jedoch nicht nur Stammtrupps neuer Menschen aus den Kreisen der Arbeiter und Bauern geschaffen. Die ganze Psychologie der Massen, der ganze Horizont, die ganze Denkungsart erfährt eine Veränderung zum Besseren. Es gilt bei den „bürgerlichen Beobachtern“ und ihren Nachbetern (gleichgültig, wie sie sich nennen) als das Zeichen eines guten Tones, über die Passivität der Massen in Sowjetrußland zu sprechen. Die reale Bewertung dessen, was geschieht, und die die Gegenwart der Vergangenheit gegenüberstellt, besagt etwas anderes. Die Massen-Psychologie spiegelt sich wohl am besten in der Sprache wider. Vergleicht die heutige Sprache des Dorfes mit jener aus der vorrevolutionären Zeit, und ihr werdet den Abgrund, der sie trennt, erkennen. Die jetzige Sprache kann fast eine literarische genannt werden. Und der „Horizont“? Hat er sich nicht mit einer ans Märchenhafte grenzenden Schnelligkeit erweitert? Hat das russische Volk, im weitesten Sinne des Wortes, nicht aufgehört, jene verkörperte Stupidität zu sein, über die die vielgelehrten Intellektuellen aus der Familie der Blasierten gehöhnt haben? Die Aufrüttelung der Geister ist eine gewaltige, eine nie dagewesene.
Die Revolution hat aber auch eine Menge Neues im Sinne der Umerziehung der Menschen auf noch andere Weise gegeben. Die kommunistischen Samstage – ist das nicht ein modernes neues Wort? Früher hat nie jemand daran gedacht, niemand hat es vorausgeahnt. Es wurde vielmehr von der Revolution, ebenso wie die Rätemacht selbst, „entdeckt“. Alle Formen gemeinschaftlicher Arbeit, mit den freiwilligen Samstagen beginnend bis zu den Arbeitsheeren und der Arbeitspflicht in unserer Formulierung, sind Versuche von unermeßlicher Bedeutung. Wir selbst wissen noch wenig über uns. Vieles lassen wir noch im Schatten stehen. Dem Schreiber dieser Zeilen sind Fälle bekannt, in denen unser aktives Heer den Bauern die Äcker bestellt, die Geräte repariert, Schulen gebaut, Kinderfeste veranstaltet hat, auf denen die Angehörigen der Roten Armee, die selbst nicht einmal mehr Stiefel an den Füßen hatten, ihr Letztes opferten. Es sind dies Keime jener herrlichen menschlichen Seele, die in der neuen Lebensordnung erblühen wird.
Die Aufklärung der Massen ist von ganz anderer Art wie früher – wer hätte in der guten alten Zeit dies auch nur erträumen können? Wer war imstande, die Agitation und Propaganda in einem solchen Umfange zu betreiben wie wir? Wer hat davon träumen können, ganze Feldzüge zur Beseitigung des Analphabetentums zu organisieren? Wer hat wo und wann die gewaltige Bedeutung solcher Feldzüge überhaupt erfaßt, bei denen die kombinierte Einwirkung verschiedener Faktoren Massenresultate ergeben?
Wir sind noch bettelarm, aber nicht geistig arm. Stunde um Stunde, Tag um Tag wachsen uns immer neue Kräfte. Aus dem unglaublichen Wirrwarr, dem verflixten Hexenkessel, aus dem Meer der kleinbürgerlichen Elemente, aus einem Berg von Schlacken entstehen immer deutlicher erkennbar die Umrisse unserer Zukunft. Man rief uns zu: Nieder mit dem Monopol, es lebe der freie Handel! Aber wir ließen unser Transportwesen nicht zerstören und stürzten uns den Spekulanten nicht in die Arme. Und in der Lebensmittelversorgung ist eine Besserung eingetreten. Man rief uns zu: Alle werden infolge eurer Methoden erfrieren! Und auch mit der Brennstoffversorgung ist es besser geworden. Und zwar deshalb, weil uns neue Kräfte erwachsen, weil unser Apparat eine Vervollkommnung erfährt, deshalb, weil im praktischen Leben, in dem Kampf ums Leben, unsere Arbeiterklasse, der große Schöpfer, Märtyrer und standhafte Kämpfer für das Glück der Menschheit; für die wahre Geschichte der Menschheit, lernt.
Zuletzt aktualisiert am 24.8.2003