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1. Die vulgäre Auffassung des Imperialismus. 2. Die Rolle der Politik im Gesellschaftsleben. 3. Methodologie der Klassifizierungen in der Gesellschaftswissenschaft. 4. Die Epoche des Finanzkapitals als historische Kategorie. 5. Der Imperialismus als historische Kategorie.
Wir haben in dem vorhergehenden Kapitel verrsucht, nachzuweisen, daß die imperialistische Politik erst auf einer bestimmten Stufe der geschichtlichen Entwicklung in Erscheinung tritt. Eine Reihe von Widersprüchen des Kapitalismus wird hier zu einem Knoten verknüpft, der zeitweise durch das Schwert des Krieges zerhauen wird, um im nächsten Augenblick noch fester geknüpt zu werden. Die in diesem Stadium der Entwicklung unvermeidlich entstehende Politik der herrschenden Klassen und ihre Ideologie muß deshalb als eine spezifische Erscheinung gekennzeichnet werden. [1]
In der Literatur, die jetzt den Markt überschwemmt, herrschen gegenwärtig zwei sogenannte „Theorien“ des Imperialismus vor. Die eine sieht in der modernen Eroberungspolitik einen Kampf der Rassen, z.B. des „Slawentums“ und des „Teutonentums“, wobei je nach der Zugehörigkeit des Verfassers zu der einen oder anderen Gruppe alle Laster und Tugenden unter diese „Rassen“ verteilt werden. So alt und vulgär diese „Theorie“ auch ist, so hält sie sich bis heute mit der Stärke eines Vorurteils, denn sie findet in dem zunehmenden „nationalen Selbstbewußtsein“ der herrschenden Klassen eine sehr günstige Grundlage; diese sind direkt oder unmittelbar daran interessiert, die Reste aller psychologischer Einflüsse im Interesse der staatlichen Organisation des Finanzkapitals auszunützen.
Ein einfacher Hinweis auf die Tatsachen entzieht dieser Theorie jeden Boden und läßt von der ganzen Konstruktion keinen Stein auf dem anderen. Die Angelsachsen, die von der gleichen Abstammung sind wie die Deutschen, sind ihre erbittertsten Feinde; die Bulgaren und Serben, die fast dieselbe Sprache sprechen und echte Slawen sind, liegen einander in den Schützengräben gegenüber. Mehr noch. Unter den Polen finden wir begeisterte Anhänger sowohl der österreichischen als auch der russischen Orientierung. Dasselbe ist auch mit den Ukrainern der Fall, von denen ein Teil russenfreundlich, der andere austrophil gesinnt ist. Andererseits umfaßt jede der miteinander kämpfenden Koalitionen die verschiedensten Rassen, Nationalitäten und Stämme. Was haben z.B. Engländer, Italiener, Russen, Spanier und die dunkelhäutigen Wilden aus den französischen Kolonien, die die „glorreiche Republik“ zur Schlachtbank führt, so wie es die alten Römer mit ihren Kolonialsklaven getan haben, was haben diese Völker vom Rassenstandpunkt miteinander Gemeinsames? Was haben Deutsche und Tschechen, Ukrainer und Ungarn, Bulgaren und Türken Gemeinsames, die zusammen gegen die Entente kämpfen? Es ist klar, daß hier nicht die Rassen, sondern die staatlichen Organisationen bestimmter Gruppen der Bourgeoisie den Kampf führen. Es ist auch ganz offensichtlich, daß die eine oder andere Gruppierung der Mächte keineswegs durch die Gemeinschaft irgendwelcher Rassenziele bestimmt wird, sondern durch durch die Gemeinschaft der kapitalistischen Ziele in dem bestimmten Augenblick. Nicht umsonst stehen Serben und Bulgaren, die noch vor kurzem gemeinsam gegen die Türkei gegangen sind, jetzt in feindlichen Lagern; nicht umsonst hat England, das früher ein Feind Rußlands gewesen ist, dieses jetzt unter seinen Einfluß gebracht; nicht umsonst geht jetzt Japan Hand in Hand mit der russischen Bourgeoisie, obwohl das japanische Kapital erst vor zehn Jahren mit der Waffe in der Hand gegen das russische Kapital kämpfte. [2]
Vom rein wissenschaftlichen, unverfälschten Standpunkt ist die Unhaltbarkeit dieser Theorie augenfällig. Trotz der offenkundigen Verlogenheit dieser Theorie wird sie nichtsdestoweniger in der Presse und auf den Universitätskathedern aus dem „zureichenden Grunde“ eifrig vertreten, weil sie dem Herren Kapital nicht geringe Vorteile verspricht. [3]
Um gerecht zu sein, soll hier jedoch darauf hingewiesen werden, daß in den „gelehrten“ imperialistischen Kreisen mit dem zunehmenden Wachstum der staatlichen Konsolidierung der verschiedenen „Rassen“, die durch die gepanzerte Faust des militärischen Staates vereinigt sind, auch andere weniger vulgäre aber ebenso unhaltbare Versuche gemacht werden, eine territorial-psychologische Theorie aufzustellen. An Stelle der „Rasse“ erscheint hier ihr Surrogat in Gestalt der „mitteleuropäischen“, „amerikanischen“ und sonstigen „Menschheit“. [4] Diese Theorie ist von der Wahrheit ebensoweit entfernt, denn sie verleugnet das Hauptmerkmal der modernen Gesellschaft, ihre Klassenstruktur, und fälscht die Klasseninteressen der sozialen Oberschichten in sog. „gemeinsame“ Interessen der „Gesamtheit“ um.
Eine andere äußerst verbreitete „Theorie“ des Imperialismus definiert den Imperialismus als Eroberungspolitik überhaupt. Von diesem Standpunkt kann man mit gleichem Recht von einem Imperialismus Alexanders des Großen und der spanischen Konquistadoren, Karthagos und Iwans III., des allen Roms und des modernen Amerikas, Napoleons und Hindenburgs sprechen.
So einfach diese Theorie ist, so absolut falsch ist sie auch. Sie ist deshalb falsch, weil sie alles „erklärt“, d.h. rein nichts erklärt.
Jede Politik der herrschenden Klassen (sowohl die „reine“ als auch die militärische und die Wirtschaftspolitik) hat eine ganz bestimmte funktionelle Bedeutung. Sie entsteht auf dem Boden der betreffenden Produktionsweise und dient als Mittel der einfachen und erweiterten Reproduktion der gegebenen Produktionsverhältnisse. Die Politik der Feudalherren befestigt und erweitert die feudalen Produktionsverhältnisse. Die Politik des Handelskapitals vergrößert die Sphäre der Herrschaft des Handelskapitalismus. Die Politik des Finanzkapitalismus reproduziert die Produktionsbasis des Finanzkapitals auf erweiterter Stufenleiter.
Es ist ganz klar, daß dies sich auch auf den Krieg bezieht. Der Krieg ist ein Mittel der Reproduktion bestimmter Produktionsverhältnisse. Der Eroberungskrieg ist ein Mittel der erweiterten Reproduktion dieser Verhältnisse. Aber den Krieg einfach als Eroberungskrieg zu definieren, ist aus dem einfachen Grunde ganz ungenügend, weil damit die Hauptsache nicht gesagt wird, und zwar welche Produktionsverhältnisse es sind, die dieser Krieg befestigt oder erweitert, welche Basis die betreffende „Eroberungspolitik“ erweitert. [5]
Die bürgerliche Wissenschaft sieht das nicht und will das nicht sehen. Sie begreift nicht, daß die gesellschaftliche Wirtschaft, auf deren Grundlage diese „Politiken“ entstehen, auch die Grundlage für die Klassifizierung der verschiedenen „Politik“ sein muß. Mehr noch: diese Wissenschaft neigt dazu, die ungeheuren Unterschiede zu übersehen, die zwischen den verschiedenen Perioden der wirtschaftlichen Entwicklung bestehen; und gerade heute, da die ganze Eigentümlichkeit des historisch-ökonomischen Prozesses der Gegenwart so kraß in Erscheinung tritt, hat sich die am wenigsten historische österreichische und englisch-amerikanische Schule in der bürgerlichen Nationalökonomie eingenistet.[6] Die Publizisten und Gelehrten sind bestrebt, den heutigen Imperialismus in der Weise der Politik der Helden des Altertums mit ihrem „Imperium“ darzustellen.
Das ist die Methode der bürgerlichen Historiker und Nationalökonomen: ein Unterschied zwischen der Sklavenwirtschaft der „Antike“, in der Keime des Habdelskapitals und des Handwerks bestanden, und dem „modernen Kapitalismus“ zu verwischen. Der Zweck ist in diesem Falle klar. Man will die Unfruchtbarkeit der Bestrebungen der proletarischen Demokratie aufweisen und „nachweisen“, indem man sie mit dem Lumpenproletariat, den Arbeitern und Handwerkern der Antike auf eine Stufe stellt.
Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt sind alle diese Theorien in hohem Maße verlogen. Wenn man eine bestimmte Entwicklungsphase theoretisch begreifen will, so muß man sie in all ihren Besonderheiten, mit allen unterschiedlichen Merkmalen, mit allen ihren spezifischen, nur ihr eigentümlichen Eigenschaften erfassen. Wer ähnlich wie der „Oberst Torrens“ in dem Stab des Wilden den Ursprung des Kapitals sieht, oder wer wie die „österreichische Schule“ der Nationalökonomie das Kapital als Produktionsmittel definiert (was im Grunde genommen dasselbe ist), der wird niemals imstande sein, sich in den Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung zurechtfinden und sie in einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen. Ebenso wird derjenige Historiker und Nationalökonom nichts von der Entwicklung der modernen Weltwirtschaft begreifen, der die Struktur des modernen Kapitalismus, d.h. die modernen Produktionsverhältnisse mit den zahlreichen Typen von Produktionsverhältnissen, die zu Eroberungskriegen geführt haben, auf dieselbe Stufe stellt. Man muß das Besondere herausschälen, das unsere Zeit kennzeichnet und es analysieren. Das war die Methode von Marx, und auf diese Weise muß ein Marxist an die Analyse des Imperialismus herangehen. [7]
Jetzt verstehen wir, daß es unmöglich ist, sich auf die Analyse lediglich der Erscheinungsformen der einen oder anderen Politik zu beschränken: man kann sich nicht damit zufrieden geben, daß man sie als „Eroberungspolitik“, „Expansionspolitik“, „Gewaltpolitik“ charakterisiert. Notwendig ist eine Analyse der Basis, auf der sie entsteht und deren Erweiterung sie dient. Wir haben den Imperialismus als die Politik des Finanzkapitals definiert. Dadurch wird auch ihre funktionelle Bedeutung aufgedeckt. Sie ist der Träger der finanzkapitalistischen Struktur, sie unterwirft die Welt der Herrschaft des Finanzkapitals; sie setzt an die Stelle der alten vorkapitalistischen oder alten kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Produktionsverhältnisse des Finanzkapitalismus. Ebenso wie der Finanzkapitalismus (den man nicht mit dem einfachen Geldkapital verwechseln darf, denn für das Finanzkapital ist kennzeichnend, daß es gleichzeitig sowohl Bank- als auch Industriekapital ist) eine geschichtlich umgrenzte Epoche ist, die nur für die letzten Jahrzehnte charakteristisch ist, ebenso ist auch der Imperialismus als die Politik des Finanzkapitalismus eine spezifisch historische Kategorie.
Der Imperialismus ist Eroberungspolitik. Aber nicht jede Eroberungspolitik ist Imperialismus. Das Finanzkapital kann keine andere Politik betreiben. Wen wir deshalb vom Imperialismus als der Politik des Finanzkapitals sprechen, so ist ihr Eroberungscharakter vorausgesetzt; aber außerdem wird dabei auch gesagt, welche Produktionsverhältnisse diese Eroberungspolitik reproduziert. Mehr noch: diese Definition enthält auch eine ganze Reihe anderer geschichtlicher Merkmale und Kennzeichen. In der Tat, wenn wir vom Finanzkapital sprechen, so setzen wir hochentwickelte wirtschaftliche Organismen voraus und folglich auch eine bestimmte Ausdehnung und Intensität der internationalen Verbindungen, das Vorhandensein einer entwickelten Weltwirtschaft; wir setzen damit auch eine bestimmte Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte, der Organisationsformen des Wirtschaftslebens, bestimmte Wechselverhältnisse der Klassen voraus und folglich auch eine bestimmte Zukunft der wirtschaftlichen Verhältnisse usw. usw.; sogar die Form und die Mittel des Kampfes, die Organisation der Staatsmacht, die militärische Technik usw. – alles dies wird als eine mehr oder minder bestimmte Größe vorausgesetzt, während die Formel „Eroberungspolitik“ sowohl für Seeräuber wie auf Karawanenhandel und Imperialismus zutrifft; mit anderen Worten: die Formel „Eroberungspolitik“ definiert nichts, während die Formel „Eroberungspolitik des Finanzkapitals„ den Imperialismus als eine bestimmte geschichtliche Größe kennzeichnet.
Daraus, daß die Epoche des Finanzkapitalismus eine geschichtlich umgrenzte Erscheinung ist, folgt natürlich nicht, daß sie als ein deus ex machina auf die Welt gekommen sei. In Wirklichkeit ist sie die historische Fortsetzung der Epoche des Industriekapitals, ebenso wie diese eine Fortsetzung der handelskapitalistischen Phase ist. Deshalb kommen die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus, die im Laufe seiner Entwicklung ständig auf erweiterter Stufenleiter reproduziert werden, in unserer Epoche ganz besonders kraß zum Ausdruck. Dasselbe bezieht sich auch auf die anarchische Struktur des Kapitalismus, die in der Konkurrenz in Erscheinung tritt. Der anarchische Charakter der kapitalistischen Gesellschaft beruht darauf, daß die gesellschaftliche Wirtschaft keine organisierte Gemeinschaft ist, die durch einen einheitlichen Willen geleitet wird, sondern ein System von Wirtschaften, die miteinander durch den Austausch verbunden sind und von denen jede auf eigene Faust und auf eigenes Risiko produziert und niemals in der Lage ist, sich dem Umfang der gesellschaftlichen Nachfrage und Produktion in den anderen individuellen Wirtschaften anzupassen. Das führt zu einem Kampfe untereinander, zu ihrer kapitalistischen Konkurrenz. Die Formen dieser Konkurrenz können sehr verschieden sein. Insbesondere ist auch die imperialistische Politik eine der Formen des Konkurrenzkampfes und wir wollen sie im folgenden Kapitel als Sonderfall der kapitalistischen Konkurrenz, und zwar als die Konkurrenz in der Epoche des Finanzkapitalismus betrachten.
1. Wir sprechen vom Imperialismus, vor allem als von der Politik des Finanzkapitals. Es kann aber auch vom Imperialismus als einer Ideologie die Rede sein. Ebenso ist der Liberalismus, einerseits die Politik des Industriekapitals (Freihandel usw.), aber gleichzeitig wird damit auch eine ganze Ideologie (“Freiheit der Person“ usw.) berechnet.
2. Ziemlich gut wird die „Rassentheorie“ von Kautsky verspottet. Siehe seine Schrift über Rasse und Judentum, das bereits während des Krieges erschienen ist.
3. Die „wissenschaftliche“ Literatur der Kriegszeit ist voll von direkt ungeheuerlichen Beispielen einer barbarischen Vergewaltigung der einfachsten Wahrheiten. Fast alle Mittel werden aufgeboten, um den kulturellen und Tiefstand und die angeborene Schuftigkeit der „Rasse“ des Gegners „nachzuweisen“. (“Minderwertige Nationen.“) In einer französischen Zeitschrift wurde eine Art von „Studie“ veröffentlicht, die allen Ernstes den Lesern nachwies, daß der Urin der Deutschen um ein Drittel giftiger sei als der der Alliierten und insbesondere der Franzosen!
4. Siehe F. Naumann, Mitteleuropa.
5. Bekannt ist der Satz von Clausewitz, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Aber die Politik selbst ist die aktive „Fortsetzung“ der Erweiterung der betreffenden Produktionsweise.
6. Es ist interessant, daß selbst solche Gelehrte, wie der russische Historiker R. Wipper, es äußerst lieben, die Ereignisse über alle Massen zu „modernisieren“, wobei alle geschichtlichen Grenzen verwischt werden. Übrigens hat Wipper sich in der letzten Zeit als ein zügelloser chauvinistischer Verleumder erwiesen und bei dem Bürger Rjabuschinski seine Zuflucht gefunden.
7. Die Methodologie des Marxismus ist von Marx in seiner Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie in einer glänzenden Weise entwickelt worden.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003