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Die Neue Zeit, Jg. 32 1. Bd. (1913–14), Nr. 22, S. 806–16 u. Nr. 23, S. 850–58.
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Die Neue Zeit, Jg. 32 1. Bd. (1913–14), Nr. 22, S. 806–16
Die Marxsche Wertlehre war der bürgerlichen Ökonomie von jeher ein Stein des Anstoßes. Böhm-Bawerk verlieh nur dem Worte, was seine professoralen Kollegen fühlen und denken, als er zugab, man könne Marx’ ökonomisches System nicht mehr erschüttern, sobald man einmal die Richtigkeit seiner Grundlagen zugegeben hat. Es mußte daher das eifrigste Bestreben der bürgerlichen Wissenschaft sein, ihre Ökonomie, soweit sie überhaupt sich noch an ihren systematischen Aufbau heranwagte, auf andere Grundlagen zu stellen. Diesem Zwecke sollte die Grenznutzentheorie dienen. Für Zwecke der theoretischen Forschung erweist sich diese allerdings völlig unbrauchbar, und es fehlt ihr auch nicht an inneren Widersprüchen; aber sie war immerhin die einzige Werttheorie, die die bürgerliche Wissenschaft der Marxschen entgegensetzen konnte; daher der Anklang, den sie fand.
Aber die immer schärfer hervortretende Unzulänglichkeit dieser Theorie mußte den, Gedanken nahelegen, auf eine grundlegende Theorie überhaupt zu verzichten und den Versuch zu machen, eine Ökonomie ohne Werttheorie zu konstruieren. In der Tat war das auch nur die konsequente Fortbildung der Grenznutzentheorie; denn diese hatte schon den Tauschwert nicht mehr als eine selbständige Kategorie anerkannt, sondern war ganz auf das Moment der Nützlichkeit zurückgegangen, also auf den Gebrauchswert.
Herr Tugan-Baranowsky, der ehemalige Marxist, hat diese Konsequenz gezogen und sich bemüht, eine Ökonomie ohne Berücksichtigung des Wertelements zu schaffen. In seiner letzthin erschienenen Schrift Die soziale Theorie der Verteilung [1] hat er nun diesen schon in früheren Werken begonnenen Versuch zu Ende geführt.
Sehen wir zu, von welchem Erfolg sein Versuch gekrönt war.
Ricardo hat bereits das Problem der Verteilung als das Grundproblem der politischen Ökonomie betrachtet. [2] Diesem sowie dem Wertproblem wenden in der neueren Zeit eine Menge hervorragender Forscher ihre größte Aufmerksamkeit zu. In unserem Zeitalter verschärften Klassenkampfes, der Bildung riesiger Klassenorganisationen, des Hervortretens ganz neuer Erscheinungen kapitalistischer Monopole (Trusts, Syndikate usw.) wird die theoretische Lösung der Verteilungsprobleme durch den Gang der Entwicklung selbst in die erste Reihe gerückt. [3] Der Versuch einer generalisierenden Beleuchtung dieser Fragen auf Grund eines neuen Tatsachenmaterials wäre deshalb ein wirklicher Fortschritt, wenn die Neuheit des Materials mit Klarheit des theoretischen Denkens in der Forschung vereinigt würde. Leider ist das bei Tugan-Baranowsky keineswegs der Fall. Ihm gelingt es, den Wirrwarr in den Begriffen einiger Herren, wie zum Beispiel des Herrn Struve, der darin besteht, die Begriffe des Gebrauchswertes und des Tauschwertes, des Produktes und seines Wertes zu verwechseln, zu einem methodologischen Prinzip zu erheben.
Die bedeutende Mehrheit der modernen Verteilungstheorien erachtet die Lösung des von ihnen gestellten Problems als möglich, indem sie zugleich von den sozialgeschichtlichen Verhältnissen der gegebenen wirtschaftlichen Lebensordnung abstrahieren: die Verteilungsfrage wird gewöhnlich auf die Frage des Werttausches an und für sich zurückgeführt. Diese Stellung nimmt die gegenwärtig in der offiziellen Wissenschaft vorherrschende österreichische Schule an. Auch bei Marx steht das Verteilungsproblem in engem Zusammenhang mit dem Wertproblem, da er den Lohn als den Preis der Arbeitskraft betrachtet. Aber bei ihm (und darin besteht sein unsterbliches Verdienst) sind sämtliche ökonomische Kategorien sozial und geschichtlich genommen; deshalb schließt der Tauschakt zwischen Kapitalist und Arbeiter selbst das Vorhandensein eines Klassengegensatzes und Klassenkampfes in sich ein Tugan-Baranowsky vertritt hier einen Ganz besonderen Standpunkt. Indem er seine „eigene“ Werttheorie, die nichts als eine Mischung von Böhm-Bawerk und Marx ist, verteidigt, stellt er auch eine eigene Verteilungstheorie auf, in welcher er sowohl gegen Böhm-Bawerk als auch gegen Marx auftritt, da er von ihnen in der Fragestellung selbst wie auch in der Methode ihrer Lösung prinzipiell abweicht. Im Gegensatz zu jenen glaubt er, zwischen dem Verteilungsproblem und dem Wertproblem bestehe gar kein notwendiger logischer Zusammenhang: man kann eine beliebige Werttheorie vertreten, ohne, nach Tugan-Baranowskys Ansicht, irgendwelche Verteilungstheorie im geringsten Maße zu berühren; denn zwischen den gesellschaftlichen Klassen findet ein Kampf um den Anteil und am gesellschaftlichen Produkt statt. Auf diese Weise besteht die Neuheit der Tugan-Baranowskyschen Methode darin, daß bie Verteilungsfragen von den Problemen des Werttausches ganz abgesondert und ausschließlich vom Standpunkt der Machtverhältnisse zwischen den Klassen der kapitalistischen Gesellschaft aus betrachtet werden. Wohin diese „Neuheit“ führen wird, werden wir noch sehen. Zunächst aber ist die Feststellung einiger methodologischen Forderungen notwendig, die wir an jede Theorie der kapitalistischen Verteilung stellen müssen.
Die politische Ökonomie hat die Erforschung der Beziehungen zum Gegenstand, die zwischen den Menschen in ihrem Kampfe mit der Natur entstehen; die ganze Gesellschaft wird von diesem Standpunkt aus als ein gewisser „Produktionsorganismus“ (Marx) betrachtet: als Ausgangspunkt seiner Entwicklung erscheinen die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und der Außenwelt, der Grad der Herrschaft über diese – „die gesellschaftlichen Produktivkräfte“; mit deren Entwicklung ändern sich die wechselseitigen Beziehungen der Menschen im Arbeitsprozeß – „die Produktionsverhältnisse“ nach Marx’ Terminologie. Das Produkt der Arbeit wird verteilt, die Formen dieser Verteilung aber sind immer geschichtlich gegeben, stets in Veränderung begriffen. Wir unterscheiden erstens eine organisierte Verteilung, wenn das Produkt entweder von der Gesellschaft selbst oder von der gesellschaftlichen Gewalt verteilt wird (was Herr Struve als die „wahre Wirtschaft“ bezeichnen würde); zweitens eine unorganisierte Verteilung, wenn die gesellschaftliche Wirtschaft als eine eigenartige Kombination von einzelnen, „singulären“ Wirtschaften erscheint [4]; hier tritt die Verteilung in der Form von Tausch auf („Pseudoverteilung“ nach Struve). [5]
In der Verteilung finden bestimmte soziale Arbeitsverhältnisse ihren Ausdruck; im besonderen gelangt im Tausch, in der Bewegung der Waren aus einer einzelnen Wirtschaft in eine andere die Tatsache des allgemeinen Zusammenarbeitens der Menschen zum Ausdruck. [6] Die Formen der Verteilung entsprechen stets bestimmten Produktionsverhältnissen und erscheinen außerdem als die Formen ihrer stetigen Reproduktion. So ist zum Beispiel das Grundverhältnis der kapitalistischen Produktion das Verhältnis des Kapitalisten und des Arbeiters die ihm entsprechende Form der Verteilung das Erscheinen der Arbeitskraft als einer Ware auf dem Warenmarkt. Nur dank dem letzterwähnten Umstand nimmt der Tausch die Form des Kapitalismus an. Ist die Ware Arbeitskraft auf dem Markt nicht vorhanden, so zeigt das, daß die Verteilungsform bloß der einfachen Warenproduktion entspricht, keineswegs der kapitalistischen. Umgekehrt, inwiefern die Operation G—Ak („Geld—Arbeitskraft“) in den Metamorphosen G—W als Bestandteil gegeben ist, insofern haben wir die spezifische Form der kapitalistischen Verteilung, die lediglich der kapitalistischen Produktion eigen ist. [7] Somit entspricht der kapitalistischen Produktion als historische Form der Verteilung der kapitalistische Tausch, das heißt die Verteilung mittels Wert-, aber nicht Dingverhältnissen, und zwar ein Tausch, bei dem auch die Arbeitskraft als Ware auftritt. Also um den Verteilungsprozeß in seiner kapitalistischen Form zu verstehen, müssen wir unbedingt die zwei oben erwähnten Tatsachen festhalten: 1. Die Verteilung geschieht mittels Wertverhältnissen; 2. die Arbeitskraft wird zur Ware. Dies sind eben diejenigen Forderungen, die man an jede Theorie der kapitalistischen Verteilung stellen muß.
Wie ist es in dieser Beziehung mit der Theorie Tugan-Baranowskys bestellt?
Im Ergebnis seiner Untersuchungen des Lohnes und des Profits gelangt er zu folgender Formulierung: Die Höhe des Lohnes und Profits ist bestimmt erstens durch die gesellschaftliche Produktivität der Arbeit, da hiermit die Quantität der zu teilenden Produkte gegeben wird, und zweitens durch den Anteil der Arbeiter und Kapitalisten (am Produkt); dieser Anteil selbst ist seinerseits von den wechselseitigen Kräfteverhältnissen bestimmt. Darin besteht eigentlich, in ihren Grundmomenten dargestellt, die neue Theorie.
Wir sehen also, daß die beiden oben erwähnten Bedingungen nicht erfüllt sind: es ist hier weder der Wert überhaupt noch der Wert der Arbeitskraft insbesondere in Betracht gezogen. Und man bemerkt sofort, daß eine derartige Formulierung den Lohn und den Profit als solche, das heißt als spezifisch geschichtliche Formen, nicht erklärt. Es ist ja leicht einzusehen, daß auf das „Einkommen“, in Produkten ausgedrückt, die Produktivität der Arbeit bei allen geschichtlichen Formationen dieselbe Wirkung ausüben wird: die gesamte Menge der Produkte steigt mit der Zunahme der Arbeitsproduktivität und fällt mit deren Abnahme, unabhängig davon, ob urkommunistische, feudale oder kapitalistische Produktion vorausgesetzt wird. Ebenso wirken die Machtverhältnisse als der die Anteile der gegensätzlichen Klassen bestimmende Faktor in jeder klassendifferenzierten Gesellschaft; denn wo Klassen vorhanden sind, da ist auch ein Kampf um den Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt gegeben, und es ist leicht zu begreifen, daß die Resultate dieses Kampfes von den „gesellschaftlichen Machtverhältnissen“ bestimmt werden.
Der moderne Kampf um den Anteil am gesellschaftlichen Produkt hat eine besondere Eigenschaft: er ist ein Kampf um ökonomische Werte. Das Abstrahieren vom Werte wäre daher eine Abstraktion von dem eigentlich typischen Zuge der modernen Wirtschaftsform.
Marx sagt:
Der Gebrauchswert ist überhaupt nicht das Ding „qu’on aime pour lui-même“ (das man um seiner selbst willen liebt) in der Warenproduktion. Gebrauschswerte werden hier überhaupt nur produziert, weil und sofern sie materielles Substrat, Träger des Tauschwertes sind. (Kapital, I, 5. Auflage, S. 149)
An einer anderen Stelle des Kapital gibt Marx eine glänzende Charakteristik der kapitalistischen Methode der Exploitation:
Das Kapital hat die Mehrarbeit nicht erfunden. Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun atheniensischer ἀθὀ [griechisch: kalos k'agath'os] ‹Aristokrat›, etruskischer Theokrat, civis romanus ‹römischer Bürger›, normännischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist. Indes ist klar, daß, wenn in einer ökonomischen Gesellschaftsformation nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert des Produkts vorwiegt, die Mehrarbeit durch einen engeren oder weiteren Kreis von Bedürfnissen beschränkt ist, aber kein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit aus dem Charakter der Produktion selbst entspringt. (Marx, Kapital, Bd. I, Achtes Kapitel. Der Arbeitstag 2. Der Heißhunger nach Mehrarbeit. Fabrikant und Bojar.)
Diese Stelle im Kapital zeigt besonders deutlich, daß Wertverteilung von einfacher Produktenverteilung streng zu scheiden ist. Wir würden eine so wichtige Erscheinung wie die Akkumulation des Kapitals gar nicht erfassen können, wenn wir nur die Verteilung des Produktes als Gebrauchswertes in Betracht zögen, und wir würden folglich auch nicht imstande sein, den Prozeß der beständigen erweiterten Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse zu begreifen. Eine durchgebildete ökonomische Theorie soll, von einem grundlegenden Begriff des Wertes ausgehend, sämtliche Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens erfassen können. Bereits im „Elend der Philosophie“ hat Marx als Ricardos besonderes Verdienst hervorgehoben, daß er
... die Wahrheit seiner Formel konstatiert, indem er sie aus allen wirtschaftlichen Vorgängen ableitet und auf diese Art alle Erscheinungen erklärt ... Gerade das ist es, was seine Lehre zu einen wissenschaftlichem System (Karl Marx, Elend der Philosophie, Deutsche Übersetzung, S. 22)
Wir kommen also zum folgenden Schluß: Um die kapitalistischen Verteilungsverhältnisse zu erklären, genügt es nicht, wie es Tugan-Baranowsky tut, auf den Klassenkampf hinzuweisen, sondern es muß gezeigt werden, wie dieser Kampf der Klassen, die das gesellschaftliche Produkt untereinander teilen, in der allgemeinen Kategorie der Warenwirtschaft, in der des Wertes, seinen Ausdruck findet, das heißt wie dieser Klassenkampf in der Form eines Kampfes zwischen Käufer und Verkäufer der Ware „Arbeitskraft“ auftritt. Ohne diesen Nachweis haben wir keine Theorie der kapitalistischen Verteilung, wir haben bloß eine Reihe von Behauptungen allgemein-soziologischer Natur, die für die verschiedenartigsten ökonomischen Formen passen würden. Auf diese Weise befindet sich die Tugan-Baranowskysche Theorie in einer wirklich komischen Lage: in der einer „sozialen“ Theorie, die aber keine bestimmten sozialen Verhältnisse erklärt; vielmehr lassen sich, wie gezeigt, in ihren Rahmen ganz verschiedenartige soziale Strukturen einsetzen.
Darin besteht der allgemeine Einwand gegen die Tugan-Baranowskysche Theorie, der natürlich die von dieser Theorie behauptete Wirkung der beiden Faktoren (gesellschaftliche Arbeitsproduktivität und Klassenkampf) nicht leugnet, zu gleicher Zeit aber in genügender Weise dartut, daß die neue Theorie die Besonderheiten der kapitalistischen Verteilung gar nicht zu erklären vermag. [8]
Gehen wir nun von diesen allgemeinen Betrachtungen zu einer mehr konkreten Kritik der Theorie des Lohnes und des Profits über.
Wir haben bereits festgestellt, daß in der Analyse der kapitalistischen Verteilung zuerst in Betracht zu ziehen ist, daß die Arbeitskraft bei kapitalistischer Produktionsweise als eine Ware auftritt. Mit anderen Worten: des Arbeiters „Einkommen“ wird durch einen Tauschakt realisiert, dessen Objekt die einzige bei dem produktionsmittellosen Proletarier vorhandene Ware – seine Arbeitskraft ist. Deshalb erscheint hier „der Anteil des Arbeiters am Produkt“ in der Form des Preises für diese Ware. Wir sahen oben, daß eben dieser Umstand für den Kapitalismus wesentlich und charakteristisch ist. Hieraus ergibt sich der Standpunkt Marx’, der den Anteil des Arbeiters in seiner geschichtlichen Form, der des Preises respektive Wertes der Arbeitskraft betrachtet. Aber unser Kritiker ist sehr streng, und die marxistische Theorie erscheint ihm selbstverständlich als mangelhaft, da sie seiner Meinung nach
das Verteilungsproblem als ein allgemeines Wertproblem betrachtet – und auf unlösbare Schwierigkeiten stößt ... Vom Standpunkt der Arbeitswerttheorie, die Marx vertritt, kann man nämlich die Erscheinung des Lohnes nicht erklären. Warum, wenn die Arbeit den Wert schafft, bekommt denn der Arbeiter nicht das ganze von ihm erzeugte Produkt, sondern nur einen Teil? Um dies zu erklären, ist man gezwungen, über die Grenzen der allgemeinen Werttheorie hinauszugehen und soziale Elemente einzuführen, die der Arbeitswerttheorie ebenso wie der Theorie des Grenznutzens durchaus fremd sind. [9]
Herr Tugan stellt somit das folgende Dilemma: entweder „Arbeitswerttheorie“ oder „soziale Elemente“. Aber Marx begnügt sich keineswegs mit einer allgemeinen Problemstellung. Inwiefern er die Arbeitskraft von allen anderen Waren scheidet, insofern spricht er vom „historischen und moralischen“, das heißt sozialen Element. [10] Die Arbeitswerttheorie tritt demnach in gar keinen Konflikt mit den „sozialen Elementen“ im Sinne des Klassenkampfes, vielmehr setzt sie dieselben voraus. Bei Marx wird schon der Tauschakt zwischen Kapitalist und Arbeiter als eine Äußerung des Klassenverhältnisses betrachtet.
Jede dauernde Vermehrung der Bedürfnisse der Arbeiterklasse und daraus folgende Wertzunahme der Arbeitskraft wird lediglich durch den proletarischen Klassenkampf verwirklicht; diese Verwirklichung mit ihren Begleiterscheinungen geht auf folgende Weise vor sich: wenn der erhöhte Arbeitslohn (Resultat eines erfolgreichen Klassenkampfes) ziemlich lang andauert, dann wird die gegebene Arbeitskraft in eine qualitativ andere Arbeitskraft umgewandelt; parallel hiermit kommt noch ein zweiter Prozeß vor: der gegebene Lohn, als Preis der Arbeitskraft, wird zum Wert derselben; das Niveau, um welches die weiteren Lohnschwankungen stattfinden, wird höher. Der erhöhte Wert der Arbeitskraft entspricht also ihrer erhöhten Qualifikation [11] ;inwiefern vergrößerte Gewohnheitsbedürfnisse vorausgesetzt werden, insofern muß die Arbeitskraft einen höheren Wert besitzen, aber damit ist auch eine qualitative Umwandlung dieser Arbeitskraft gegeben: der Prozeß der absoluten Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse, durch den Klassenkampf stimuliert, wird von einer unaufhörlichen Entwicklung des Arbeitsvermögens begleitet.
Außerdem sehen wir,
daß der Kampf um eine Lohnerhöhung nur im Gefolge vorhergegangener Veränderungen ausbricht, daß er die unvermeidliche Frucht vorhergegangener Änderungen der Masse der Produkte, der Produktivkräfte, der Arbeit, des Wertes der Arbeit, des Wertes des Geldes, der Vermehrung oder Verdichtung der aus dem Arbeiter gezogenen Arbeit, der von den Schwankungen der Nachfrage und der Zufuhr bedingten und den verschiedenen Phasen des industriellen Kreises entsprechenden Schwankungen der Marktpreise ... [12]
Wir sehen also, daß die Marsche Lehre nicht bloß die soziale Grundlage kapitalistischer Verteilung aufdeckt (Monopolisierung der Produktionsmittel, die den Arbeiter zwingt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat), sondern uns zeigt, wie dieser Kampf in der Form „Kauf—Verkauf“ seinen Ausdruck findet. Und eben weil bei Marx die Definition des Wertes der Arbeitskraft „ein historisches und moralisches Element enthält“, bleibt der soziale Zusammenhang zwischen dem Einkommen des Kapitalisten und dem des Arbeiters nicht nur unverletzt, sondern dieser Zusammenhang findet eine gehörige Erklärung auf Grund der allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es wird bei Marx gerade der Arbeitslohn, das heißt eine Kategorie der kapitalistischen Wirtschaft, untersucht, während im Gegenteil in der Darstellung Tugan-Baranowskys der Arbeitslohn als der einer beliebigen ausgebeuteten Klasse zukommende „Anteil“ aufgefaßt werden kann. Es folgt daraus, daß für die Erklärung des Arbeitslohns eine allgemeine Werttheorie nicht ausreicht. Man muß unbedingt die ganze Eigenartigkeit der Ware „Arbeitskraft“ in Betracht ziehen, die hauptsächlich darin besteht, daß der Wert dieser Arbeitskraft, selbst wenn wir von den Ursachen absehen, die den Wert aller übrigen Waren verändern, eine Veränderung erleidet, und diese Veränderung wird – von der sozialen Seite betrachtet – durch den Klassenkampf des Proletariats bedingt. Wenn aber eine allgemeine Werttheorie für eine Theorie des Arbeitslohns noch nicht genügend erscheint, so folgt daraus keineswegs, daß die letztere einer werttheoretischen Grundlegung entbehren kann. Vielmehr läßt sich, wie oben festgestellt, keine Arbeitslohntheorie ohne Erfüllung dieser Bedingung aufstellen. Vielleicht ist aber eine Arbeitslohntheorie auch dann unmöglich, wenn man annimmt, dass die Arbeitskraft ein Ware ist und ihr Verkauf dem alle Waren beherrschenden Wertgesetz unterworfen ist? Tugan-Baranowsky vertritt eben diese Ansicht. „Marx’ Versuch,“ schreibt er, „eine Arbeitslohntheorie auf der Grundlage der Arbeitswerttheorie aufzubauen muß als vollkommen mißlungen bezeichnet werden.“ [13] Und dies, glaubt unser Ökonom, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß „die Arbeitskraft" unter die Kategorie der Ware im gewöhnlichen Sinne des Wortes gar nicht passe und deshalb den Gesetzen, die für sämtliche Waren gelten, keineswegs untergeordnet sei. Ihre Produktion sei vor allem kein wirtschaftlicher Prozeß:
„Alle übrigen Waren“, meint Tugan-Baranowsky „sind nichts als Mittel für diese oder jene Zwecke; die Arbeitskraft, obwohl sie für den Kapitalisten ein ebensolches Mittel der Produktion wie alle anderen darstellt, ist doch für den Arbeiter, den Träger und Schöpfer dieser Kraft, kein Mittel, sondern Selbstzweck.“ [14]
Jedoch wird die Tatsache, daß die menschliche Persönlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft kein „Selbstzweck“ ist, durch Lamentationen nicht widerlegt werden können. Hier herrscht „ein Zynismus in den Verhältnissen“ zwischen Kapital und Arbeit; die Arbeitskraft tritt in der Form einer Ware auf, als bestimmtes Produktionsmittel, und der Prozeß der kapitalistischen Produktion selbst in seiner Bewegung und vollem gesellschaftlichen Umfang ist ebenfalls ein eigenartiger Produktions- und Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft, das heißt nicht der Menschen als solcher, sondern als Lohnarbeiter des Kapital [15] , die Eigenartigkeit dieses Produktionsprozesses besteht darin, daß hier keine neue lebendige Arbeit verwertet, sondern vergangene Arbeit, in Gebrauchsprodukten der Arbeiter verkörpert, übertragen wird. In seinem Bestreben, die Methode, die den Arbeitslohn als Preis der Arbeitskraft betrachtet, zu diskreditieren, erklärt Tugan-Baranowsky in bezug auf die Arbeitskraft nicht nur das Gesetz der Produktionskosten, sondern auch das Gesetz von Nachfrage und Angebot als ungültig, was von seinem Standpunkt aus natürlich sehr logisch erscheint, indem er seine eigene Prämisse, die Arbeitskraft sei keine Ware, vorausschickt. Mit der Wirklichkeit läßt sich aber seine Theorie nur sehr schwer in Einklang bringen.
„Wäre“, schreibt Tugan-Baranowsky, „der Preis der Arbeitskraft durch Nachfrage und Angebot bestimmt, so würde die ganze Kampfpraxis der Arbeit und des Kapitals durchaus sinnlos erscheinen ... Die Arbeiterorganisationen sind ja nicht imstande, das allgemeine Angebot von Händen im Lande zu vermindern ...“ [16]
Wird dies zugegeben, dann ist keine Rede mehr vom Gesetz von Nachfrage und Angebot. So ist Herr Tugan-Baranowskys Schlußfolgerung. Sein Irrtum besteht jedoch darin, das er das Gesetz von Nachfrage und Angebot viel zu eng deutet. In der Wirklichkeit besteht ja das eigentliche Ziel der Arbeiterorganisationen darin, daß sie zugunsten der Arbeiter auf das Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot aktiv einzuwirken suchen. Die Organisation der Arbeiter wirkt wie eine Verminderung des Angebots an Arbeitshänden, Desorganisation, im Gegentail als dessen Vergrößerung.
Noch ein Argument gebraucht Tugan-Baranowsky im Zusammenhang mit der oben angeführten Behauptung, daß die Arbeitskraft keine Ware ist:
„Steigt der Preis irgend eines anderen Produktionsmittels,“ lesen wir bei ihm, „da wehrt sich die kapitalistische Welt dagegen, indem sie die Produktion des entsprechenden Produktionsmittels vergrößert ... Wenn aber der Arbeitslohn zugenommen hat, dann ist die kapitalistische Welt nicht imstande, darauf zu antworten, „wie sie auf die Preiszunahme einer beliebigen anderen Ware antwortet.“ [17]
Diese „kapitalistische Welt“ erweist sich nach Tugan-Baranowsky ganz machtlos.
„Es ist richtig,“ sagt er, „dass die Erhöhung des Arbeitslohnes den Fabrikanten veranlassen könnte, neue Maschinen einzuführen und auf diese Weise die Zahl der beschäftigten Arbeiter zu verkürzen; jedoch Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen ist geradezu nicht immer möglich, bloß in einigen Fällen, und dies kommt durchaus nicht regelmäßig vor.“ [18]
Auf diese Weise nimmt Herr Tugan-Baranowsky an (er selbst, der Marx den Vorwurf macht, das soziale Moment der Kraftüberlegenheit der Kapitalisten „übersehen“ zu haben), das Kapital stehe in seinem Kampfe mit der Arbeiterklasse beinahe machtlos da; er meint, es sei „bloß in einigen Fällen“ möglich, die Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen. Indessen ist diese „Möglichkeit“ für den Kapitalisten gar nichts Ungewöhnliches. [19] Gerade umgekehrt. Das Verdrängen des Arbeiters durch die Maschine und die Entstehung einer industriellen Reservearmee hat immer gegolten und gilt auch jetzt als eine unbestreitbare Tatsache der ökonomischen Wirklichkeit. Es ist ein mit der kapitalistischen Produktion notwendig verbundener Prozeß, nicht eine Zufälligkeit, nicht eine Ausnahme, sondern einer ihrer charakteristischsten Züge. Nicht umsonst beunruhigt „das Armuts- und Arbeitslosigkeitsproblem“ sogar die abgestempelten Sozialistenfresser als fortwährende Bedrohung „des sozialen Friedens“.
Nun behauptet aber Herr Tugan-Baranowsky überhaupt, für die Arbeiterschaft habe das Gesetz des Arbeitswertes wie auch das der Produktionskosten keine Geltung.
Diese Behauptung kleidet sich in die Form einer Kritik verschiedener Theorien „des (physiologischen und kulturellen) Minimums der Existenzmittel“, unter ihnen der Marxschen Theorie. Indem Tugan-Baranowsky die letztere als eine Theorie „des kulturellen Minimums“ [20] kritisiert, rückt er gegen sie mit Folgendem Einwand hervor. Diese Theorie, meint er, sei
eine gänzliche Entstellung der wirklichen Kausalverhältnisse, da der englische Arbeiter einen hohen Lohn bekommt nicht weil er Beefsteak ißt, sondern er ißt Beefsteak, weil er einen hohen Lohn bekommt ... Die Erhöhung des „standard of life“ des englischen Arbeiters ist nicht als eine Folge des erhöhten Arbeitslohnes zu betrachten, sondern umgekehrt: die Lohnzunahme ist ein Resultat des erhöhten standard of life. Behaupten, daß die Größe des Arbeitslohnes durch die erforderlichen Produktionskosten der Arbeitskraft bestimmt wird, heißt gar nichts gesagt zu haben, da diese Produktionskosten selbst höchst verschieden sind, indem sie vom standard of life der Arbeiter abhängen, welcher seinerseits durch den Arbeitslohn bestimmt wird. Die Erklärung bewegt sich offenbar in einem Kreise. [21]
Zunächst ist von diesem Standpunkt aus die Erklärung Tugan-Baranowskys selbst nichts als ein „circulus vitiosus“ (ein fehlerhafter Kreis). Wir wissen ja, daß das Niveau des Arbeitslohnes, seiner Meinung nach, im Gegensatz zu den Preisen der übrigen Waren, auf Grund ganz anderer Faktoren festgesetzt wird, nämlich auf Grund der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und des durch Klassenkampf bestimmten Anteiles der Arbeiterklasse. Aber erstens ist die Produktivität der Arbeit selbst in sehr hohem Grade von der Lohnhöhe abhängig, da das Wachsen des Arbeitslohnes Kapitalisten zwingt, die Produktionstechnik zu verbessern und damit die Arbeitsproduktivität zu erhöhen; zweitens ist die Stufe des Klassenkampfes des Proletariats von seinem Bedürfniszustand abhängig. (Es ist bekannt, wie Lassalle über „die verfluchte Bedürfnislosigkeit“ klagte.) Er herrscht also bei Herrn Tugan-Baranowsky in der Tat die „Bewegung im Kreise“, die er Märx zum Vorwurf macht. Doch kehren wir zu Marx’ Theorie selbst zurück. Zwei Umstände werden von Tugan-Baranowsky außer acht gelassen. Der erste, daß Marx die Wertkategorie der Arbeitskraft geschichtlich betrachtet:
Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andererseits ist der Umfang sogenannter notwendiger Bedürfnisse wie die Art ihrer Befriedigung selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter anderem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. [22]
Wir sehen also, daß die „Lebensansprüche“ und „Gewohnheiten“ ein historisches Prius sind, und dieser Umstand allein zerstört schon den fehlerhaften Kreis.
„Warum“, fragt aber Tugan-Baranowsky weiter, „ist das kulturelle Existenzminimum in Amerika höher als in England usw.? Eben darin besteht die Frage, welche die genannte Doktrin ohne Antwort läßt. [23]
Jedoch die „genannte Doktrin“ beantwortet auch dieses: wenn wir die Endursachen bestimmen wollen, so ist die in Frage stehende Erscheinung in letzter Linie auf die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte zurückführbar. Allein uns interessiert hier die andere Seite, und zwar erscheint es als notwendig, die Wertgröße der Arbeitskraft mit deren Charaktereigenschaften in Verbindung zu setzen. Die Antwort ist dann auch für den, der nicht Fachmann ist, ganz klar: der Arbeitslohn (genauer: Wert der Arbeitskraft) ist in Amerika höher als in England, weil die amerikanische und die englische Arbeitskraft zwei qualitativ verschiedene Größen darstellen: es sind zwei verschiedene Waren, die ungleichen Gebrauchswert besitzen und die, wenn sie reproduziert werden, ungleiche Quantität gesellschaftlich notwendiger Arbeit erfordern. Die vom Amerikaner geleistete Arbeit ist eine kompliziertere, und um reproduziert zu werden, braucht seine Arbeitskraft eine größere Quantität und größere Mannigfaltigkeit der Gebrauchsmittel, so daß die Reproduktionsmittel der Arbeitskraft in Amerika einen höheren Wert erreichen als in England. Hier haben wir den zweiten Umstand, den Tugan-Baranowsky übersehen hat, nämlich den Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen (und folglich dem Werte der Arbeitskraft) und der Entwicklungsstufe dieser Arbeitskraft. Wieso es dazu gekommen ist, daß die Arbeitskraft in Amerika so viel wertvoller wurde als in Europa, ist eine von der vorliegenden ganz verschiedene Frage, die ihre Antwort in den konkreten historischen Verhältnissen des jung besiedelten Koloniallandes findet. Diese Erwägungen befreien die Theorie „des kulturellen Minimums“ von dem Vorwurf, „sie sende von Pontius zu Pilatus“.
Die Neue Zeit, Jg. 32 1. Bd. (1913–14), Nr. 23, S. 850–58
Wie aber erklärt nun Tugan-Baranowsky selbst die Höhe des Arbeitslohnes?
Wie oben festgestellt, wird bei ihm die Größe des Arbeitslohnes durch 1. die gesellschaftliche Produktivität der Arbeit und 2. den Anteil der Arbeiterklasse am gemeinsamen gesellschaftlichen Produkt bestimmt. Die erste Behauptung ist nicht zu bestreiten, die zweite klingt jedoch etwas sonderbar. Man vergesse nicht, daß die Rechnung in Produkten geführt wird. Nehmen wir nun die kapitalistische Wirtschaft im ganzen, worauf Herr Tugan-Baranowsky selbst besteht, so wird das gesellschaftliche Einkommen in einer Summe qualitativ verschiedener Produkte ausgedrückt. Außerdem bemerke man, daß die Konsumtion der Arbeiter der Qualität des Verbrauchten nach von der der Kapitalisten ganz verschieden ist. Schematisch ließe sich die Sache folgendermaßen darstellen (wir sehen der Einfachheit halber von „dem Anteil“ der Produktionsmittel ab):
Das gesamte gesellschaftliche Produkt umfasse 4 Stück Seide + 5 Tonnen Roggen, davon verbrauchen die Arbeiter 4 Tonnen Roggen, die Kapitalisten 4 Stück Seide + 1 Tonne Roggen.
Nun ist zu bemerken, daß „der Anteil des gesellschaftlichen Einkommens“, den die Arbeiter als Lohn bekommen, ¼ oder ½, ⅔ ... x/n dieses Einkommens, das heißt einen gewissen Bruchteil des gesamten gesellschaftlichen Einkommens als Einheit darstellt. Wie soll man nun die 4 Tonnen Roggen als Teil des ganzen Komplexes (4 Stück Seide + 5 Tonnen Roggen) ausdrücken? Es liegt auf der Hand, daß dies unmöglich ist als dem einfachen Grunde, weil hier inkommensurable, qualitativ verschiedene Dinge vorliegen.
Tugan-Baranowsky kann also mit Hilfe seiner scharfsinnigen Theorie nur feststellen, daß, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, die Arbeiter 4 Tonnen Roggen erhalten; aber er kann nicht einmal angeben, welchen „Anteil“ an dem Gesamtprodukt diese 4 Tonnen Roggen darstellen, da man unmöglich 5 Tonnen Roggen + 4 Stück Seide durch 4 Tonnen Roggen dividieren kann.
Nur mit Tauschwerten können wir solche Teilungsoperationen vornehmen. [24] Eben dieses hilflose Verwechseln des Wertes und des Produktes gilt bei Herrn Tugan-Baranowsky als das letzte Wort der kritisierenden Weisheit, als „eine Reinigung“ von Marx!
Seine Formulierung der Theorie des Arbeitslohnes gibt also keine Erklärung des Lohnes als des „Anteils“ des Lohnarbeiters, sie läuft vielmehr auf eine reine Tautologie hinaus, auf eine Wiederholung der Frage mit anderen Worten. Und das ist eben jener neuen großartigen Methode gedankt, in der Ökonomie vom Wert abzusehen.
Eine konsequente Anwendung dieser Methode finden wir auch in der Theorie des Profits.
„Der Profit“, sagt Herr Tugan-Baranowsky, „ist etwas dem Produktionsprozeß selbst Fremdartiges, eine Tatsache sozialen Ursprunges, die mit einer bestimmten Verteilung des Vermögens in der Gesellschaft verbunden ist.“ [25]
Wenn es sich in der Untersuchung des Arbeitslohnes herausgestellt hat, daß man den Anteil der Arbeiter nicht als Anteil im Produkt betrachten kann, so ist es noch augenscheinlicher in der Analyse des Profits zu bemerken. Der Kapitalist, dieses nach Marx’ Ausdruck „personifizierte Kapital“, begründet alle seine Berechnungen auf Operationen mit Tauschwerten. Inwiefern die kapitalistische Produktion eine Produktion für Produktion ist (was Tugan-Baranowsky selbst mit Nachdruck betont), insofern ist sie vor allem eine Wertproduktion, und ihr Hebel ist das Streben, Werte, Kapital zu akkumulieren. Das Verstehen dieses Akkumulationsprozesses ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Begreifen der Struktur der gesamten kapitalistischen Gesellschaft. War es deshalb in der Untersuchung des Arbeitslohnes eine Absurdität, vom Preise zu abstrahieren, so ist es um so mehr absurd bei der Erklärung des Profits.
Herr Tugan-Baranowsky läßt sich aber durch diesen Einwand gar nicht abschrecken und beantwortet ihn in einem Artikel in Rußkaja Mißl in folgender Weise:
Es ist möglich (das Abstrahieren vom Preise. N. B.) und notwendig (sic!), weil der Profit, eine charakteristische und normale Kategorie der kapitalistischen Wirtschaft, nicht auf dem Markte, im Gebiet des Umtausches entsteht, sondern jenseits des Marktes, in der Sphäre der Produktion.[26]
Diese Behauptung Tugan-Baranowskys klingt zwar höchst marxistisch, sie ist aber in Wirklichkeit durchaus falsch. In der „Produktionssphäre“ entsteht der Profit nur potenziell (nach Marx wird in der Produktion ein Mehrwert gebildet, der nur im Zirkulationsprozeß, folglich auf Grund von Marktverhältnissen, als Profit realisiert wird). Es ist merkwürdig, daß Tugan-Baranowsky hier in einem krassen Widerspruch mit... sich selbst gerät. Als er die Erscheinungen der Verteilung von denen des Tausches abgrenzen wollte, schrieb er: „Haben wir von den Erscheinungen der Produktion und des Tausches gesprochen, so meinten wir den Prozeß selbst; unter den Erscheinungen der Verteilung aber – verstanden wir das endgültige Resultat dieses Prozesses in bezug auf dessen Teilnehmer ...“ Der Profit ist eine Tatsache der Verteilung; folglich sollte er nach Tugan-Baranowsky als Ergebnis des Produktions- und Tauschprozesses entstehen. Nun will aber Tugan-Baranowsky beweisen, daß es „möglich und notwendig ist“, vom Werte zu abstrahieren, und so gibt er augenblicklich seine Grundbetrachtung der Verteilung als „Resultat des Prozesses“ auf und behauptet eifrig das Gegenteil: der Profit entsteht jetzt nicht am Ende, sondern am Anfang dieses Prozesses. Dieses Jonglieren mit Begriffen ist manchmal sehr bequem, spricht aber nicht für den theoretischen Wert der neuen „Lehre vom Profit“. In demselben Artikel, etwas weiter, lehrt Herr Tugan-Baranowsky, daß „der kapitalistische Profit auch in Formen, die mit Warenwert durchaus nicht verbunden sind, auftreten kann. Nehmen wir zum Beispiel eine Anleihe in Gebrauchsgegenständen usw.“ (S. 108). Ferner wird ein ähnliches Beispiel gebracht: ein Farmer, der die Arbeiter in natura bezahlt. „Was hat denn hier die Werttheorie zu tun?“ ruft Herr Tugan-Baranowsky aus. Der geehrte Professor vergißt wieder seine (durchaus richtigen) Auseinandersetzungen über Profit als „eine charakteristische und normale Kategorie der kapitalistischen Wirtschaft“, sonst hätte er nicht von einer Entlehnung von Gebrauchsgegenständen sprechen können. „Man wird mir vielleicht einwen,“ setzt der Verfasser fort, „daß ich in allen diesen Fällen Naturalwirtschaft voraussetze, während die kapitalistische Wirtschaft eine Tauschwirtschaft ist. Das ich sehr richtig. Aber richtig ist auch, daß auch der Tauschwirtschaft nicht der Umtausch, sondern die Produktion zugrunde liegt.“ (Daselbst.) Man könnte hierzu noch ein „aber“ hinzufügen: „richtig ist auch, daß jeder denkbaren Wirtschaft – auch einer auf dem Mars – die Produktion zugrunde liegt“. Es handelt sich hier aber nicht darum, sondern um die Tatsache, daß die Aneignung von bloßem Mehrprodukt für den Kapitalismus gar nicht charakteristisch ist, und infolgedessen bietet die Tugan-Baranowskysche Erklärung gar keine Erklärung der kapitalistischen Verhältnisse.
Wie entsteht also der Profit, als Wertzuwachs betrachtet?
Indem er die Kritik Böhm-Bawerks an [Johann Heinrich von] Thünen [27] analysiert, findet Tugan-Baranowsky, daß Thünens Erklärungen vollkommen genügend sind. Seine Auseinandersetzungen (die mit den Thünenschen übereinstimmen) lassen sich in folgender Weise wiedergeben: Es sei, bevor irgend eine entsprechende Maschine eingeführt wurde, die Quantität von Garn gleich A; die nach dem Einführen der Maschine hinzugefügte Quantität von Garn sei gleich a; dann ist die gesamte Summe Garn gleich A + a. Fügen wir die Arbeitsinstrumente (im gegebenen Falle unsere Maschine) hinzu und bezeichnen wir sie durch b, so erhalten wir für das gesamte gesellschaftliche Produkt den folgenden Ausdruck: A + a + b; somit, meint Tugan-Baranowsky, ist die Zunahme des gesellschaftlichen Produktes gleich a + b, das heißt um diese Summe sind die gesellschaftlichen Einnahmen vergrößert worden; die Vergrößerung der Ausgaben aber ich gleich b; da nun a + b > b (eine Summe ist stets größer als einer ihrer Summanden), so folgt daraus, daß „auch der Wert der Zunahme des gesellschaftlichen Produktes, die durch das Einführen neuer Produktionsmittel hervorgerufen wurde, den Wert dieser Produktionsmittel übersteigen muß“.
Es ist augenscheinlich, daß die Spinnmaschine plus die (mit Hilfe dieser Maschine erzeugte) zusätzliche Quantität von Garn dem Werte nach etwas Größeres darstellt als diese Maschine selbst, denn die zusätzliche Quantität von Garn besitzt auf jeden Fall einen gewissen Wert. (Daselbst) [28]
Betrachten wir aber diese Schlußfolgerungen näher, so bemerken wir, daß bei Tugan-Baranowsky der Wert unerwarteterweise als Deus ex machina, als Nothelfer erscheint. Die Ungleichung a + b > b ist nur dann einleuchtend, wenn man von Maschine und Garn als bestimmten physischen Körpern spricht; hier ist wirklich die Maschine plus irgendwelche Quantität von Garn mehr als die Maschine ohne Garn; vom Standpunkt der Wertverhältnisse aber ist die oben angegebene Ungleichung noch zu beweisen, denn eine Gleichheit physischer Gegenstände ist keineswegs Gleichheit ihrer Werte (hier werden zwei verschiedene chronologische Momente in Betracht gezogen, wo dieselben Gebrauchswerte bei verschiedenartigen Produktionsbedingungen erzeugt sind; im zweiten Fall haben wir eine verbesserte Technik). Herr Tugan-Baranowsky versucht auch diesen Einwand zu widerlegen.
„Freilich,“ sagt er in seinem Artikel, „die soziale Verteilungstheorie, wenn wir Maschinen plus Garn zu verschiedenen Zeitmomenten vergleichen und dabei voraussetzen, daß der Wert der Maschinen in dieser Zeit eine Änderung erlitten hat, so könnte sich herausstellen, däß der Wert der Maschinen höher wäre als der Wert der Summe: Maschinen und Garn. Eine derartige Voraussetzung ist aber methodologisch unzulässig. Im Text wird ein normaler Fall der Reproduktion des gesellschaftlichen Produktes unter neuen technischen Bedingungen erörtert, keineswegs aber, ein Fall der Schwankung von Warenpreisen.“ [29]
Mit dieser Anmerkung gibt Herr Tugan-Baranowsky seinen Standpunkt gänzlich auf; denn gerade die neuen technischen Bedingungen rufen diese „Preisschwankungen" hervor. Herr Struve bemerkte darüber sehr boshaft: „Keine Werttheorie, abgesehen von der ausgesprochen metaphysischen Arbeitstheorie [30], kann von den zufälligen Preisschwankungen absehen ... Diese Wortzusammensetzung (zufällige Preisschwankungen) ist eine doppelte Sinnlosigkeit unter der Voraussetzung neuer technischer Bedingungen, welche die Quantität des Produktes vergrößern, denn die Quantität des Produktes ist, den Grundprinzipien der Grenznutzenlehre zufolge, für die Wertschätzung wesentlich.“ [31] Hier hat einmal Herr Struve recht. Jedoch selbst wenn in diesem Falle die Wahrheit auf der Seite Tugan-Baranowskys wäre, so wäre damit seine Lage gar nicht gerettet. In der Tat, ehe er noch zur Ungleichung a + b > b gelangte, mußte er, um die Vermehrung der „Einnahmen“ zu berechnen, von (A + a + b) A substrahieren (die erstere Größe stellt das gesamte gesellschaftliche Produkt nach der Einführung von Maschinen dar, die zweite das gesellschaftliche Produkt vor der Einführung von Maschinen). Im Resultat der Substraktion bekommt er als Differenz a + b, was aber vom Standpunkt der Wertrechnung von vornherein nicht richtig ist, da das A im Minuendus (A + a + b) kleiner ist als der Substrahendus A; denn das Wachsen der Arbeitsproduktivität (oder vom Standpunkt der Grenznutzentheorie die Vermehrung des Produktes) in der Produktion von Garn selbst hat den Tauschwert desselben Gebrauchswertes A sinken lassen. Also auch wenn wir den Wert der Maschinen unverändert lassen, wird es Herrn Tugan-Baranowsky doch nicht gelingen, den Zuwachs von Wert, das heißt den Profit zu erklären. [32]
Die „Fehlerhaftigkeit“ von Böhm-Bawerks Kritik an Thünen erklärt Tugan-Baranowsky damit, daß Böhm-Bawerk den Profit unter dem Gesichtswinkel der Privatwirtschaft betrachtet; in der modernen singulären Produktion, meint Herr Tugan-Baranowsky, mit hochentwickelter Arbeitsteilung ist das Produkt von den verwendeten Produktionsmitteln verschieden. Nehmen wir umgekehrt die ganze gesellschaftliche Wirtschaft, die Gesamtheit sämtlicher Produktionsmittel und das gesamte gesellschaftliche Produkt, so werden Ausgaben und Einnahmen, der Qualität nach, in denselben, nur der Quantität nach, in verschiedenen Produkten ihren Ausdruck finden.
Jedoch auch diese Behauptung Tugan-Baranowskys ist falsch. Gewöhnlich kommt es vor, daß ein Produkt, wenn wir einen Übergang zu neuer Technik voraussetzen, qualitativ nicht dasselbe bleibt; es wird besonders klar, wenn wir eine verhältnismäßig lange Zwischenzeit annehmen. Außerdem setzt dieses Argument Tugan-Baranowskys einen stationären Zustand der gesellschaftlichen Bedürfnisse voraus; eine derartige Annahme ist aber grundlos und steht mit der Wirklichkeit geradezu im Widerspruch: der Prozeß des Wachstums der kapitalistischen Produktion findet unter anderem auch in
rascher Zunahme der Mannigfaltigkeit in Gebrauchswerten seinen Ausdruck. [33]
Doch folgen wir weiter dem verehrten Herrn Professor.
„Inwiefern“, schreibt Herr Tugan-Baranowsky, „man die kapitalistische Produktion im Sinne hat, stellt sich der Profit (wir möchten gerne wissen, wo es einen Profit außerhalb der kapitalistischen Produktion gibt! N. B.) als ein Einkommen dar, welches mit dem Arbeitslohn korrelativ ist ... Deshalb müssen dieselben objektiven Faktoren, welche die Höhe des Arbeitslohnes festsetzen, auch die Summe des den Kapitalisten zukommenden Profits fixieren.“ (S. 489)
Wir haben bereits oben die Absurdität des Begriffes „Anteil“ der Arbeiter respektive der Kapitalisten klargelegt und wollen darauf nicht mehr zurückkommen. Wir möchten aber hier auf die folgende „ungemein wichtige“ These, mit der Herr Tugan-Baranowsky hervortritt und auf die er sehr stolz ist, die Aufmerksamkeit lenken.
„Der Profit und der Arbeitslohn“, lesen wir auf Seite 440 der Grundlagen der politischen Ökonomie, „können nicht nur ihren absoluten Größen nach, als das Ganze der Produkte, die der kapitalistischen (?) und Arbeiterklasse zukommen, sondern auch als Anteile am gesellschaftlichen Produkt gleichzeitig in die Höhe gehen.“ (Von Tugan-Baranowsky unterstrichen. N. B.) „Für die moderne Nationalökonomie,“ setzt Herr Tugan-Baranowsky fort, „die in dieser Hinsicht Ricardo nicht überholt hat, muß die gleichzeitige Erhöhung der Anteile der Arbeiter und Kapitalisten am gesellschaftlichen Produkt ... durchaus unmöglich erscheinen. Diese scheinbare Unmöglichkeit entsteht aber darum, weil die moderne Wissenschaft das gesamte gesellschaftliche Produkt als lediglich aus Gegenständen des persönlichen Gebrauchs bestehend auffaßt.“ [34]
In der Wirklichkeit aber, meint Herr Tugan-Baranowsky, findet folgendes statt: Das gesellschaftliche Produkt besteht aus zwei Teilen, von denen der eine zwischen den gesellschaftlichen Klassen verteilt, der andere auf die Wiederherstellung der Produktionsmittel verwendet wird und keiner gesellschaftlichen Klasse als Einkommen zufließt.
„Lassen wir nicht außer acht,“ sagt er, „daß der Wert des gesamten gesellschaftlichen Einkommens den Wert des ganzen gesellschaftlichen Produktes niemals erreicht, so wird uns die Möglichkeit des gleichzeitigen Steigens sowohl des Profits als auch des Arbeitslohnes als Anteile am gesellschaftlichen Produkt begreiflich erscheinen. (S. 441) ... Die gesamte Summe des gesellschaftlichen Produktes wächst; dieses überschüssige Produkt vergrößert in entsprechender Weise die gesamte Summe des gesellschaftlichen Einkommens, und dank diesem können sämtliche gesellschaftliche Einkommen gleichzeitig wachsen auf Kosten der Verkürzung des Anteils der Produktionsmittel. (S. 441; von uns unterstrichen. N. B.)
Indem wir die sonderbar wechselnde Terminologie von Tugan-Baranowsky (bald Produkt, bald Wert) beiseite lassen; möchten wir diejenige graphische Darstellung wiedergeben, die Herr Tugan-Baranowsky benützt, um seine eben dargestellte These zu erläutern. Es seien zwei Kreise gegeben, „welche die Produkte derselben Quantität von gesellschaftlicher Arbeit unter verschiedenen Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion darstellen sollen“.
Das Wachsen der Arbeitsproduktivität hat die Verringerung der gesellschaftlichen Ausgaben für die Wiederherstellung der Produktionsmittel zur Folge, der schwarze Teil des Kreises nimmt ab, und dementsprechend nimmt der weiße Teil zu. Daraus ergibt sich, nach Tugan-Baranowsky, die Möglichkeit eines gleichzeitigen Steigens des Profits und Arbeitslohnes als Anteile am gesellschaftlichen Produkt.
Darin besteht die überzeugende Argumentation Tugan-Baranowsky aber nur für den ersten Anblick, denn dem eigentlichen Inhalt nach beruhen die Behauptungen des Verfassers auf demselben Irrtum, welcher der „Entdeckung“ der „Hauptantinomie der Arbeitswerttheorie“, die von Herrn Struve gemacht wurde, zugrunde liegt. [35]
Herr Tugan-Baranowsky behauptet nämlich, die Quantität der Arbeit, die für die Produktion der Produktionsmittel verwendet wird, falle im Verhältnis zur Quantität der Arbeit, die für die Produktion des gesamten gesellschaftlichen Produktes verwendet wird. In dieser Tatsache findet seiner Ansicht nach das Wachsen der Arbeitsproduktivität seinen Ausdruck.
Um diese Frage klarzumachen, wollen wir uns der mathematischen Formulierung bedienen. Da hier von Arbeitswerten die Rede ist, so können wir die Marxsche Terminologie anwenden. Es sei also mit c das konstante Kapital (die Produktionsmittel), mit v das variable Kapital (die Gebrauchsgegenstände der Arbeiter), mit M der Mehrwert bezeichnet. Herr Tugan-Baranowsky behauptet dann, das Verhältnis c / (c + v + M) müsse mit dem Wachsen der Arbeitsproduktivität fallen, oder anders ausgedrückt (c + v + M) / c müsse zunehmen.
Es ist jedoch nicht schwer, gerade das Gegenteil zu beweisen, nämlich daß die Größe (c + v + M) / c mit dem Wachsen der Produktivkräfte fällt. Dazu wollen wir unsere Formel in (c / c) + (v + M / c) zerlegen. Indem wir diese Summe näher betrachten, kommen wir zum Schlusse, daß der erste Summand eine konstante Größe gleich eins (c / c = 1) ist; der zweite stellt das Verhältnis der Größe der lebendigen Arbeit zu der toten Arbeit dar. Der Wachstumsprozeß der Arbeitsproduktivität äußert sich aber gerade in relativer Abnahme der Größe von lebendiger Arbeit: indem man auf die Produktion der Produktionsmittel verhältnismäßig mehr, auf die unmittelbare Produktion der Gebrauchsgegenstände verhältnismäßig weniger Arbeit verbraucht, ist es möglich, eine ungeheure Vermehrung der letzteren zu erzielen.
Also der Bruch (v + M) / c wird kleiner und infolgedessen auch der ganze Ausdruck (c + v + M) / c. Ein alter, schon öfters aufgeklärter Irrtum, die Verwechslung des Produktes mit seinem Werte (ein Irrtum, welchen Herr Tugan-Baranowsky, wie wir gesehen, zum Prinzip erhoben hat), hat unseren Verfasser zu seiner fehlerhaften, aber pompös verkündigten Entdeckung verleitet.
Derselbe „prinzipielle“ Wirrwarr brachte auch Herrn Tugan-Baranowsky zu einer glänzenden Vollendung seiner Profittheorie, zu jenen staunenswerten Ausdruck „des Kapitalzinses“ der ihn mit Gemütsruhe die Summe der verschiedenartigsten Dinge (etwa Leinwand, Weizen, Seide, Wurst usw.) dividieren läßt durch die Summe anderer verschiedenartiger Dinge (etwa Spinnmaschinen, Steinkohle, Hochöfen usw.). Zu diesem Unsinn mußte der Schöpfer der neuen „sozialen Theorie der Verteilung“ allerdings mit Notwendigkeit kommen, idem er die Produkte selbst statt ihres Wertes in Beziehung zueinander setzt. Gerade darin besteht aber keine so stoltz angekündigte neue Methode, deren Einführung Herr Tugan-Baranowsky als „die Reinigung des Marxismus von unwissenschaftlichen Elementen“ bezeichnet.
Das ist also das neue theoretische „Gebäude“ des Herrn Tugan-Baranowsky. Alle „alten“ Elemente, die darin enthalten, sind dem Marxschen System entlehnt, stellen etwas wirklich Wertvolles dar; hingegen alles, was unser scharfsinniger Kritiker als „Reinigung des Marxismus von dessen unwissenschaftlichen Elementen“ bezeichnet, ist durchaus wertlos. Das Bestreben, den Kampf der sozialen Kräfte im Verteilungsprozeß von den Formen dieser Verteilung loszureißen, veranlaßt derartige Schemata, die so inhaltlos sind, daß darin jede beliebige Verteilungsform Platz findet: die Abstraktion vom Wertelement führt unausbleiblich zu einer höchst sinnlosen Methode arithmetischer Operationen mit verschiedenartigen Gegenständen, was eine Reihe durchaus naiver Irrtümer zur Folge hat. Dieselben Operationen mit Gebrauchswerten verdunkeln nicht nur das Verständnis der besonderen spezifischen Formen der Aneignung von Mehrprodukt, die dem Kapitalismus eigen sind, sie lassen auch die Fragen vom Ursprung des Profits, der Akkumulation des Kapitals, der Bewegung der kapitalistischen Wirtschaft im ganzen als unlösbar erscheinen.
Darin besteht das wahrhaft beklagenswerte Resultat der neuen Theorie. Herr Tugan-Baranowsky hebt aber den praktischen Wert seiner Theorie hervor. Indes, obwohl seine Theorie reichlich „Grane von Ethik“ enthält, bietet sie nichts für die Praxis des kämpfenden Proletariats.
1. Michael Tugan-Baranowski, Die soziale Theorie der Verteilung und des Wertes, Berlin : Julius Springer, 1913.
2. Siehe David Ricardo, Grundsätze der politischen Ökonomie, Vorwort.
3. Bemerkenswert ist, daß bereits in der russischen Literatur eine Strömung entstanden ist, die das Aufstellen einer Verteilungstheorie überhaupt als unmöglich erklärt. Eine derartige Meinung vertritt Herr Struve; an ihn knüpft an Herr Schaposchnikoff (siehe seine Wert- und Verteilungstheorie, Moskau 1912, S. II), und denselben wissenschaftlichen Skeptizismus findet man bei Bulgakoff (Philosophie der Wirtschaft, S. 289).
4. Die charakteristischen Merkmale jener gesellschaftlichen Wirtschaft, die aus individuellen Wirtschaften besteht, sind sehr gut von Rodbertus erörtert worden.
5. Siehe Struve, Zur Kritik einiger Grundprobleme der politischen Ökonomie, Zhizn, 1900, III und IV.
6. Dies ist vortrefflich von Marx im Kapitel über „Warenfetischismus“ auseinandergesetzt.
7. In dem Verhältnis zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter wird das Geldverhältnis, das Verhältnis von Käufer und Verkäufer, ein der Produktion selbst immanentes Verhältnis. Dies Verhältnis aber beruht der Grundlage nach auf dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion, nicht dem der Verkehrsweise: dieser entspringt umgekehrt aus jenem. (Das Kapital, 2. Band, S. 93)
8. Schöne Seelen finden sich. Einer der neuesten deutschen „Kritiker des Marxismus“, Schöpfer seiner „eigenen“ Theorie des liberalen Sozialismus, Fr. Oppenheimer, ist in derselben Weise wie sein russischer „Kampfgenosse“ nicht fähig, zu begreifen, daß der Kapitalismus eine verallgemeinerte Form der Warenproduktion ist und daß, um ihn zu verstehen, eine Analyse der Kategorien der Warenproduktion unerläßlich erscheint. Siehe sein Buch Soziale Frage und Sozialismus mit dem Untertitel Eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie. Besonders interessant in dieser Beziehung ist das Kapital Robinson, Kapitalist.
9. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 354.
10. Im Gegensatz zu anderen Waren enthält die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element (Kapital, 1. Band, S. 183 bis 134) ... historisches oder soziales Element, das in den Wert der Arbeit eintritt ... (Lohn, Preis und Profit, S. 43)
11. Dieser Umstand soll beim Erörtern der Arbeitslosenfrage nie außer acht gelassen werden. Sonst wird der Zusammenhang zwischen der Arbeitswerttheorie, auf das Problem der Arbeitskraft angewandt, und der Lehre vom Klassenkampf keine ausreichende Erklärung finden können.
12. Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, S. 41 bis 42.
13. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 854.
14. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, S. 858.
15. Vom gesellschaftlichen Standpunkt ist also die Arbeiterklasse auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses ebensosehr Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument. (Das Kapital, I. Band, S. 536.)
16. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, S. 364.
17. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 1. Auflage, S. 573.
18. A. a. O.: Die Tatsachen zeigen jedenfalls, daß die Arbeiter ein unersetzbares Produktionsmittel für den Fabrikanten darstellen, und in der Regel ist er nicht imstande, auf hoehere Lohnansprüche mit einer Entlassung des bedeutendsten Teiles der Arbeiter und Ersetzung durch Maschinen zu antworten. (Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 366)
19. Siehe N. Schaposchnikoff, Rezension über das Buch Tugan-Baranowskys in der Kritischen Rundschau, September 1909, S. 52.
20. Es ist hier am Platze, folgendes zu bemerken: Nachdem Herr Tugan-Baranowsky das sogenannte „eherne Gesetz des Arbeitslohnes“ dargestellt, sagt er unmittelbar darauf: „Was Marx anbetrifft, so unterliegt es keinem Zweifel daß er den Standpunkt der Lehre vom Minimum der Existenzmittel vertreten hat.“ Es wird also der Eindruck gewonnen, daß Marx ein Verfechter des vielgenannten „Gesetzes“ gewesen sei. Marx hat aber den theoretischen Wert dieses Gesetzes wohl zu würdigen gewußt.
21. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 362.
22. Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, S. 183 bis 184.
23. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 361.
24. Aus demselben Grunde sind die von Tugan-Baranowsky gebrachten, zum Beweis der proportionalen Abhängigkeit zwischen Arbeitsproduktivität und Höhe des Arbeitslohnes dienenden Beispiele als unhaltbar zu bezeichnen. Die beiden Größen sind ja bei ihm in Geld ausgedrückt: wir erfahren zum Beispiel, daß der, durchschnittliche jährliche Verdienst des Fabrikarbeiters in Amerika für die fünfzigjährige Periode (1850 bis 1900) von 1.200 Kronen bis 2.125 Kronen angewachsen ist, während „der Wert“ des jährlichen Produktes, das auf eine Arbeitskraft kommt, von 5.162,50 auf 11.885 Kronen. gestiegen ist. Daraus den Schluß zu ziehen, „sowohl der Arbeitslohn als auch die Arbeitsproduktivität, die letzte jedoch mehr als der erste, haben zugenommen“, ist, wenn man unter Arbeitslohn den reellen Lohn verstehet, nicht statthaft: 1. weil man von der Zunahme des Geldlohnes auf proportionales wie auch auf jegliches Wachsen des reellen Lohnes nicht schließen darf, und 2. läßt sich auf Grund des bloßen Wertes des Produktes über die Arbeitsproduktivität nichts behaupten. Wir haben hier wieder eine kindische Verwechslung von Wert und Produkt.
25. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, 2. Auflage, S. 423.
26. Rußkaja Mißl, Januar 1910, S. 107.
27. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins.
28. Tugan-Baranowsky, Grundlagen der politischen Ökonomie, S. 425.
29. Sozial. Verteilungstheorie, Rußkaja Mißl, S. 112, Anmerkung.
30. Wir wollen hier auf den Tiefsinn nicht eingehen, der bei Herrn Struve selbst in seiner „Kritik“ der Arbeitswerttheorie zutage tritt. Wir werden noch unten ein Beispiel dieses Tiefsinnes sehen.
31. Struve, Tugan-Baranowskys Verteilungstheorie, Rußkaja Mißl, 1911, erster Band.
32. In der zweiten Auflage seiner Grundlagen der politischen Ökonomie, macht Herr Tugan-Baranowsky noch einen Versuch, seinen Standpunkt zu rechtfertigen. „Dieser Einwand“, schreibt er über Struve, „stützt sich auf folgendes Mißverständnis. Ich betrachte den normalen Prozeß gesellschaftlicher Reproduktion unter neuen technischen Bedingungen. Beim Übergang von der Produktion unter alten technischen Bedingungen findet eine Vermehrung des Produktes statt. Später aber ... brauche ich ... keine weitere Vermehrung von Produkten vorauszusetzen. Ich nehme ja einen der späteren Umläufe des gesellschaftlichen Kapitals ... In der Rubrik von Einnahmen haben wir a + b, in der Rubrik von Ausgaben nur b. Vom Standpunkt einer beliebigen Werttheorie aus ... müssen wir den Wert einer Produkteinheit als unveränderlich anerkennen.“ „Es ich sehr möglich,“ fügt Herr Tugan-Baranowsky melancholisch hinzu, „daß diese Erklärung meine Kritiker ebenfalls nicht befriedigen wird. Es ist aber nichts zu machen! Die augenscheinlichsten Wahrheiten können ja auf Unverständnis stoßen.“ (S. 425, Anmerkung.) Alles oben Gesagte wäre ganz richtig, hätte Herr Tugan-Baranowsky wirklich die Umläufe des Kapitals nach der Einführung von Maschinen verglichen. Dann wäre aber gar kein Überschuß von „Einnahmen“ vorhanden. Die Differenz a + b wird ja nach der Substraktion von A aus (A + a + b) erhalten, das heißt durch Vergleich zweier Umläufe, von denen der eine vor, der andere nach der Einführung von Maschinen stattgefunden hat. Dies ist, scheint uns, klar genug.
33. Hierzu läßt sich auch ein allgemeiner Einwand machen. Selbst wenn es Herrn Tugan-Baranowsky gelungen wäre, die Vermehrung von Wert für die gesamte gesellschaftliche Wirtschaft zu beweisen (was ihm aber mißlungen ist), so könnte doch das Problem nicht als gelöst gelten. Wie Böhm-Bawerk sehr richtig gegen Thünen ausführt: nicht immer kann man auf „das Ganze“ sehen; man muß doch auch die Tatsache des individuellen Profits erklären. Die Tatsache des individuellen „Zinsfußes“ wird von Tugan-Baranowsky selbst nicht geleugnet. Es ist aber bei ihm keine Brücke vorhanden zwischen dem gesellschaftlichen Wertzuwachs und dem Wertzuwachs des individuellen Kapitalisten; infolgedessen findet die Tatsache des individuellen Profits überhaupt keine Erklärung.
34. Man könnte glauben, wenn man diese letzten Worte liest, daß der zweite Band des Kapital im Jahre 1912, als die Grundlagen von Tugan-Baranowsky erschienen, noch nicht gedruckt war.
35. Wir geben hier die Formulierung von Struve selbst wieder; das Gesetz vom Fallen der Profitrate (M / c + v) analysierend, stellt Herr Struve folgende „Antinomien“ fest: 1. Das freie Produkt oder das reine Einkommen der Gesellschaft, dessen Größe ein Maß der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit ist, wächst progressiv im Verhältnis zu dem gesamten gesellschaftlichen Kapital. 2. Das Fallen der Profitrate wird durch das progressive Wachsen des konstanten Kapitals bedingt, das heißt durch die Tatsache, welche die technisch-ökonomische Grundlage der Zunahme der Arbeitsproduktivität bildet. (Zhizn, Februar 1900)
Indem Herr Struve diese „Antinomie“ als eine „Absurdität“ bezeichnet, läßt er nur die Absurdität seines Urteilens selbst durchscheinen. Er verwechselt einfach Gebrauchswert mit Tauschwert. M (Mehrwert) fällt im Verhältnis zu c + v als Tauschwert, wächst aber als Gebrauchswert mit ungeheurer Geschwindigkeit.
Allerdings, wenn wir von Gebrauchswerten sprechen, dann ist keine Rede mehr vom Bruche M / (c + v), aber das Wachsen der Produktivkräfte und das Fallen der Profitrate stehen doch zueinander in gar keinem Gegensatz.
Zuletzt aktualisiert am 22. Juni 2020