Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

ERSTER ABSCHNITT
Die Weltwirtschaft und der Prozeß der Internationalisierung des Kapitals

Drittes Kapitel
Die organisierten Formen der Weltwirtschaft

 

1. Die anarchische Struktur der Weltwirtschaft. 2. Die internationalen Syndikate und Kartelle. 3. Die internationalen Trusts. 4. Die internationalen Bankkonsortien. 5. Der Charakter der internationalistischen privatkapitalistischen Organisationen. 6. Die Internationalisierung des Wirtschaftslebens und die Internationalisierung der kapitalistischen Interessen.

Die moderne Weltwirtschaft zeichnet sich durch eine weitgehende anarchische Struktur aus. In dieser Hinsicht kann die Struktur der modernen Weltwirtschaft mit der Struktur der „nationalen“ Wirtschaften verglichen werden, die für diese bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts typisch waren, das heißt, bevor der organisatorische Prozeß, der in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in so schroffer Weise in Erscheinung trat, zu wesentlichen Veränderungen geführt hatte, indem er den Rahmen des bisher unbeschränkten „freien Spiels“ der Wirtschaftskräfte bedeutend einschränkte. Am schroffesten äußert sich diese anarchische Struktur des Weltkapitalismus in zwei Tatsachen: in den industriellen Weltkrisen einerseits und in den Kriegen andererseits.

Die bürgerlichen Nationalökonomen, die der Ansicht sind, daß die Vernichtung der freien Konkurrenz und ihre Ersetzung durch kapitalistische Monopole die Industriekrisen aus der Welt schaffen könnten, irren sich sehr. Sie vergessen dabei eine „Kleinigkeit“ und zwar den Umstand, daß die wirtschaftliche Betätigung der „nationalen“ Wirtschaft jetzt auf der Grundlage der Weltwirtschaft erfolgt. Die Weltwirtschaft ist aber keine einfache arithmetische Summe der „nationalen“ Wirtschaften, ebenso wie die nationale Wirtschaft keineswegs die arithmetische Summe der individuellen Wirtschaften eines Staatsgebietes darstellt. In dem einen wie in dem anderen Fall ist ein wesentliches ergänzendes Moment das Element der Verbundenheit, der Wechselwirkung, des besonderen Milieus, das Rodbertus die „wirtschaftliche Gemeinschaft“ nannte, und ohne die es keine „reale Gesamtheit“, kein „System“, keine Sozialwirtschaft gibt, sondern nur isolierte Wirtschaftseinheiten. Deshalb würden die Krisen sogar in dem Falle weiter bestehen bleiben, wenn die freie Konkurrenz in den Grenzen der „nationalen“ Wirtschaften vollkommen aufgehoben wäre, denn die anarchisch aufgebauten Verbindungen dieser „nationalen“ Körper untereinander würden, das heißt, die anarchische Struktur der Weltwirtschaft würde bestehen bleiben. [1]

Das über die Krisen Gesagte bezieht sich auch auf die Kriege. Der Krieg ist ja in der kapitalistischen Gesellschaft nichts anderes als eine der Methoden der kapitalistischen Konkurrenz, soweit diese letztere sich auf die Sphäre der Weltwirtschaft erstreckt. Deshalb ist der Krieg das immanente Gesetz einer Gesellschaft, die unter dem Druck der blinden Gesetze des sich elementar entwickelten Weltmarktes produziert, die keine Gesellschaft ist, welche den Prozeß der Produktion und Verteilung bewußt regelt.

Obwohl aber die moderne Weltwirtschaft im großen und ganzen anarchisch aufgebaut ist, macht der organisatorische Prozeß auch hier einige Fortschritte und tritt hauptsächlich im Wachstum der internationalen Syndikate, Kartelle und Trusts in Erscheinung. Wir müssen vor allem einen allgemeinen Überblick dieser Gründungen der allerneuesten Zeit geben.

In der Schiffahrt sind die größten Kartelle (wir gehen hier natürlich nicht auf die durch den Krieg hervorgerufene Veränderung ein): 1. Sailing Shipowners’ Documentary Committee (Englische, deutsche, norwegische und dänische Schiffahrtsgesellschaften); 2. Internationale Segelschiffahrtskonvention (englische, deutsche, dänische, schwedische und norwegische Segelschiffe); 3. die Baltic and White Sea Conference, die 60-70 Prozent der gesamten Tonnage in der Ostsee und im Weißen Meer umfaßt (Deutsche, Franzosen, Holländer, Engländer, Spanier, Belgier, Dänen, Norweger, Schweden, Russen, Finnen); 4. Internationaler Küstenschiffahrtsverband, Altona; 5. Nordatlantischer Dampflinienverband (Deutsche, Amerikaner, Belgier, Franzosen, Österreicher); 6. International Mercantile Marine Company, auch „Morgan-Trust“ genannt (hauptsächlich Amerikaner, Engländer und Deutsche; Ende 1911 verfügte der Konzern über 130 Dampfer mit 1.158.270 Bruttoregistertonnen). Außer diesen Kartellen von mehr oder minder entwickeltem Typus besteht noch eine Reihe von umfassenden Vereinbarungen, durch die Frachten, Rabatte usw. geregelt werden.

Bergbau und Metallindustrie. 1. Internationales Trägerkartell (die Stahlsyndikate in Deutschland, Belgien und Frankreich); 2. Internationales Schienenkartell (deutsche, englische, französische, belgische, amerikanische, spanische, italienische, österreichische und russische Schienenwalzwerke); 3. Internationale Stahlkonvention (der amerikanische Stahltrust, die Bethlehem Steel Co. und die Firma Krupp); 4. Internationale Bleikonvention (deutsche, australische, belgische, amerikanische, mexikanische, englische Bleierzeugnisse); 5. Deutsch-Österreichischer Stahlgußverband; 6. Deutsch-Englische Ferromanganeisenkonvention; 7. Internationale Vereinigung von Ferrosiziliumwerken (Norwegen, Schweden, Tirol, Bosnien, Savoyen, Deutschland); 8. Internationales Metallplattensyndikat (Deutschland und Österreich); 9. Vereinigung der Zinkplattenfabrikanten (England und Amerika; sehr einflußreich auf den Weltmarkt); 10. Internationale Zinkkonvention (Deutsche, Belgier, Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer, Amerikaner – 92 Prozent der europäischen Produktion); 11. Internationaler Zinkhüttenverband (Deutsche, Franzosen, Belgier, Engländer); 12. Internationales Drahtgeflechtekartell (Deutsche, Belgier, Franzosen, Engländer); 13. Internationales Abkommen der Kupferdrahtziehereien; 14. Deutsch-Englische Schraubenkonvention; 15. Internationales Emaillekartell (Deutschland, Österreich, Ungarn, Frankreich, Schweiz, Italien); 16. Internationales Turbinensyndikat hauptsächlich Deutsche und Schweizer); 17. Vereinigte Dampfturbinengesellschaften (die deutsche AEG, die amerikanische General Electric Co. u.a. Firmen); 18. der Automobiltrust (Motor Trade Association – fast alle bedeutenden europäischen Automobilfabriken); 19. Russisch-Deutsch-Österreichisches Syndikat für landwirtschaftliche Geräte; 20. Internationale Vereinigung der Eisenhändlerverbände (Deutschland, England, Frankreich, Österreich, Ungarn, Schweiz, Belgien); 21. Internationaler Verband der Korsettschließen- und Federnfabriken (fast alle großen Fabriken).

In der Bearbeitung von Steinen und Ton usw. gibt es sechs große internationale Kartelle.

In der elektrischen Industrie ist, wie gesehen haben, der Prozeß der Internationalisierung der Produktion am deutlichsten zum Ausdruck gekommen. Deshalb bestehen hier auch sehr bedeutende internationale Vereinbarungen. Am bedeutensten ist das Abkommen 1. zwischen der deutschen AEG, der amerikanischen General Electric Co. und der britisch-französischen Gesellschaft Thomson Housten Co., die über ein ganzes Netz von Unternehmungen in verschiedenen Erdteilen verfügen; 2. das internationale Galvanostegie-Syndikat; 3. die Verkaufsstelle Vereinigter Glühlampenfabriken (Deutschland, Österreich, Ungarn, Schweden, Holland, Italien, Schweiz); weiter eine ganze Reihe von besonderen Abmachungen der Banken zur Finanzierung elektrischer Unternehmungen usw.

In der chemischen Industrie hat die internationale Katellierung vor allem in einer Reihe von Spezialgebieten, beträchtlichen Umfang angenommen. Besonders bedeutend sind: 1. Das Internationale Chlorkalkkartell (Deutschland, Frankreich, Belgien, England, Vereinigte Staaten); 2. das Internationale Leimkartell (Leimfabriken in Österreich-Ungarn, Deutschland, Holland, Belgien, Schweden, Dänemark, Italien; Verkaufsstelle in London); 3. das Internationale Boraxkartell (Deutschland, Vereinigte Staaten, Frankreich, Österreich-Ungarn, England); 4. der Internationale Verband der Seidenfärbereien (deutsche, schweizerische, französische, italienische, österreichische, amerikanische Färbeverbände); 5. das Internationale Karbidsyndikat (alle europäischen Fabriken); 6. das Internationale Pulverkartell; 7. das Deutsch-Österreichische Superphosphatkartell; 8. das Kartell der Belgisch-Holländischen Oleinproduzenten; 9. die Internationale Verkaufsvereinigung für Stickstoffdünger (deutsche, norwegische, italienische, schweizerische Stickstoffdüngerfabriken); 10. das Internationale Kerosinkartell (Standard Oil Co. und russische Firmen); 11. der Verband Deutsch-Österreichisch-Italienischer Gipserzeuger und Gipshändler; 12. das Internationale Salpetersyndikat; 13. das Internationale Koalinverkaufssyndikat (deutsch-österreichisch); 14. die Europäische Petroleum-Union (deutsch-englische, schweizerische, holländische, belgische, österreichische, dänische amerikanische, ostasiatische Petroleumraffinerien).

In der Textilindustrie umfassen die internationalen Abkommen hauptsächlich Spezialgebiete: 1. The International Federation of Master Cotton Spinners’ and Manufacturers’ Associations (Vertreter der Kontinental-europäischen und amerikanischen Industrie); 2. Deutsch-Österreichisches Kravattenstoffkartell; 3. Internationales Samtindustrie-Syndikat (alle deutschen und französischen Samtfabriken); 4. Kunstseideverkaufskontor (deutsch und belgische Kunstseidefabriken); 5. International Cotton Mills Corporation (Vereinigte Staaten und das übrige Amerika); 6. Konvention der Deutschen und Schweizerischen Seidencachenezfabrikanten; 7. Verband der Deutsch-Schweizerischen Cachenez- und Kravattenfabrikanten; 8. Österreichisch-Deutsches Jutekartell; 9. Internationaler Verband der Kratzenfabrikanten (Deutschland, Luxemburg, Belgien, Holland, Österreich-Ungarn, Schweden, Dänemark, Balkanländer); 10. Internationale Nähseidekonvention (österreichische, belgische, russische, spanische und englische Unternehmungen); 11. Internationale Vereinigung der Flachs- und Werggarnspinner (fast alle großen Flachsspinnereien Europas); 12. Internationales Kartell der Schappespinner.

In der Glas- und Porzellanindustrie ist als die bedeutendste Vereinigung der Europäische Verband der Flaschenfabrikanten zu nennen (ein Flaschensyndikat, das fast alle Länder umfaßt); außerdem gibt es noch eine Reihe großer Glas- und Porzellankartelle.

In der Papierindustrie bestehen sieben große internationale Kartelle.

Außerdem sind noch zehn Abkommen in sechs verschiedenen Produktionszweigen bekannt (in der Kautschukerzeugung, in der Möbelindustrie, in der Pfropfenfabrikation, in der Kakaoerzeugung usw. [2]

Außer den hier aufgezählten Kartelle gibt es noch Hunderte von internationalen Trusts (Fusionen und Kontrollgesellschaften). Wir wollen hier nur einige der bedeutendsten erwähnen, das heißt diejenigen, die den größten wirtschaftlichen Einfluß auf dem Weltmarkt ausüben.

Ein solcher Trust ist z.B. die Standard Oil Company of New Jersey, die im Jahre 1910 Aktien von 62 Gesellschaften (darunter der Anglo-American Oil Company, der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft, der Romana-Americana) besaß und mit einer fast unübersehbaren Reihe von Unternehmungen und Gesellschaften (holländischen, deutschen, französischen, schwedischen, italienischen, russischen, schweizerischen usw.) verbunden war [3]; dieser Trust kontrolliert: die Amalgamated Copper Company, die eine Weltmonopolstellung in der Kupfererzeugung einzunehmen sucht, dann die United States Steel Corporation, die größte „Kontrollgesellschaft“ der Welt; die Reismühlen- und Handelsaktiengesellschaft in Barmen, die mit einer Summe von 6.039.344 Mark an ausländischen Firmen beteiligt ist [4]; die internationale Bohrgesellschaft; die Nobel Trust Company; einige internationale Trusts in der Erdölindustrie; den Bananentrust, der durch die Boston Fruit Company und durch die Tropical Trading und Transport Co. gegründet worden ist; den Fleischtrust; den Nähgarntrust, an dessen Spitze die englische Firma J. and P. Coats Limited steht; die Société Centrale de la Dynamite; die Compagnie générale des Conduits d’eau (Lüttich), die ihrerseits Unternehmungen in Utrecht, Barcelona, Paris, Neapel, Charleroi und Wien „kontrolliert“; den Trust Metallurgique Belge-Français etc. etc. [5]

Hinter allen diesen Kartellen und Trusts stehen gewöhnlich die Unternehmungen, die sie finanzieren, das heißt vor allem Banken. Der Prozeß der Internationalisierung, dessen primitivste Form der internationale Warenaustausch und dessen höchste organisatorische Stufe der internationale Trust ist, dieser Prozeß hat auch eine sehr bedeutende Internationalisierung des Bankkapitals hervorgerufen, soweit dieses sich (durch Finanzierung industrieller Unternehmungen) in Industriekapital verwandelt und auf diese Weise die besondere Kategorie des Finanzkapitals bildet.

Gerade das Finanzkapital ist die alles durchdringende Form des Kapitals, die wie die Natur am „horror vacui“ leidet und bestrebt ist, jeden „leeren“ Raum zu erfüllen, und sei dies auch ein „tropisches“, „subtropisches“ oder „Polargebiet“, wenn nur der Profit in genügendem Maße zuströmt. Zur Illustration der freundschaftlichen „gegenseitigen Hilfe“ der großen nationalen Banken führen wir einige Beispiele der Bildung von gewaltigen internationalen Bankkonsortien an.

Im Jahre 1911 wurde in Brüssel ein Finanztrust zur Finanzierung von amerikanischen Unternehmern gegründet, die Société Financière des Valeurs Américaines. Beteiligt waren: die Deutsche Bank und die Firma Warburg & Co. in Hamburg, die Société Générale in Brüssel, die Banque de Bruxelles, die Banque de Paris et de Pays Bas, die Société Générale pour Favoriser l’Industrie Nationale in Paris, die Société Française de Banque et de Dépôts, die Banque Française por le Commerce et l’Industrie, Kuhn, Loeb & Co., New York usw., das heißt die größten Banken der Welt. [6] Die gleiche Deutsche Bank, die dem erwähnten Finanztrust angehört, gründet zusammen mit der Schweizerischen Kreditanstalt und der Firma Speyer-Elissen die Aktiengesellschaft für Ueberseeische Bauunternehmungen, ferner in einigen Ländern Verkaufsstellen für den Verkauf von Petroleum, sie nimmt Beziehungen zu der russischen Firma Nobel auf und beteiligt sich an der Europäischen Petroleum-Union. [7] In der letzten Zeit ist in Brüssel ein Bankkonsortium (das Konsortium Konstantinopel) zur Finanzierung von Unternehmungen in Konstantinopel gegründet worden. Daran nahmen teil: die Deutsche Bank, die Deutsche Orientbank (in Verbindung mit der ersten), die Dresdner Bank, der Schaaffhausensche Bankverein, die Nationalbank, die Société Générale (Paris), die Banque de Paris, das Comptoir National, die Schweizerische Kreditanstalt, die Bank für Elektrische Unternehmungen. [8] Mit Hilfe der Banque de Paris et des Pays Bas, des Wiener Bankverein, der Schweizerischen Kreditanstalt, der Société Générale des Chemins de Fer Economiques, der Deutschen Bank, der Dresdner Bank usw. das heißt eines internationalen Bankkonsortiums wird eine spezielle Eisenbahnbank in Belgien gegründet: die Banque Belge des Chemins de Fer. Noch ein Beispiel: In dem russischen Syndikat „Prodamet“ „betätigten“ sich vier Gruppen von „nationalen“ Banken: eine russische (die Asow-Don-Kommerzbank, die St. Petersburger Internationale Kommerzbank, die Russische Bank für Außenhandel, die Russisch-Asiatische Bank und die Kommerzbank in Warschau), eine französische (Crédit Lyonnais, Banque de Paris et de Pays Bas, Société Générale), eine deutsche (Deutsche Bank, Bank für Handel und Industrie und Dresdner Bank) und eine belgische Gruppe (Crédit Générale à Liége, Société Générale de Belgique, Nagelmaerkers Fils à Liège [9]).

Es darf keinesfalls angenommen werden, daß dies Ausnahmefälle sind. Diese Gebilde erfüllen das gesamte Wirtschaftsleben. Koloniale Unternehmungen und Kapitalexport nach anderen Kontinenten, Bau von Eisenbahnen und Staatsanleihen, Städtische Straßenbahnen und Waffenfabriken, Goldgruben und Gummiplantagen, alles das ist mit der Tätigkeit der internationalen Bankkonsortien auf das engste verbunden. Die internationalen wirtschaftlichen Beziehungen bilden zahllose Fäden, die in Tausenden von Knoten verknüpft sind, tausendfältig verflochten sind, um endlich in den Abkommen der größten Banken der Welt zusammenzulaufen., die ihre Fühler über den ganzen Erdball ausstrecken. Der internationale Finanzkapitalismus und die international organisierte Herrschaft der Banken ist eine unwiderlegliche Tatsache der ökonomischen Wirklichkeit.

Andererseits darf aber die Bedeutung der internationalen Organisationen nicht überschätzt werden. Ihre Bedeutung ist im Vergleich zu dem ganzen gewaltigen Umfang des Wirtschaftslebens des Weltkapitalismus bei weitem nicht so groß, wie das auf den ersten Blick scheinen mag. Viele von ihnen, das heißt in diesem Falle von den Syndikaten und Kartellen, sind nur Abkommen über die Verteilung der Märkte (Rayonisierungskartelle); in einer ganzen Reihe von bedeutenden Unterabteilungen der gesellschaftlichen Produktion umfassen sie nur spezielle Produktionszweige, wie z.B. eines der stärksten Syndikate, das Flaschensyndikat; viele haben einen sehr wenig dauerhaften Charakter. Nur die internationalen Abkommen, die auf einem natürlichen Monopol beruhen, sind dauerhafter. Nichtsdestoweniger aber besteht die Tendenz zu einem ständigen Wachstum dieser internationalen Organisation, was bei der Analyse der Entwicklung der modernen Weltwirtschaft nicht außer acht gelassen werden darf. [10]

Wir haben die wichtigsten Tendenzen des Wachstums der Weltwirtschaft verfolgt, angefangen vom Warenaustausch bis zur Tätigkeit der internationalen Bankkonsortien. Dieser Prozeß ist in seiner vielfältigen Form ein Prozeß der Internationalisierung des Wirtschaftslebens, der Annäherung der entferntesten geographischen Punkte der wirtschaftlichen Entwicklung, der Nivellierung der kapitalistischen Verhältnisse, des wachsendes Gegensatzes zwischen dem konzentrierten Eigentum der Kapitalistenklasse und dem Weltproletariat. Daraus folgt aber keineswegs, daß die gesellschaftliche Entwicklung bereits bereits in das Stadium des mehr oder minder harmonischen Nebeneinanderbestehens der „nationalen“ Staaten getreten sei. Denn der Prozeß der Internationalisierung des Wirtschaftslebens ist keineswegs mit einem Prozeß der Internationalisierung der kapitalistischen Interessen identisch. Sehr richtig bemerkt ein ungarischer Nationalökonom zu den Schriften des englischen Pazifisten Norman Angell:

Er [das heißt Norman Angell, N.B.] vergißt nur eines: daß es sowohl in Deutschland als in England Klassen gibt und daß etwas, was für die Gesamtheit des Volkes überflüssig, nutzlos, ja schädlich sein mag, für einzelne Gruppen (Hochfinanz, Kartelle, Bürokratie usw.) sehr gewinnbringend sein kann. [11]

Diese These kann natürlich auf alle Staaten ausgedehnt werden, denn ihre Klassenstruktur unterliegt zum mindesten vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus keinem Zweifel. Deshalb können nur diejenigen, die die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung nicht sehen, die die Internationalisierung des Wirtschaftslebens gutmütig für eine „Internationalisierung der Tatsachen“ halten, das heißt in der anarchischen Internationalisierung eine organisierte Internationalisierung sehen – nur sie können die Möglichkeit einer Versöhnung der „nationalen“ kapitalistischen Gruppen in der „höheren Einheit“ des Weltkapitalismus erhoffen. In Wirklichkeit spielt sich alles viel komplizierter ab, als das den opportunistischen Optimisten scheint. Der Prozeß der Internationalisierung des Wirtschaftslebens kann den Gegensatz zwischen den Interessen der verschiedenen „nationalen“ Gruppen der Bourgeoisie äußerst verschärfen und verschärft ihn auch. In der Tat ist die Zunahme der „Solidarität“ der austauschenden Gruppen verbunden. Er kann im Gegenteil von einer Zunahme der wütendsten Konkurrenz und von einem Kampf auf Leben und Tod begleitet sein. Das gleiche trifft auch für den Kapitalexport zu. Hier wird keineswegs immer eine „Gemeinsamkeit der Interessen“ geschaffen. Auch hier kann der Konkurrenzkampf um die Sphären für die Anlage von Kapital sich äußerst verschärfen. Nur in einem Falle können wir mit Bestimmtheit sagen, daß eine Solidarität der Interessen entsteht; und zwar in dem Falle, wenn wir die Zunahme der Beteiligung und der gemeinsamen Finanzierung im Auge haben, das heißt dann, wenn infolge des gemeinschaftlichen Besitzes aus verschiedenen Ländern an einem und demselben Objekt entsteht. Hier bildet sich wirklich eine wahre „Goldene Internationale“ heraus. [12] Hier ist nicht nur eine einfache Ähnlichkeit oder, wie man jetzt zu sagen pflegt, eine „Parallelität“ der Interessen vorhanden, hier entsteht eine Einheit der Interessen. Aber gleichzeitig mit diesem Prozeß bringt der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung automatisch auch die entgegengesetzte Tendenz zur Nationalisierung der kapitalistischen Interessen hervor, und die ganze menschliche Gesellschaft zollt diesem Widerspruch unter dem schwarzen Druck des Weltkapitals in unaussprechlichen Qualen, in Blut und Schmutz ihren Tribut ...

Eine Beurteilung der Perspektive der Entwicklung kann nur auf der Grundlage der Analyse aller grundlegenden Tendenzen des Kapitalismus gegeben werden. Und wenn die Internationalisierung der kapitalistischen Interessen nur die eine Seite der Internationalisierung des Wirtschaftslebens zum Ausdruck bringt, so ist notwendig, auch ihre andere Seite zu betrachten, das heißt jenen Prozeß der Nationalisierung der kapitalistischen Interessen, der die Anarchie der kapitalistischen Konkurrenz im Rahmen der Weltwirtschaft am schroffsten zum Ausdruck bringt, der zu den größten Erschütterungen und Katastrophen, zur größten Verschwendung der menschlichen Energie führt, und der das Problem der Errichtung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens mit dem größten Nachdruck auf die Tagesordnung stellt.

Wir stehen somit vor der Aufgabe, den Prozeß der Nationalisierung des Kapitals zu analysieren.

 

 

Anmerkungen

1. Das beginnen auch bürgerliche Schriftsteller zu begreifen. So sagt z. B. Goldstein: „Daß die Kartelle und Trusts nicht imstande sind, die Krisen zu beseitigen, ist daraus ersichtlich, daß der Stahltrust, in dessen Hände zusammen mit verbündeten Unternehmungen sich etwa 90 Prozent der Stahlproduktion der Vereinigten Staaten befanden, gegen Ende des 1. Vierteljahrs des Jahres 1908 die Produktionskapazität seiner Werke nur zur Hälfte ausnutzen konnte usw.“ (S.M. Goldstein, Syndikate und Trusts und die moderne Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Moskau 1912, S.5, Fußnote). Siehe auch Tugan-Baranowski, Industrielle Krisen.

2. Das Verzeichnis der internationalen Kartelle haben wir der bereits zitierten Arbeit von Harms entnommen (S.254ff.)

3. Liefmann, a.a.O., S.249ff.

4. Liefmann, a.a.O., S.275.

5. Kobatsch, a.a.O.; Liefmann, a.a.O.; Harms, a.a.O.

6. Liefmann, a.a.O., S.174.

7. Ebenda, S.456, 486

8. Ebenda, S.497 u. 498.

9. Sagorski: Syndikate u. Trusts, S.230 Wir haben im Text nur private internationale Abkommen erwähnt. Wir setzen beim Leser die Kenntnis der großen staatlichen Abkommen (wie z.B. Weltpostverein, Eisenbahnabkommen usw.) voraus.

10. Sartorius von Waltershausen schätzt die Rolle der internationalen Organisationen ganz gering ein. Siehe das erwähnte Werk, S.190 „... Daß internationale Gesellschaften mit einheitlicher Leitung der Produktion geschaffen werden und Bestand haben, ist unwahrscheinlich. Wohl aber ist zu erwarten, daß unter den großen nationalen Verbänden Abmachungen über die Grenzen der Absatzgebiete zustande kommen.“ Den entgegengesetzten Standpunkt nimmt Harms ein.

11. Erwin Szabo: Krieg und Wirtschaftsverfassung, Archiv für Sozialwissenschaft, hrsg. von H. Jaffé, Bd.39, Heft 3, S.647 u. 648.

12. Wie sich die Ideologen der modernen Bourgeoisie einer solchen „Goldenen Internationale“ gegenüber verhalten (solange es sich natürlich nicht um die Gegenüberstellung von „Oberschicht“ und „Unterschied“ handelt), zeigt z.B. folgende Erklärung von Sartorius: „Die 'Goldene Internationale' kann nie das Ideal eines Menschen sein, der ein Vaterland hat und glaubt, daß in diesem Vaterland die Wurzeln seines Seins liegen“ (a.a.O., S.14). Das zeigt in gewisser Hinsicht, wie relativ schwach der Prozeß der Internationalisierung der kapitalistischen Interessen ist.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003