N. Bucharin

Die politische Ökonomie des Rentners

* * *

Anhang

Theoretische Versöhnungspolitik*

(Die Werttheorie von Tugan-Baranowsky)

„Männer, die noch wissenschaftliche Bedeutung beanspruchten, und mehr sein wollten als bloße Sophisten und Sykophanten der herrschenden Klassen, suchten die politische Oekonomie des Kapitals in Einklang zu setzen mit den jetzt nicht länger zu ignorierenden Ansprüchen des Proletariats. Daher ein geistloser Synkretismus.“ ...
(Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, S. XII.)

Die schnelle Evolution, die die früheren „legalen Marxisten“ der 90er Jahre durchgemacht hatten, schließt in sich eine ganz bestimmte Tendenz, nämlich: die Entstehung einer liberal-bourgeoisen Ideologie als Gegensatz nicht nur zur Ideologie der dem Kapitalismus feindlichen Narodniki, sondern auch zu der des revolutionären Proletariats, d. h. zum Marxismus. Diese an sich einheitliche Tendenz war demnach, wie jede soziale Erscheinung, komplizierter Natur. Nicht alle Träger der neuen bourgeoisen Ideologie entfalteten sich „vom Marxismus zum Idealismus“ mit derselben Fixigkeit.

In dem rasenden Wettrennen haben die einen das Ziel bereits erreicht, von dem aus sie stolz auf die Zurückgebliebenen sehen; die anderen sind nahezu am Ziele angelangt; noch andere hinken weit hinten nach. Es verlohnt sich somit, die einzelnen Teilnehmer dieses Wettbewerbes näher zu betrachten.

Da ist z. B. G. Bulgakow, der „frühere Marxist“ und Professor der politischen Oekonomie. Ihm fehlt bloß noch der Priesterrock – und der typische „gelahrte Priester“ wäre da! Daneben ein anderer „früherer Marxist“, Herr Berdjajew, der ebenfalls christlich Gläubige, der mit großer Vorliebe (wer hat nicht sein Steckenpferd!) über die „irdische und über die himmlische Aphrodita“ räsoniert. Etwas abseits steht der unvergleichliche Peter Struve, diese schwere Artillerie der kadettisch-oktobristischen Gelehrsamkeit. All diese ehrwürdigen Männer haben ein für allemal mit ihrer Vergangenheit gebrochen, die sie nun zu den „Jugendsünden“ zählen; sie schreiten ohne Kompromisse vorwärts, – diese Ritter des russischen Kapitalismus. Und nun weit dahinter, doch mit der offensichtlichen Absicht, seine Kollegen einzuholen, trabt Herr Professor Tugan-Baranowsky, der frühere Marxist und jetzige Ratgeber der Industriellen, nach. Später als die anderen fing er an über das Christentum zu murmeln. Noch kokettiert er mit dem Marxismus, wofür manche naive Leute ihn zu den fast „Roten“ zählen. Mit einem Worte, er ist ein „Versöhnungsapostel“. Er kann sich nicht entschließen, ganz und gar in das Lager der Feinde des Proletariats und seiner Theorie überzutreten; er zieht es nur vor, wie er sagt, „den Marxismus von den unwissenschaftlichen Elementen“ zu befreien. Und gerade dadurch täuscht er am meisten, darin ist die schädlichste Seite seiner theoretischen Tätigkeit. Er will nicht einfach die Arbeitswerttheorie „verneinen“, er sucht sie mit der Theorie Böhm-Bawerks, dieses klassischen Vertreters der bourgeoisen Gelüste, zu vereinigen. Der Leser wird nun sehen, welches die Ergebnisse dieser Bemühungen von Tugan-Baranowsky auf dem Gebiete des Hauptproblems der politischen Oekonomie – dem der Werttheorie – sind.
 

1. Die „Formel“ Tugan-Baranowskys

Herr Tugan-Baranowsky beginnt mit einem Lobgesang auf Böhm-Bawerk.

„Das große Verdienst der neuen Theorie – meint er – besteht darin, daß sie uns verspricht, den Streit über den Wert für immer zum Abschluß zu bringen, denn ausgehend von einem einzigen einheitlichen Grundprinzip, gibt sie eine vollständige (!) und erschöpfende (!!) Erklärung für die sämtlichen Erscheinungen des Wertungsprozesses.“ [1]

Und an anderer Stelle:

„Die Grenznutzentheorie wird für immer die grundlegende Lehre vom Werte bleiben; in ihren Teilen kann sie in der Zukunft verändert und vervollständigt werden, doch in ihren Grundideen bildet sie eine ewige Errungenschaft der ökonomischen Wissenschaft. [2]

„Ewige Errungenschaft der ökonomischen Wissenschaft“. Das klingt stolz. Freilich, in Wirklichkeit sieht diese „Errungenschaft“ ziemlich kläglich aus; doch wir wollen zunächst uns der Einwände gegen Tugan enthalten und zu seiner „einigenden Plattform“ übergehen.

Nach der Lehre der Anhänger der österreichischen Schule wird der Wert eines Gutes durch dessen Grenznutzen bestimmt. Dieser ist wiederum von der Gütermenge derselben Gattung abhängig. Je größer die Menge, desto „gesättigter“ ist die Nachfrage, desto geringere Dringlichkeit besitzt das Bedürfnis und desto mehr sinkt der Grenznutzen des betreffenden Gutes. Also, die österreichische Schule schließt ihre Analyse ab, indem sie eine bestimmte Masse, eine bestimmte Menge der zu wertschätzenden Güter als gegeben voraussetzt. Tugan-Baranowsky stellt durchaus folgerichtig die weitere Frage: wodurch wird nun diese Gütermenge selbst bestimmt? Nach der Ansicht von Tugan-Baranowsky hängt die Gütermenge vom „Wirtschaftplan“ ab, d. i. von der Verteilung der menschlichen Arbeitskraft auf die verschiedenen Produktionszweige. In der Aufstellung des „Wirtschaftsplanes“ spielt aber der Arbeitswert die entscheidende Rolle.

„Der Grenznutzen ist der Nutzen der letzten Einheiten einer jeden Gütergattung – sagt Tugan –, er verändert sich im Zusammenhang mit dem Umfang der Produktion. Durch Erweiterung oder Verminderung der Produktion können wir entsprechend den Grenznutzen erweitern oder vermindern. Umgekehrt ist der Arbeitswert einer Gütereinheit etwas objektiv gegebenes, von unserem Willen unabhängiges. Daraus folgt, daß bei der Aufstellung des Wirtschaftsplanes der Arbeitswert das bestimmende, der Grenznutzen dagegen das zu bestimmende Moment ist. Mathematisch gesprochen wird es bedeuten, daß der Grenznutzen die Funktion des Arbeitswertes sein muß.“ [3]

Welches ist nun das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Grenznutzen der Güter und deren Arbeitswert? Tugan-Baranowsky stellt folgende Ueberlegung an. Angenommen, wir haben zwei Produktionszweige A und B. Ein rationeller Wirtschaftsplan würde erfordern, daß die Arbeitsteilung auf diese beiden Produktionszweige so entfällt, daß der sich im Arbeitsprozeß während der letzten Zeiteinheit ergebende Nutzen in beiden Fällen gleich ist. [4] Ohne ein derartiges Gleichgewicht ist ein rationeller Plan, d.  i. die Erreichung des höchsten Nutzens, undenkbar, denn angenommen, daß die letzte Stunde in der Produktion A einen Nutzen von 10 Einheiten abwirft, in der Produktion B aber von nur 5 Einheiten, so ist es klar, daß es vorteilhafter ist, von der Produktion des Gutes B völlig abzusehen und die dazu erforderliche Zeit auf die Produktion des Gutes A zu verwenden. Ist jedoch der Arbeitswert der Güter verschieden, der in der letzten Zeiteinheit erzielte Nutzen aber gleich, so folgt daraus, daß der „Nutzen der letzten Einheiten jeder Gattung von frei reproduzierbaren Gütern – deren Grenznutzen – in umgekehrter Proportion zu deren relativer, während einer Zeiteinheit produzierbarer Menge dieser Güter steht; mit anderen Worten: er muß in direkter Proportion zu dem Arbeitswert derselben Güterstehen“. [5]

Soweit Tugan-Baranowsky über das Verhältnis zwischen Grenznutzen und absoluten Arbeitswert der Ware. Hier gibt es keinen Widerspruch, hier herrscht lauter Harmonie:

„Trotz der herrschenden Meinung – sagt Tugan-Baranowsky –, nach der die beiden Theorien sich gegenseitig ausschließen sollen, herrscht zwischen ihnen volle Harmonie. Nur daß die beiden verschiedene Seiten desselben Prozesses der wirtschaftlichen Wertung untersuchen. Die Grenznutzentheorie erklärt die subjektiven, die Arbeitswerttheorie die objektiven Faktoren der wirtschaftlichen Schätzung.“ [6]

Und so könne gar keine Rede davon sein, daß die beiden Theorien sich wesensfremd sind, und die Anhänger der Grenznutzentheorie könnten den Anhängern der Arbeitswerttheorie die Hand reichen. Dennoch glauben wir zeigen zu können, daß die Annahme von derartigen gutnachbarlichen Beziehungen auf einer sehr naiven Auffassung der beiden Theorien beruht. Doch ehe wir zur Aufdeckung des Grundfehlers des Herrn Tugan-Baranowsky schreiten, wollen wir einige kritische Bemerkungen darüber anstellen, wie sich die Arbeitswerttheorie im Lichte der Auffassung unseres Friedensapostels stellt. Dabei kommen einige interessante Besonderheiten seines Denkens zu Tage, die ein Licht auf seine versöhnende Position werfen.
 

2. Die „Logik“ des Herrn Tugan-Baranowsky

Aus obiger Darstellung würde sich für jeden vernünftigen Menschen folgender Schluß ergeben [7]: Da der Wert (der vom [ ]Grenznutzen eines Gutes bestimmte subjektive Wert) dem Arbeitswert proportional ist, da dieser Wert ferner die Grundlage für den Preis bildet, so resultiert daraus, daß gerade der Arbeitswert die Grundlage für den Preis bildet. Und in der Tat, sind Arbeitswert und Grenznutzen mit dem festen und bestimmten Band der direkten Proportionalität verknüpft, so ist es klar, daß sich diese Größen bei der Analyse gegenseitig ersetzen müssen. Wollen wir, gleich Tugan-Baranowsky, annehmen, daß „das bestimmende Moment der Arbeitswert, das zu bestimmende der Grenznutzen ist“ [8], so ist obiger Standpunkt für uns geradezu zwingend. Es würde sich dabei folgende Reihe ergeben: Preis, Grenznutzen, Arbeitswert. Die Arbeitskosten werden hier mit dem subjektiven Wert und folglich auch mit dem Preis verbunden. Dieser Umstand veranlaßt Tugan-Baranowsky sogar zu erklären, daß „von einem bestimmten Standpunkt aus (ist) ... die Arbeitswerttheorie eine wirtschaftliche Theorie des Wertes par excellence, während die Grenznutzentheorie eine mehr allgemein psychologische und keine speziell wirtschaftliche Werttheorie ist“. [9]

Also, der Arbeitswert bestimmt den Grenznutzen, der seinerseits den Preis bestimmt; mit anderen Worten, der Arbeitswert ist die letzte Grundlage für den Preis. Schön. Sechs Seiten weiter, und wir stoßen auf folgende „Kritik“ an Marx:

„Statt einer Kritik der Arbeitskosten gibt Marx eine Theorie des absoluten Arbeitswertes ...“

„In seiner bekannten Kritik des 3. Bandes des Kapital versucht Sombart [10], die Arbeitswerttheorie von Marx zu verteidigen, indem er sie als eine Theorie der Arbeitskosten zu deuten versucht. Unter Arbeitswert versteht er ‚den Grad der gesellschaftlichen Produktionskraft der Arbeit‘. Wenn dem aber so ist, wozu ist es nötig, den Arbeitsaufwand als ‚Wertsquo; zu bezeichnen und damit die Vorstellung zu erwecken, als ob der Arbeitsaufwand die Grundlage des Preises, der Tauschbeziehungen unter den Gütern sei (was doch offensichtlich nicht der Fall ist), wogegen es doch richtig wäre, das selbständige Existenzrecht der beiden verschiedenen Kategorien – des Wertes und der Kosten – anzuerkennen.“ [11]

Herr T.-Baranowsky fragt, ob es richtig sei, den Arbeitswert im Sinne der gesellschaftlichen Arbeitskosten zu deuten. [12] Es ist sehr richtig. Doch unrichtig ist alles, was bei Tugan weiter folgt. Er ist so sehr von seiner eigenen Kritik hingerissen, daß er gar nicht merkt, daß er nicht nur Marx, sondern sich selbst kritisiert. Oben sahen wir, daß aus den Sätzen von Tugan folgt, der Arbeitswert sei die Grundlage des Preises. Jetzt zeigt sich auf einmal, daß dies „offensichtlich nicht der Fall“ sein kann. Was soll nun gelten? Das vorher oder das nachher Gesagte? Jedenfalls ist es eine ungewöhnliche Klarheit des Denkens, was Tugan-Baranowsky hier zutage fördert, eine geradezu „eiserne Logik“. Vielleicht zweifelt aber der Leser an der Beständigkeit des letzten „Gedankens“ von Tugan? Da soll ihn darin noch eine Stelle aus Tugan bekräftigen:

„Der Arbeitswert bei Marx ist dem Wesen nach nichts anderes als die Arbeitskosten. Jedoch ist es nicht etwa ein terminologischer Fehler von Marx. Marx nannte nicht nur die gesellschaftlich notwendige Produktionsarbeit Warenwert schlechthin, sondern er war auch dauernd bestrebt, die Tauschverhältnisse der Ware zueinander auf Arbeit zurückzuführen ... Nur wenn man die Begriffe des Wertes und der Kosten ganz voneinander trennt, kann man eine logisch richtige und den Tatsachen angemessene Wert- und Kostentheorie aufbauen.“ [13]

Und nun noch eine Stelle:

„Der Fehler von Marx war ... der, daß er die selbständige Bedeutung dieser Kategorie nicht verstanden hat (d. h. der Kostenkategorie. N. B.) und sie mit der Preistheorie zu verknüpfen suchte; deshalb nannte er auch die Arbeitskosten nicht Kosten, sondern Wert.“ [14]

Kein Zweifel. Tugan-Baranowsky weiß nicht mehr, daß er selber die Arbeitskosten mit dem Wert und Preis verknüpft hatte, und nun bemüht er sich jetzt, dieses verbrecherische Verhältnis wieder zu lösen. Wahrlich, eine erstaunliche Logik!

Und nun eine Frage. Ist die Kostenkategorie so selbstständig, daß es nach Tugan eine Todsünde bedeutet, sie in das erwähnte Verhältnis zu bringen, wo bleibt denn dann die wirtschaftliche Bedeutung dieser Kategorien? Freilich versichert Herr Tugan, daß sie von „sehr großer“ Bedeutung sei (siehe S. 55); doch findet sich hier nichts, außer „ethischem Geschwätz“, das nicht ernst zu nehmen ist.

Nun können wir zum „Grundfehler“ Tugan-Baranowskys übergehen. Bei seiner ausgesprochenen Fähigkeit, die widerspruchsvollsten Sätze durcheinander zu bringen, wird es sich zeigen, daß auch seine „Formel“ nur noch ein stärkeres Durcheinander darstellt.
 

3. Der Grundfehler Tugan-Baranowskys

Wir haben bis dahin die Formel Tugan-Baranowskys über die Proportionalität des Arbeitswertes und des Grenznutzens ohne Kritik hingenommen. Nun soll die theoretische Nutzlosigkeit dieser berühmten Formel enthüllt werden. Dazu muß zunächst die Ansicht Tugan-Baranowskys über die politische Oekonomie, mithin auch über jegliche „Formel“, dargelegt werden, – eine Ansicht, die auch wir völlig teilen. Bei unserer Hochachtung für den Herrn Professor wollen wir aber ihn selber diese, wie gesagt, durchaus richtige Ansicht äußern lassen.

„Das, was die ökonomische Wissenschaft von den anderen sozialen Wissenschaften unterscheidet, nämlich die Aufstellung eines Systems von kausalen Gesetzen für die wirtschaftlichen Erscheinungen – wird eben durch die charakteristischen Besonderheiten ihres gegenwärtigen Gegenstandes der Untersuchung – der freien Tauschwirtschaft hervorgerufen ... Wir haben vollen Grund, die politische Oekonomie als eine originelle Wissenschaft über die kausalen Wechselbeziehungen der wirtschaftlichen Erscheinungen, die eng mit der modernen Volkswirtschaft verknüpft sind, anzuerkennen. Mit ihr ist diese Wissenschaft entstanden und gewachsen, mit ihr wird sie von der Szene verschwinden.“ [15]

Hier ist es klar gesagt, daß die politische Oekonomie zum Gegenstand ihrer Untersuchung die Tausch wirtschaft und im besonderen die kapitalistische Tauschwirtschaft hat. Von diesem Standpunkt aus wollen wir auch an die Analyse der Formel von Tugan-Baranowsky herantreten. Wie bereits bekannt, nimmt er eine Proportionalität zwischen dem Grenznutzen und dem Arbeitswert an. Fangen wir die Analyse bei dem letzten Teil der Formel, nämlich bei dem Arbeitswert an. Tugan-Baranowsky nimmt an, daß der Arbeitswert den Wirtschaftsplan bestimmt. Doch der „Wirtschaftsplan“, den er ins Auge faßt, stellt eine Kategorie der individualistischen Wirtschaft und dazu noch einer Naturalwirtschaft dar, die für sich selbst die verschiedensten „Güter“ produziert. Betrachten wir dagegen die moderne individualistische Wirtschaft, d. i. den kapitalistischen Betrieb, so weist sie überhaupt gar keinen „Wirtschaftsplan“ im Sinne von Tugan-Baranowsky auf, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die fabrikmäßige Produktion spezialisiert ist; hier gibt es keinen Platz für Verteilung der Zeit auf mehrere „Zweige“, denn jede Wirtschaft stellt nur ein Produkt her. Abgesehen davon, interessiert die Kategorie des Arbeitswertes das Subjekt der kapitalistischen Unternehmung nicht, denn es „arbeitet“ mit Hilfe von gedungenen Kräften und auf dem Markte gekauften Produktionsmitteln. Wenn demnach hier die Rede vom Arbeitswert überhaupt angebracht ist, so kann der letztere für die moderne Produktionsart (die eben den Gegenstand der politischen Oekonomie bildet) lediglich als eine soziale Kategorie gedacht sein, d. i. ein Begriff, der nicht auf einzelne Wirtschaften, sondern auf deren Gesamtheit, als deren soziale Einheit, angewandt wird. So der Marx’sche Begriff des Arbeitswertes. Ob seine Theorie richtig oder falsch ist, ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang ohne Belang ist. Wir glauben, daß sie richtig ist, Tugan-Baranowsky nimmt das Gegenteil an. Jedenfalls hat aber Marx klar gesehen, daß die Kategorie des Arbeitswertes, als Kategorie einer individuellen Wirtschaft, ein Nonsens ist, und daß sie erst dann Sinn erhält, wenn man darunter ihren gesellschaftlichen Charakter versteht.

Der zweite Teil der Formel betrifft den Grenznutzen. Nach der Auffassung sämtlicher Anhänger der Grenznutzentheorie hat der Grenznutzen die Bedeutung eines Gutes, das dem Wohle des „wirtschaftenden Subjektes“ dient; dies ist eine gewisse Wertung, die eine bewußte Berechnung voraussetzt. Es ist klar, daß die Grenznutzenkategorie nur einen Sinn hat, wenn man eine individuelle Wirtschaft ins Auge faßt; dagegen kommt sie gar nicht in Betracht (auch vom Standpunkte ihrer Vertreter), sobald es sich um die gesamte Gesellschaftswirtschaft handelt. Letztere „schätzt“ keinesfalls ab, wie es ein einzelner Unternehmer tun kann, denn diese Wirtschaft bedeutet ein sich elementar entfaltendes System mit einer besonderen charakteristischen Gesetzmäßigkeit. Wenn also der Grenznutzen irgendeinen Sinn haben sollte, so doch nur den einer Kategorie der individuellen Wirtschaft.

Wir wissen bereits, daß Tugan-Baranowsky eine Proportionalität zwischen dem Grenznutzen und Arbeitswert eines Gutes statuiert. Der Arbeitswert läßt sich aber in doppelter Weise auffassen: als eine gesellschaftliche Kategorie (eine derartige Auffassung ist die einzig richtige, wenn man eine kapitalistische Wirtschaft betrachtet) und als eine individualistische Kategorie. Es ist klar, daß der Arbeitswert im ersten Sinne sich nicht in ein direktes Verhältnis zum Grenznutzen bringen läßt: es sind zwei Größen, die prinzipiell nichts Gemeinsames haben können, da sie in ganz verschiedener Ebene liegen. Zu behaupten, daß eine Größe, die überhaupt nur auf dem Gebiete der individualistischen Wirtschaft Platz findet, einer anderen, die nur auf dem Gebiete der Gesellschaftswirtschaft vorkommt, proportional ist, dies ist, als wenn man „Telegraphenstangen auf Pocken impfen wollte“.

Und so sehen wir, daß eine richtige Auffassung der Arbeitswerttheorie gerade zu dem Schluß führt, daß zwischen ihr und der Grenznutzentheorie ein voller Gegensatz besteht. Es bleibt noch die Verbindung des sinnwidrigen Begriffs des Arbeitswertes, als der Kategorie einer individualistischen Wirtschaft, mit dem Grenznutzenbegriff. Dies tut auch Tugan-Baranowsky. Dadurch wird freilich seine Theorie nicht besser: sie fällt in sich sofort zusammen, sobald wir versuchen, sie mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu vergleichen. Es ergibt sich dabei ungefähr dieselbe Geschichte, wie bei den Vertretern der österreichischen Schule. Die Sache geht so ziemlich glatt, so lange man sich im Interessenbereich des wirtschaftenden Robinson bewegt und – bewußt oder unbewußt – abseits der kapitalistischen Beziehungen bleibt. Sobald wir aber an Beziehungen herantreten, die die politische Oekonomie zu erklären berufen ist (was auch die Ansicht von Tugan ist), so wird die Theorie zu Schall und Rauch.

Ehe wir schließen, noch eine Bemerkung. Die ganze Theorie Tugan-Baranowskvs bezieht sich auf Wirtschaften, die Ware produzieren. Dies unterscheidet ihn vorteilhaft von den reinen Grenznützlern, die zu vergessen scheinen, daß die Ware nicht vom Himmel fällt, sondern produziert werden muß. Sind es doch gerade produzierende Wirtschaften, für die Tugan-Baranowsky seine „Proportionalität“ wissen will. Darüber noch eine Stelle aus dem zweiten Teil seines Buches:

„Wir müssen – sagt er – uns an die realen wirtschaftlichen Beziehungen halten, unter denen der Preis in der modernen kapitalistischen Wirtschaft zustande kommt. Wir dürfen nicht annehmen, wie dies beispielsweise Böhm-Bawerk tut, daß der Verkauf er einer Ware, sie für sich selbst benötige und sogar bereit sei, bei einem zu niedrigen Preise, sie für sich selbst zu behalten.“ [16]

Dies stimmt. Darin sehen wir einen weiteren Schritt gegenüber den Theoretikern des Grenznutzens reinen Wassers. Nur ... wie wird sich dann die eigene Theorie von Herrn Tugan-Baranowsky bewähren, wenn seine produzierenden Wirtschaften die Ware nicht nach deren Nutzen (d. h. nach dem Grenznutzen) schätzen würden? Damit ja die besagte Proportionalität Platz greifen könnte, ist es doch notwendig, daß die entsprechenden Größen vorhanden sind. Oben sahen wir, daß die Sache mit dem Arbeitswert nicht klappt. Nun erklärt uns Tugan-Baranowsky selbst, daß eine Wertung nach dem Grenznutzen unter den Bedingungen des Kapitalismus (oder selbst einer einfachen Warenwirtschaft) für die Verkäufer vollständig sinnlos ist.

Wir untersuchten die Theorie von Tugan-Baranowsky, ohne auf einen ihrer Bestandteile – die Grenznutzentheorie – einzugehen. Indessen ist auch dieser Teil von unserem Theoretiker keinesfalls gerechtfertigt worden. Dies ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache. Auf der Suche nach neuen Mitteln sind die russischen Bourgeois sehr „kritisch“ nur gegenüber Marx gestimmt; dagegen sind sie in bezug auf die kapitalistische wissenschaftliche Ideologie des Westens fast von einer religiösen Andacht. Dieser Umstand zeigt von neuem die wahre Natur der „neuen Ideen in der politischen Oekonomie“, die die Herren Tugan-Baranowsky, Bulgakow, Struve e tutti quanti so eifrig predigen.

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Fußnoten

* Dieser Artikel war s. Z. für die marxistische Zeitschrift Prosweschtjenie (Aufklärung) bestimmt. Er enthält die Analyse der eklektischen Theorie des Koalitionsprinzips in der Werttheorie. Als solche bildet sie den Anhang zu unserer Arbeit. Selbstverständlich sind einige Stellen des Aufsatzes, die freilich in keinem direkten Verhältnis zur logischen Seite der Theorie Tugan-Baranowskys stehen, veraltet. Die Ereignisse haben sie überholt. Dennoch belassen wir alles in der ursprünglichen Form, um so mehr als manche Voraussagungen sich wörtlich erfüllt haben; so ist z. B. Bulgakow ins Kloster gegangen, Tugan gelang es, Minister der konterrevolutionären Regierung zu sein. Interessant ist es auch, daß sogar P P. Maslow sich nun à la Tugan übt.

1. Tugan-Baranowsky: Grundzüge der politischen Oekonomie, S. 40, Aufl. 1911, russisch.

2. Ib., S. 55.

3. L. c., S. 47.

4. Genauer gesprochen, er muß an der Grenze gleich sein.

5. L. c., S. 47.

6. Ib., S. 49.

7. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß wir zunächst die Terminologie Tugans ohne Kritik lassen, und die Begriffe „Wert“ und „Arbeitskosten“ im Sinne Tugans an wenden.

8. Ib., S. 47.

9. Ib., S. 50. (Sperrdruck vom Verfasser.)

10. Tugan-Baranowsky meint hier den Artikel von Sombart: Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx, siehe Brauns Archiv, Bd. VII.

11. Grundzüge usw., S. 58.

12. Wir sprechen hier von den „gesellschaftlichen“ Kosten. Wie wir weiter unten sehen werden, ist die Bezeichnung sehr wichtig.

13. Ib., S. 69. (Sperrdruck vom Verfasser.)

14. Ib., S. 70. Erwähnen wir noch einen Punkt, wenn er auch in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage steht. Herr T.-B. begreift (S. 68 u. 69) die Bedeutung des Tauschwertes bei Marx nicht. Gern erklären wir es ihm. Im Verfolg der Analyse muß Marx mitunter annehmen, daß die Ware nach den Gestehungskosten (Wert) verkauft wird. In diesem Falle entsprechen die Kosten dem Tauschwert. Dies bedeutet, daß er nicht vom absoluten, sondern von einer relativen Größe spricht.

15. Grundzüge usw., S. 17.

16. Böhm-Bawerk: Grundzüge usw., S. 212 u. 213.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2020