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1. Kapitalist und Arbeiter als die beiden Gegenpole der gesellschaftlichen Verhältnisse. 2. Der Klassengegensatz und die relative Interessensolidarität. 3. Dauernde lnteressen und Augenblicksinteressen 4. Die sogenannten patriarchalischen Verhältnisse zwischen Arbeit und Kapital. 5. Die Arbeiterklasse und der bürgerliche Staat. 6. Die Arbeiterklasse und die imperialistische Politik des bürgerlichen Staates (die relative Form der „Solidarität“). 7. Die Arbeiterklasse und der Krieg 8. Der Zusammenbruch der „Zusammenarbeit“ mit dem bürgerlichen Staat und die Wiedergeburt des revolutionären Sozialismus.
Der Krieg hat in der ersten Zeit nicht zu einer Krise des Kapitalismus (deren Keime nur von den scharfsinnigsten Köpfen sowohl im Lager der Bourgeoisie als auch des Proletariats erblickt wurden), sondern zu einem Zusammenbruch der sozialistischen Internationale geführt. Diese Erscheinung, die viele zu erklären versuchten, indem sie von einer Analyse ausschließlich der inneren Verhältnisse der einzelnen Länder ausgingen, kann aber mit dieser Methode keineswegs begriffen werden. Denn der Zusammenbruch der proletarischen Bewegung erfolgt auf der Basis der verschiedenartigen Lage der „staatskapitalistischen Trusts“ im Rahmen der Weltwirtschaft. Ebenso wie es unmöglich ist, den modernen Kapitalismus und seine imperialistische Politik ohne eine Analyse des Weltkapitalismus zu begreifen, ebenso ist es notwendig, bei der Untersuchung der grundlegenden Tendenzen der proletarischen Bewegung von dieser Analyse auszugehen.
Kapital setzt Arbeit voraus. Arbeit setzt Kapital voraus. Die kapitalistische Produktionsweise ist ein bestimmtes Verhältnis der Menschen untereinander, der gesellschaftlichen Klassen untereinander, von denen die eine die Existenz der anderen zur Voraussetzung hat und umgekehrt. Von diesem Standpunkt sind sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter Glieder, Bestandteile, Gegenpole derselben kapitalistischen Gesellschaft. Und insofern eine kapitalistische Gesellschaft besteht, insofern besteht auch eine gegenseitige Abhängigkeit dieser gegensätzlichen Klassen, eine Abhängigkeit, die sich in der Form einer relativen Solidarität der Interessen ausdrückt, die einander widersprechen. Diese „Interessensolidarität“ ist eine Solidarität von Augenblicksinteressen und keine dauernde Solidarität wie die, die die Angehörigen der gleichen Klassen vereint. Die bürgerliche politische Ökonomie und nach ihrem Beispiel ihre „sozialistischen“ Anhänger bezeichnen aber gerade das Vorübergehende, das Augenblickliche, das vom Standpunkt des Klassenkampfes in seinem gesellschaftlichen Umfang Zufällige als das Wesentliche; vor lauter Bäumen sehen sie den Wald nicht und müssen unvermeidlich zu einfachen Bediensteten des Finanzkapitals werden.
Wir wollen das durch ein Beispiel erklären. Die Tatsache ist allgemein bekannt, daß zu Beginn der kapitalistischen Epoche, als die Arbeiterklasse erst aus der Mitte des Kleinbürgertums zu entstehen begann und sich von ihm loslöste, als sogenannte „patriarchalische Verhältnisse“ zwischen Unternehmer und Arbeiter vorherrschten, der letztere seine Interessen in einem bedeutendem Maße mit den Interessen seines Ausbeuters identifizierte.
Diese Identifizierung von Interessen, die in ihrem Wesen ganz gegensätzlich waren, war natürlich nicht zufällig. Sie hatte eine sehr reale Grundlage. Der Arbeiter dachte zu jener Zeit etwa folgendermaßen: „Je bessere Geschäfte unsere Werkstatt macht, desto besser für mich“, und diese Ansicht stützte sich darauf, daß es möglich war, die Löhne zu erhöhen, wenn sich die Summe der durch den betreffenden Betrieb realisierten Werte vergrößerte.
Dieselbe Psychologie treffen wir auch in anderen Variationen an. Was bedeutet z.B. die sogenannte „zünftlerische Beschränktheit“ der englischen Trade Unions? Hier sehen wir im Grunde genommen denselben Gedanken: vor allem muß unsere Produktion. muß unser Produktionszweig, zu dem sowohl Arbeiter als auch Unternehmer gehören, blühen. Eine Einmischung, fremder Elemente ist unzulässig.
In neuester Zeit sehen wir einen ähnlichen „Lokalpatriotismus“ in besonders qualifizierten Betrieben. Als Beispiel können dafür die Fabriken des bekannten amerikanischen Pazifisten (und zugleich Heereslieferanten) Ford dienen. Dort werden die Arbeiter mit großer Sorgfalt ausgewählt. Es werden ihnen höhere Löhne bezahlt. Alle möglichen Prämien und Gewinnbeteiligungen werden eingeführt. Die unumgängliche Vorbedingung dafür aber ist, daß die Arbeiter sich an das Werk binden. Das Ergebnis ist, daß die betrogenen Arbeiter ihrem Herrn völlig ergeben sind.
In größerem Umfange sehen wir dieselbe Erscheinung, wenn wir den sogenannten Arbeiterprotektionismus ins Auge fassen, die Politik des Schutzes der „nationalen Industrie“. der „nationalen Arbeit“ usw. Ein bedeutender Teil der australischen und amerikanischen Arbeiter ist von folgender Ideologie durchdrungen. An unserer vaterländischen Industrie sind „wir“ (d.h. Kapitalisten und Arbeiter) in gleicher Weise interessiert, denn je höher die Profite der „unsrigen“ sein werden, desto höher wird auch der Arbeitslohn steigen.
Im Prozeß des Konkurrenzkampfes unter verschiedenen Unternehmen ist die Lage dieser Unternehmen keineswegs die gleiche. Stets gibt es mehr oder minder qualifizierte Betriebe, die eine besondere privilegierte Stellung einnehmen. Bei der Aufteilung des in der gesamten Gesellschaft produzierten Mehrwertes ist ihr Anteil unverhältnismäßig groß, den sie erhalten einerseits eine Differentialrente, andererseits (soweit es sich um die jüngste Zeit handelt) eine Kartellrente. Es entsteht somit die Basis für eine zeitweilige Verbundenheit der Interessen von Kapital und Arbeit in dem betreffenden Produktionszweig. Diese Verbundenheit drückt sich darin aus, daß die Arbeiter dem Kapital nicht aus Not, sondern auch mit Hingabe dienen,
Es ist ganz klar, daß eine ähnliche „Solidarität der Interessen“ der Kapitalisten und der Arbeiter zeitweilig ist, und (als Richtschnur) die Haltung des Proletariats nicht bestimmen kann. Wenn die Arbeiter sich für alle Ewigkeit an ihren Unternehmer binden wollten, könnten sie keinen einzigen Streik durchführen, die Unternehmer würden sie einzeln bestechen und einzeln niederschlagen.
Aber insofern das Proletariat noch nicht gelernt hat, spezielle und zeitweilige von allgemeinen und dauernden Interessen zu unterscheiden, ist es von einer solchen beschränkten Ideologie durchdrungen. Diese Ideologie wird erst im Laufe der Entwicklung des Klassenkampfes überwunden, der schließlich die lokale Borniertheit aufhebt, die Arbeiter zusammenschließt und sie der Kapitalistenklasse als Klasse entgegenstellt. So ist die Psychologie der patriarchalischen Periode überwunden worden, als das Band zwischen dem Unternehmer und den Arbeitern des Einzelbetriebs riß. So wurde auch die „zünftlerische Beschränktheit“ der Gewerkschaften der qualifizierten Arbeiter überwunden.
Zu Ende des 19. Jahrhunderts war die Verbindung zwischen Kapitalisten und Arbeitern in einem bedeutenden Maße zerstört; diese Klassen und ihre Organisationen standen sich in grundsätzlicher Feindschaft gegenüber, aber die Verbindung zwischen der Arbeiterklasse und der größten Organisation der Bourgeoisie, – dem imperialistischen Staat, war noch nicht zerstört.
Die Verbundenheit der Arbeiterklasse mit dieser Organisation kam in der Ideologie des Arbeiterpatriotismus (des „Sozialpatriotismus“) in der Idee des „Vaterlandes“, dem die Arbeiterklasse dienen müsse, zum Ausdruck.
Die materielle Grundlage dieser Erscheinung ist nach all dem, was gesagt wurde, klar, wenn wir die gesamte Sphäre der Weltwirtschaft ins Auge fassen.
Wir haben gesehen, daß der Konkurrenzkampf Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in einem bedeutenden Maße auf die auswärtige Konkurrenz, d.h. auf die Konkurrenz auf dem Weltmarkte übertragen wurde. Dadurch trat an die Stelle des Einzelbetriebs die staatliche Organisation des Kapitals, das „Vaterland“, das sich in einen staatskapitalistischen Trust verwandelt hatte. Es betrat den internationalen Kampfplatz in seinem ganzen schwerwiegenden Apparat.
Von diesem Standpunkt muß vor allem die Kolonialpolitik der imperialistischen Staaten untersucht werden.
Unter vielen gemäßigten Internationalisten herrscht die Ansicht vor, daß die Kolonialpolitik der Arbeiterklasse nichts außer Schaden bringe, und deshalb abgelehnt werden müsse. Daraus ergibt sich der ganze natürliche Wunsch nachzuweisen, daß Kolonien keine Einnahmen bringen, daß sie selbst vom Standpunkt der Bourgeoisie einen Defizitposten darstellen usw. solche Theorie vertritt z.B. Kautsky.
Leider hat diese Theorie den Mangel, daß sie einfach unrichtig ist. Die Kolonialpolitik bringt den Großmächten, d.h. ihren herrschenden Klassen, dem „staatskapitalistischen Trust“, kolossale Einkünfte. Das ist doch der Grund, weshalb die Bourgeoisie Kolonialpolitik treibt. Ist dem aber so, so ergibt sich daraus auch die Möglichkeit, den Arbeitslohn der Arbeiter auf Kosten der Ausbeutung der Eingeborenen der Kolonien und der unterworfenen Völker zu erhöhen.
Das war denn auch das Ergebnis der Kolonialpolitik der Großmächte. Nicht die Arbeiter des Kontinents und nicht die Arbeiter Englands trugen die Kosten dieser Politik, sondern die Kolonialvölker. Der blutige und schmutzige Charakter des Kapitalismus, alle seine Schrecken und alle seine Schande, der ganze Zynismus, die Habgier, die Bestialität der modernen Demokratie konzentrierten sich gerade in den Kolonien. Die europäischen Arbeiter dagegen gewannen dabei, – vom Standpunkt der Augenblicksinteressen, – da sie infolge der „industriellen Prosperität“ Zulagen zu den Arbeitslöhnen erhielten.
Die relative „Prosperität“ der europäischen und amerikanischen Industrie war ja dadurch bedingt, daß die Kolonialpolitik ein Sicherheitsventil schuf. So führte die Ausbeutung der „dritten Personen“ (der vorkapitalistischen Produzenten) zu einer Erhöhung des Arbeitslohnes der europäischen und amerikanischen Arbeiter.
Dabei muß der folgende äußerst wichtige Umstand beachtet werden: der Erfolg der „staatskapitalistischen Trusts“ im Kampfe um Kolonien, um Rohstoff- und Absatzmärkte, um Sphären der Kapitalanlage, um billige Arbeitskräfte war durchaus verschieden. Während England, Deutschland und Amerika sich auf dem Weltmarkt mit Volldampf vorwärts bewegten, erwiesen sich Rußland und Italien trotz aller Anstrengungen der Imperialisten, als sehr „schwächlich“.
Einige imperialistische Großmächte sind somit zu Kandidaten für das Weltmonopol geworden. Im Vergleich zu den übrigen stehen sie „außerhalb jeder Konkurrenz“.
Vom ökonomischen Standpunkt liegen die Dinge folgendermaßen: Im Prozeß des Kampfes auf dem Weltmarkt erfolgt die Aufteilung des Weltmehrwertes. Ebenso wie im Rahmen der „nationalen Wirtschaft“, so erhalten auch im Rahmen der Weltwirtschaft die stärksten Konkurrenten (hier müssen folgende komplizierte Faktoren eingerechnet werden: die Struktur der Produktion, die Stärke des staatlichen militärischen Apparates, günstige Lage infolge des Vorhandenseins irgendwelcher natürlicher Monopole) einen Extraprofit, einen eigentümlichen Differenzialprofit (infolge der höheren Struktur der Produktion) und eine eigenartige Kartellrente (infolge des Drucks des militaristischen Apparats, der das Monopol sichert).
Der Extraprofit, den der imperialistische Staat erhält, führt zu einer Erhöhung des Arbeitslohns bestimmter Schichten der Arbeiterklasse und vor allem der qualifizierten Arbeiter.
Diese Erscheinung, dauert schon seit längerer Zeit. Sie wurde wiederholt durch Engels festgestellt, der auf die Monopolstellung Englands auf dem Weltmarkt und den sich daraus ergebenden Konservatismus des englischen Proletariats hinwies.
Auf der Grundlage der relativen Interessiertheit des Proletariats an dem Kolonialraub entstand und befestigte sich seine Verbundenheit mit der wirtschaftlichen Organisation des bürgerlich-imperialistischen Staates. In der sozialistischen Literatur fand diese Psychologie in dem „staatsmännischen“ Standpunkt der sozialdemokratischen Opportunisten ihren Ausdruck. Diese „staatsmännische Weisheit“, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betont wurde, war ein vollkommenes Aufgeben des Standpunkts des revolutionären Marxismus.
Marx und Engels betrachteten den Staat als eine Organisation der herrschenden Klasse, die die unterdrückte Klasse mit Blut und Eisen niederhält. Sie waren der Ansicht, daß es in der Gesellschaft der Zukunft aus dem einfachen Grunde keinen Staat geben würde, weil es dort auch keine Klassen gibt. Freilich betonten sie. für die Übergangsepoche der proletarischen Diktatur, in der das Proletariat die zeitweilig herrschende Klasse ist (mit vollem Recht) die Notwendigkeit eines eigenartigen Apparats der Staatsmacht der Arbeiterklasse, eines Apparats zur Niederhaltung der gestürzten Klassen. Aber für den Unterdrückungsapparat des bürgerlichen Staats kannten sie nur glühenden Haß, und von diesem Standpunkt übten sie eine unerbittliche Kritik an den Lassalleanern. Dieser Standpunkt kommt zweifellos auch in der bekannten These des Kommunistischen Manifests, daß die Proletarier kein Vaterland haben, zum Ausdruck.
Die sozialistischen Epigonen des Marxismus haben aber den revolutionären Standpunkt von Marx und Engels preisgegeben. An seine Stelle tritt die Theorie des „wahren Patriotismus“ und der „wahren Staatsgesinnung“, die übrigens dem gewöhnlichsten Patriotismus und der gewöhnlichsten Staatsgesinnung der Bourgeoisie glichen wie ein Ei dem andern. Diese Ideologie erwuchs organisch aus der Beteiligung des Proletariats an der Großmachtpolitik der staatskapitalistischen Trusts.
Kein Wunder, daß die Arbeiterklasse der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, an den Triumphwagen der bürgerlichen Staatsmacht gekettet, als deren Bundesgenosse auftrat, sobald der große Krieg ausgebrochen war. Diese Arbeiterklasse war dazu durch ihre ganze vorhergehende Entwicklung vorbereitet worden. Die Gebundenheit des Proletariats an den Staatsverband des Finanzkapitals hatte dazu geführt.
Aber der Krieg, der nur mit stillschweigender Zustimmung des Proletariats und wegen seiner unzureichenden Empörung geführt werden konnte, hat dem Proletariat gezeigt, daß seine Interessiertheit an der imperialistischen Politik ein Nichts ist im Vergleich zu den Wunden, die ihm der Krieg schlägt.
So bricht die Krise des Imperialismus und die Wiedergeburt des proletarischen Sozialismus an. Der Imperialismus hat jetzt der Arbeiterklasse Europas sein wirkliches Gesicht zugewandt. Wenn seine Barbarei, seine Vernichtung, seine Raubpolitik vorher fast ausschließlich wilde Völkerschaften trafen, so wenden sie sich jetzt mit der ganzen schrecklichen Gewalt eines entfesselten Elements gegen die Werktätigen Europas. Die paar Groschen, die die europäischen Arbeiter dank der Kolonialpolitik des Imperialismus erhielten – was sind sie im Vergleich zu den Millionen abgeschlachteter Arbeiter, zu den Milliarden, die der Krieg verschlungen hat, zu dem ungeheuerlichen Druck des schamlos gewordenen Imperialismus, zu der vandalischen Vernichtung der Produktivkräfte, zu Hungersnot und Teuerung?
Der Krieg sprengt die letzte Fessel, die die Arbeiter an die Unternehmer knüpfte, die sklavische Ergebenheit gegenüber dem imperialistischen Staat. Die letzte Form der Beschränktheit der Weltanschauung des Proletariats wird überwunden: seine nationalstaatliche Beschränktheit, sein Patriotismus. Die Augenblicksinteressen, die zeitweiligen Vorteile, die dem imperialistischen Raub und der Verbundenheit mit dem imperialistischen Staat entsprangen, treten zurück hinter die dauernden und allgemeinen Interessen der gesamten Klasse, hinter die Idee der sozialen Revolution des internationalen Proletariats, das die Diktatur des Finanzkapitals mit der Waffe in der Hand stürzt, seinen Staatsapparat zertrümmert und eine neue Staatsmacht, die der Arbeiter gegen die Bourgeoisie errichtet. Und an Stelle der Idee der Verteidigung oder der Erweiterung der Grenzen des bürgerlichen Staates, die die Entwicklung der Produktivkräfte der Weltwirtschaft an Händen und Füßen fesseln, tritt die Losung der Vernichtung der Staatsgrenzen und des Zusammenschlusses der Nationen zu einer sozialistischen Gemeinschaft. So wird sich das Proletariat nach langem qualvollen Suchen seiner wirklichen Interessen bewußt, die es über die Revolution zum Sozialismus führen.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003