Cajo Brendel

Rätedemokratie statt Parteidiktatur

Kommunismus als Gegensatz zum Bolschewismus

1992


Veröffentlicht: 1992 (Der Artikel wurde der Zeitschrift "Sklaven" Nr. 4/5, Berlin, 1994 entnommen)
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1.

»Nehmen wir an, daß die zentrale Leitung ... die Produktenmasse nach dem Lebensniveau rechtmäßig verteilen würde, dann bleibt trotz des glatten Ablaufs der Geschäfte die Tatsache bestehen, daß die Produzenten in Wirklichkeit nicht die Verfügung über den Produktionsapparat haben. Es wird nicht ein Apparat von den Produzenten, sondern über ihnen sein. Das kann zu nichts anderem als zu einer heftigen Unterdrückung gegenüber Gruppen führen, die zu dieser Leitung in Widerspruch stehen. Die zentrale ökonomische Macht ist zugleich die politische Macht. Jedes oppositionelle Element, welches die Dinge in politischer oder ökonomischer Hinsicht anders als die zentrale Leitung will, wird mit allen Mitteln des gewaltigen Apparates unterdrückt... So wird aus der Assoziation freier und gleicher Produzenten, die Marx verkündete, ein Zuchthausstaat, wie wir ihn noch nicht kannten.«

Zitiert wurde aus einer Schrift, worin vor etwas mehr als 60 Jahren nachgewiesen wurde, daß jene Produktionsverhältnisse, die sich seit dem Oktober 1917 in Rußland entwickelten, mit Kommunismus, so wie ihn Marx und Engels verstanden, nichts zu tun hatten. Als sie erschien, stand die Terrorwelle der dreißiger Jahre noch bevor. Sie wurde bloß antizipiert. Kein politisches Ereignis, wie zum Beispiel die spätere Schrekkensherrschaft, hatte ihre Kritik an der Sowjetgesellschaft mit veranlaßt, sondern eine ökonomische Analyse. Auf ihrer Basis wurde der sich damals breitmachende Stalinismus als der politische Ausdruck eines auf staatskapitalistischer Ausbeutung beruhenden Wirtschaftssystems betrachtet. Und nicht nur der Stalinismus allein!

Die Schrift war eine Kollektivarbeit. Ihre Verfasser gehörten einer Richtung an, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Gestalt gewann und gekennzeichnet wurde durch eine unerbittliche Kritik sowohl an der Sozialdemokratie wie am Bolschewismus. Außerdem war es eine Richtung, die die täglichen Erfahrungen der Arbeiterschaft derart verarbeitet hatte, daß sie zu neuen Ansichten über den Klassenkampf gekommen war. Demzufolge verstand sie Sozialdemokratie und Bolschewismus als »alte Arbeiterbewegung«, im Gegensatz zu einer »neuen Bewegung der Arbeiter«.

Zu ihren Wortführern gehörten von Anfang an deutsche und holländische Marxisten, die seit dem Beginn ihrer politischen Tätigkeit auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie standen, im Laufe der Jahre ihres unablässigen Kampfes gegen den Reformismus sich aber immer kritischer dieser Bewegung gegenüber verhielten. Die Bekanntesten waren die beiden Holländer Anton Pannekoek (1873-1960) und Herman Gorter (1864-1927) sowie die beiden Deutschen Karl Schröder (1884-1950) und Otto Rühle (1874-1943). Später wurde auch der sehr viel jüngere Paul Mattick (1904-1980) einer ihrer bedeutendsten Theoretiker.

Pannekoek, der kurz nach der Jahrhundertwende mit Betrachtungen über marxistische Philosophie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, war von 1905 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland tätig, erst ein Jahr in Berlin als Lehrer an der Parteischule der SPD, später - nachdem man ihn als Ausländer aus Preußen ausgewiesen hatte - in der Freistadt Bremen. Er gab eine Zeitungskorrespondenz heraus und veröffentliche Artikel in der radikalen Bremer Bürgerzeitung. Hier, in Bremen, war er nicht nur in enger Verbindung mit den sogenannten «Bremer Linken» sondern gleichsam auch Augenzeuge einiger wichtiger spontaner Streiks der Bremer Werftarbeiter. Diese Erfahrungen haben seine Auffassungen über den Klassenkampf und dessen Formen spürbar beeinflußt. Sie haben, neben seiner Interpretation des Marxismus, wohl dazu beigetragen, daß er - wie übrigens gleichzeitig auch Gorter - die bolschewistischen Auffassungen von Organisation, Strategie und Politik frühzeitig verwarf.

Otto Rühle, der sich in der deutschen Arbeiterbewegung nie völlig mit irgendeiner Organisation identifizieren konnte, die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse aber niemals aus den Augen verlor, tat Anfang der zwanziger Jahren das gleiche. Er war vielleicht der erste, der darauf hinwies, daß die proletarische Revolution etwas durchaus anderes sei als eine bürgerliche und somit notwendigerweise andere Organisationsformen aufweisen müsse. Deshalb bekämpfte er den Wahn, wonach die Revolution eine Parteiangelegenheit sei und ihr Sieg ein Parteiziel. Er schrieb: «Die Revolution ist keine Parteisache..., [sondern sie] ist die politische und wirtschaftliche Angelegenheit der ganzen proletarischen Klasse.»

Es sind diese, später präziser ausgearbeiteten Auffassungen, die die sich allmählich abzeichnende Richtung charakterisieren. Rätekommunismus wird sie seit den frühen zwanziger Jahren genannt, weil sie auf Grund der Erfahrungen der russischen und der deutschen Revolution - wie auch immer beider Entwicklung verlief - die Rätedemokratie verteidigte und jede Parteiherrschaft entschieden zurückwies. Außerdem sollte der Name dazu dienen, sie von dem sich ebenfalls als kommunistisch verstehenden Bolschewismus zu unterscheiden. Ihr Rätekommunismus aber war trotzdem anfangs noch keineswegs gleichermaßen ausgebildet wie später. Das läßt sich an ihrem Verhalten zur Organisationsfrage wie an ihrer Deutung der sowjetischen Gesellschaftsordnung nachweisen.

 

2.

Als Gorter in einem berühmten Aufsatz sich kritisch mit Lenin auseinandersetzte, da verstand er den Rätekommunismus, der damals noch nicht namentlich erwähnt wurde, kaum als einen Gegensatz zum Bolschewismus. Im Gegenteil! Gorter betonte sogar, er sei in manchen Dingen völlig mit Lenin einverstanden. Er warf ihm bloß vor, eine grundfalsche Einschätzung des westeuropäischen Kapitalismus, der westeuropäischen Arbeiterklasse und somit der in Westeuropa existierenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zu haben. Seine, Lenins Weisungen und Richtlinien für die westlichen Parteien der inzwischen gegründeten Dritten Internationale seien deshalb falsche Richtlinien, welche diese kommunistischen Parteien nicht befolgen könnten und nach Gorter nicht befolgen sollten.

Gorter blieb einen Schritt hinter Rühle zurück. Dieser hatte zwar, ebenso wie Gorter, noch kein völlig klares Verständnis für den Grundcharakter der russischen Revolution, für das, was sie geschafft hatte und noch schaffen würde, aber er hielt die Parteien der Dritten Internationale schon nicht mehr für kommunistisch. Es vergingen aber nur wenige Jahre, da setzte sich der Rätekommunismus viel deutlicher gegen den Bolschewismus ab. Der sogenannte kommunistische oder sozialistische Oktober, so sein Standpunkt, hat mit dem Zarismus und den feudalen Verhältnissen aufgeräumt, und damit für kapitalistische Verhältnisse den Weg frei gemacht.

Die Rätekommunisten haben sich mit dieser bloßen Feststellung nicht zufrieden gegeben. Sie haben darauf hingewiesen, daß eine Produktionsweise, die, wie die russische, die Lohnarbeit voraussetzt, d.h. die Arbeitskraft als eine Ware und den Wert dieser Ware als Grundlage aller Wirtschaftsprozesse, zu nichts anderem führt als zu Mehrwerterzeugung und Ausbeutung der Arbeiterschaft. Sie betonten, daß es nichts ausmacht, ob der produzierte Mehrwert zum privaten Kapitalisten oder zum Staat als Eigentümer der nationalisierten Produktionsmittel fließt und daß Marx schon erläuterte, daß deren Verstaatlichung keinen Sozialismus bedeutet.

Die Rätekommunisten haben mehr getan. In der eingangs zitierten Schrift haben sie aufgezeigt, daß im Staatskapitalismus Rußlands – den Lenin einmal so charakterisierte, daß die Maschine nicht dorthin gehe, wohin sie der Führer lenke und daß nicht die Bolschewisten die [Wirtschafts-] Maschine führen, sondern umgekehrt die Maschine die Bolschewisten – die Produktion denselben Gesetzen gehorcht wie im Fall der klassischen kapitalistischen Privatwirtschaft.

Aufhebung der Ausbeutung, so heißt es dort (mit einem Hinweis auf Marxens Randglossen zum Gothaer Programm und mit einem Zitat aus Engels Anti-Dühring), kann es nur geben, wenn die Lohnarbeit aufgehoben wird, d.h. wenn nicht länger die Menge der für einen Produzenten benötigten Güter durch den Wert seiner Arbeitskraft bestimmt wird, sondern durch seine Arbeit, besser gesagt: durch die verwendete Arbeitszeit. Um von einer Assoziation freier und gleicher Produzenten sprechen zu können, muß die Arbeitszeit die Recheneinheit der Produktion bilden.

Eine ausführliche Wiedergabe der ökonomischen Auseinandersetzungen und Erläuterungen in der genannten Schrift ist hier nicht möglich. Worauf es ankommt: ihre rätekommunistischen Verfasser haben zweierlei geleistet. Sie erklärten, mit dem Zeigefinger Richtung Moskau, was der Kommunismus nicht ist und prüften zugleich die Voraussetzungen und Bedingungen einer wirklichen kommunistischen Gesellschaft. Damit wurde der Gegensatz zwischen Rätekommunismus und Bolschewismus klarer als vorher herausgearbeitet.

 

3.

Aus dem bisher Gesagten geht logischerweise hervor, daß der Rätekommunismus keine Spezialkritik am Stalinismus darstellt, sondern eine Kritik am Bolschewismus schlechthin. Die Rätekommunisten verstehen den Stalinismus nicht als eine Art «Konterrevolution», welche die Oktoberrevolution ihrer Früchte beraubt hätte. Für sie ist der Stalinismus eben eine Frucht jener Revolution, die dem Kapitalismus in Rußland endgültig die Tore geöffnet hat. Lenin durfte in seinem Testament vor ihm warnen, Stalin war nichtsdestoweniger sein Erbe, der Stalinismus eine Erbschaft des Bolschewismus und der bolschewistischen Revolution.

Am Bolschewismus und an dieser Revolution hatten die Rätekommunisten wichtige Phänomene kritisiert. Allmählich jedoch, in dem Maße, wie sich der Grundcharakter dieser Umwälzung deutlicher erkennen ließ, mündeten diese unterschiedlichen Kritiken in eine, die ihre respektiven Zusammenhänge aufdeckte. Da war nicht länger von «falschen» Einschätzungen, von einer «untauglichen» Organisation oder von einer «verderblichen» Politik die Rede. Da wurden alle Erscheinungen des Bolschewismus und alle Stufen seiner Entwicklung als der begreifliche Ausfluß, als die logische Konsequenz seiner gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion verstanden.

Diese theoretische Entwicklung aber ging langsam vor sich, analog den gesellschaftlichen Entwicklungen, in deren Verlauf sich die rätekommunistischen Ansichten und die rätekommunistische Praxis wandelten. Der Rätekommunismus, der die in der russischen wie in der deutschen Revolution gebildeten Räte als Organe der proletarischen Machtausübung begrüßt und theoretisch erfaßt hatte, trat - paradox - anfangs als Partei auf, ein Auftreten, das besonders Schröder äußerst aktiv initiierte. Es entstand die K.A.P.D. in Deutschland, die K.A.P.N. in den Niederlanden, die sich weder an die Wahlen für das bürgerliche Parlament beteiligen noch Politik treiben wollten.

Rühle, der - wie wir gesehen haben - 1920 die Revolution «keine Parteisache» nannte und eigentlich bis ins hohe Alter in die Partei «im Grunde nicht eine Organisationsform des Proletariats, sondern der Bourgeoisie» erblickte, definierte trotzdem – aus taktischen Üerlegungen – die K.A.P.D. und ihre holländische Schwesterpartei als «neue kommunistische Partei, die keine Partei mehr ist». So verstand sie auch Gorter, genauso verstanden die beiden Parteien sich selbst.

Vier Jahre später, 1924, äußerte Rühle sich ganz anders: «Eine Partei mit revolutionärem Charakter im proletarischen Sinne», schrieb er, «ist ein Unding. Sie kann nur revolutionären Charakter im bürgerlichen Sinne haben und da nur an der Wende zwischen Feudalismus und Kapitalismus». Aus den hier erwähnten Gründen sind die «Undinge» denn auch innerhalb eines knappen Jahrzehnts von der gesellschaftlichen Bühne verschwunden. Die Idee aber flackerte bisweilen – aus bestimmten, hier zu vernachlässigen Ursachen – wieder auf. So zum Beispiel in Fünf Thesen über den Klassenkampf, einem Text, den Pannekoek 1946 verfaßte. Dann starb die Idee für immer.

Mittlerweile entwuchs der Rätekommunismus seiner Kindheit. Die Tatsache, daß er die russische Revolution als eine bürgerliche, die in Rußland herrschenden Produktionsverhältnisse als staatskapitalistisch verstand, erweiterte seinen Blick für Dinge, von denen einige erst heute reif für nähere Untersuchungen sind. Andere, schon früher analysierte Phänomene erschienen später in einem helleren Licht.

 

4.

Die bedeutungsvollste Leistung in dieser Hinsicht lieferte 1938 Pannekoek, als er im Rahmen einer Abhandlung über Lenins Philosophie den ganzen Bolschewismus nochmals einer näheren und gründlichen Betrachtung unterzog.

Pannekoek hat in dieser Schrift nicht nur nachgewiesen, daß der Marxismus von Lenin eine Legende ist, das sein angeblicher Marxismus sich im Widerspruch mit dem wirklichen Marxismus befindet, er hat zugleich die Ursache dafür bloßgestellt. «In Rußland war der [auf der Tagesordnung stehende] Kampf gegen den Zarismus im hohen Maß gleichartig mit den früheren Kämpfen gegen den Absolutismus in Europa. Auch in Rußland waren Kirche und Religion die stärksten Stützen des Regierungssystems... So war der Kampf gegen die Religion hier eine gesellschaftliche Notwendigkeit.» Daraus ergibt sich, daß, was Lenin in Bereich der Philosophie für historisch-materialistische Auffassungen hielt, sich praktisch kaum unterschied vom französischen bürgerlichen Materialismus des 18. Jahrhunderts, der damals als geistige Waffe gegen Kirche und Religion entwickelt worden war.

In ähnlicher Weise, d.h. indem auf die Übereinstimmung der vorrevolutionären gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland und Frankreich hingewiesen wurde, erklärten schon früher rätekommunistische Texte den Blanquismus der Bolschewiki oder die Tatsache, daß Lenin für sich und für die Mitglieder seiner Partei das Wort Jakobiner als Ehrenname beansprucht hatte und daß sie der Auffassung waren, daß ihrer Partei die Rolle der Jakobiner der russischen bürgerlichen Revolution zukomme.

Tatsächlich, bürgerlich nannte Lenin zu einem Zeitpunkt, als er noch keine Legenden oder Mythen zu bewahren hatte, die bevorstehende Revolution. Die rätekommunistischen Theoretiker konnten ihm darin nur zustimmen. Daß im März 1918, also nur wenige Monate nach der Oktoberrevolution, die Sowjets ihrer bereits schrumpfenden Macht endgültig beraubt wurden, ging in rätekommunistischer Sicht aus dem Charakter dieser Revolution hervor. Die russischen Sowjets, ob sie sich nun wirklich aus echten Vertretern der Arbeiterklasse zusammensetzten oder nicht, paßten jedenfalls keineswegs in ein System, das nichts anderes war und sein konnte, als der politische Überbau staatskapitalistischer Produktionsbedingungen. Es war eine Parteiherrschaft, die Diktatur jener politischen Instanz, die über die nationalisierten Produktionsmittel verfügte und somit, wie sonst jeder privater Unternehmer, auch über die Produkte.

Der Kommunismus, so wie er von der Rätebewegung verstanden wird, steht zu diesem System in einem scharfen Gegensatz. Aus rätekommunistischer Sicht ist eine Parteidiktatur mit einer Gesellschaftsformation, deren ökonomische Grundlage in der Beseitigung der Lohnarbeit und der daraus hervorgehenden Ausbeutung besteht, unvereinbar. Einer Gesellschaft, in der die Produzenten frei und gleich sind, ist logischerweise die Demokratie der Produzenten inhärent. Sie ist selbstverständlich etwas anderes als die angebliche «proletarische» Diktatur und ihre zum Terror führende Gewalt.

Was den Mitte 30er Jahre unter Stalin seinen Gipfelpunkt erreichenden Terror betrifft, so war er in rätekommunistischer Sicht nichts wesentlich Neues. Er hatte bereits unter Lenin eingesetzt. Und seine kolossale Steigerung später konnte nicht aus Stalins Charakter, sondern eher als Begleiterscheinung des Industrialisierungs- und Proletarisierungsprozesses, also als Begleiterscheinung einer ursprünglichen Akkumulation, wie sie sich anderswo auch vollzogen hatte, verstanden werden.

Daß die russischen Bolschewiki ihre Gesellschaft als kommunistisch bezeichnen konnten, kam daher, daß sie zu Unrecht meinten, die Verstaatlichung der Produktionsmittel sei der Sturz des Kapitalismus. Das war eine schon von Marx und Engels kritisierte Auffassung, die – ach wie lang ist's her – auch die Sozialdemokratie vertrat, als sie noch vom Sturz der kapitalistischen Gesellschaft redete. Mit Rücksicht darauf könnten – wie es Rühle getan hat – die Bolschewiki als (radikale) Sozialdemokraten betrachtet werden.

Über das, was auf Grund seiner gesellschaftlichen Lage und seiner theoretischen Auffassungen vom Bolschewismus zu erwarten war, schrieb Pannekoek: «... die Arbeitermassen haben [wie Moskau es fordert] der kommunistischen Partei zu folgen, ihr die Führung und nachher die Herrschaft zu überlassen, während die Masse der Parteimitglieder in fester Disziplin der Parteiführung zu gehorchen hat». Das Fazit: «Die für ihre Befreiung kämpfende Arbeiterklasse wird die Philosophie Lenins auf ihrem Weg finden als die Theorie einer Klasse, die ihre Knechtschaft und Ausbeutung zu erhalten sucht.» Es waren prophetische Worte! Wie prophetisch, erfuhren 1953, 15 Jahre nach ihrer Niederschrift, die Bauarbeiter der damaligen Ostberliner Stalinallee, als der Leninismus mit Panzern auf sie losfuhr.

Pannekoek war nicht der einzige Rätekommunist, der, indem die Theorie immer klarer ausgearbeitet wurde, die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen Marx und Lenin lenkte. Das gleiche tat der seit 1926 in den USA lebende Paul Mattick, der sich schon frühzeitig mit Problemen der Arbeiterbewegung befaßte. Mattick tat dies in indirekter Weise. Sein Aufsatz hieß Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin. Darin beschäftigte er sich mit der Marxschen Kritik an dem bürgerlichen Revolutionär Arnold Ruge, um nachzuweisen, daß sie in jeder Hinsicht übereinstimmt mit der Luxemburgschen Kritik an Lenin, weil sich Lenins Auffassungen denen von Ruge näherten. Dabei zeigte er nicht nur, wie weit Lenin vom proletarischen Standpunkt Marxens entfernt war. Indem er Lenin mit dem Marx auf den Leib rückte, warf er auch ein helles Licht auf die Marxschen Ansichten selbst.

Gegen Lenin, der die ganze Revolution zu einer Frage des bewußten Eingreifens seiner jakobinischen Berufsrevolutionäre machte, führte Mattick in Marxens Spuren an, daß ein Mehr an politischem Verständnis auch ein Mehr nutzloser, irrationeller Kämpfe für das Proletariat bedeutet, da das politische Verständnis seine viel richtigeren Klasseninstinkte verschleiert und die Arbeiter blind gegen ihre wirklichen gesellschaftlichen Aufgaben macht.

 

5.

Matticks Darlegungen streiften einen Punkt, der von rätekommunistischer Seite immer wieder betont wurde. Nicht von einer revolutionären Intelligenz erzogen, sondern auf Grund ihrer Klassenlage in der Gesellschaft, die sie zum spontanen Selbsthandeln zwingt, gehen die Arbeiter in den Kampf. Der Kapitalismus wird nicht gestürzt, weil die Arbeiter die Revolution machen wollen, sondern die Revolution ist unvermeidlich, weil der Klassenkampf im Kapitalismus unvermeidlich ist. Mit dieser Auffassung verwirft der Rätekommunismus auch die Leninsche These, daß es «ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis» gäbe. Es ist, so wirft er Lenin vor, gerade umgekehrt: ohne revolutionäre Praxis keine revolutionäre Theorie! Und das schon deswegen, weil jede Theorie die gedankliche Zusammenfassung einer bestimmten Wirklichkeit ist. Ohne etwas, worüber zu theoretisieren ist, gäbe es keine Theorie.

Die rätekommunistische Theorie fußt auf den in unserem Zeitalter geführten Klassenkämpfen und auf den heutige Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft, wie die Marxsche Theorie auf den damaligen Klassenkämpfen und den Tendenzen des Kapitalismus seiner Zeit beruht. Und das als Ergebnis der gleichen Untersuchungsmethode. Wenn der Rätekommunismus nachdrücklich bestreitet, daß die Arbeiter in fester Disziplin irgendeiner Parteiführung zu gehorchen haben, wenn er Spontaneität und Selbstbestimmung befürwortet, dann deshalb, weil die wirklich vor sich gehende Entwicklung des Klassenkampfes immer deutlicher einen nicht zu vernachlässigenden Beweis dafür liefert, daß eine neue, durch Unabhängigkeit von jeder sogenannten «Vorhut» gekennzeichnete, von welcher bankrotten Ideologie auch immer beeinflußte Bewegung der Arbeiter selbst die einzig mögliche Perspektive bildet.

Eine selbständige, von der traditionellen völlig verschiedene neue Arbeiterbewegung kann nach rätekommunistischer Ansicht nicht künstlich errichtet werden. Sie wächst aus der Gesellschaft infolge sozialer Kämpfe. Worauf sie lossteuert, ob sie dessen bewußt ist oder nicht, ist die Rätedemokratie!

 


Zuletzt aktualisiert am 28.5.2011