August Bebel

Aus meinem Leben

Zweiter Teil


Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes

Der Kongreß in Gotha 1877


Wie schon im vorhergehenden Jahre, so berief auch für das Jahr 1877 die Reichstagsfraktion einen allgemeinen deutschen Sozialistenkongreß für den 27. bis 30. Mai nach Gotha. Auf der Tagesordnung stand: 1. Bericht der Reichstagsabgeordneten über ihre Tätigkeit; 2. Bericht über Gang und Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland; 3. Die sozialistische Organisation in Deutschland; 4. Die Parteipresse; 5. Das Parteiprogramm.

Aus dem wieder von Auer erstatteten Bericht ging hervor, daß die Partei in 175 Wahlkreisen von 397 eigene Kandidaten aufgestellt hatte. Die Zahl der Parteiblätter war auf 41 gestiegen. Es bestanden weiter vierzehn Parteidruckereien. Die Parteieinnahmen ergaben 54.217 Mark, die Ausgaben betrugen 50.635 Mark.

Den Bericht über die Tätigkeit der Fraktion erstattete an Stelle von Liebknecht, der wegen Krankheit in der Familie noch nicht eingetroffen war, Fritzsche. Ich traf wegen geschäftlicher Behinderung mit Liebknecht erst am 28. Mai in Gotha ein.

Über die Organisationsfrage berichtete Tölcke, der im Namen der gewählten Organisationskommission beantragte, folgender Resolution die Zustimmung zu geben:

„Mit Rücksicht auf die von preußischen Behörden mit unerhörter Dreistigkeit förmlich proklamierte völlige Rechtlosigkeit sozialistischer Vereine in Preußen nimmt der Kongreß von der Herstellung einer Organisation der Partei Abstand, auf welche die in Deutschland, besonders in Preußen bestehenden Vereinsgesetze angewendet werden können; der Kongreß überläßt es den Parteigenossen in den einzelnen Orten, sich je nach den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zu organisieren.“

Diese Resolution wurde ohne Diskussion einstimmig angenommen. Hervorgehoben zu werden verdient, daß damals fast die gesamte liberale Presse, die fortschrittliche nicht ausgenommen, den Scherereien, Plackereien und Gewalttätigkeiten der Behörden gegen die sozialistischen Organisationen mit stoischem Gleichmut zusah und selten ein Wort der Kritik hören ließ. Darin sahen natürlich die Behörden nur eine Ermutigung ihres ungesetzlichen und gewalttätigen Vorgehens.

Eine unerquickliche Debatte rief wieder das Verhalten Hasselmanns hervor. Hasselmann hatte das von ihm mit Zustimmung des Zentralwahlkomitees Januar 1877 herausgegebene Blatt unter dem Titel Die Rote Fahne nur als Flugblatt für die Unterstützung der Wahlen erscheinen lassen wollen. Dagegen war nichts einzuwenden. Er hatte aber dasselbe förmlich hinter dem Rücken des Zentralwahlkomitees als regelrecht erscheinendes Wochenblatt behördlich angemeldet, und nun benutzten seine Anhänger dasselbe überall, um den Vorwärts zu verdrängen. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß Hasselmann auf Spaltung der Partei hinarbeitete. Das kam auch in der Debatte durch die Mehrzahl der Redner zum Ausdruck. Schließlich wurde ein Antrag von mir gegen fünf Stimmen angenommen, dahin lautend: Der Kongreß ersucht den Genossen Hasselmann, die Rote Fahne eingehen zu lassen, sobald die Bergisch-Märkische Volksstimme – deren Redakteur er war – sich deckt. Aber er mußte bereits Anfang Oktober das Eingehen der Roten Fahne ankündigen. Das Blatt deckte nicht seine Kosten, und so war ihm seine Fortführung unmöglich.

Nicht minder unerquicklich wie die Debatte über Hasselmann war die Debatte, die Most über Friedrich Engels’ Artikelserie im Vorwärts über Professor Dühring hervorrief. Dühring war es gelungen, fast die gesamten Führer der Berliner Bewegung für seine Theorien einzunehmen. Auch ich war der Ansicht, daß jede schriftstellerische Leistung, die, wie die Dühringschen Arbeiten, dem bestehenden Sozialzustand scharf zu Leibe ging und sich für den Kommunismus erklärte, aus agitatorischen Gründen unterstützt und für uns ausgenutzt werden müsse. Von diesem Standpunkt aus hatte ich schon 1874 von der Festung aus zwei Artikel unter der Überschrift Ein neuer Kommunist im Volksstaat veröffentlicht, in denen ich Dührings Arbeiten besprach. Die betreffenden Bücher hatte mir Eduard Bernstein zugesandt, der damals mit Most, Fritzsche und anderen zu Dührings begeisterten Anhängern gehörte. Daß Dühring bald darauf wegen seiner Lehren mit den Staats- und Universitätsbehörden in Konflikt kam, ein Konflikt, der im Juni 1877 zu seiner Maßregelung an der Berliner Universität führte, erhöhte noch sein Ansehen in den Augen seiner Anhänger. Das alles veranlaßte Most, auf dem Kongreß eine Resolution einzubringen, lautend:

„Der Kongreß erklärt, Artikel, wie beispielsweise die in den letzten Monaten von Engels gegen Dühring veröffentlichten Kritiken, die für die weitaus größte Mehrheit der Leser des Vorwärts völlig ohne Interesse oder gar höchst anstoßerregend sind, haben künftighin aus dem Zentralorgan fernzubleiben.“

Das Ansehen Dührings erlitt allerdings nicht lange nachher in den Augen seiner sozialistischen Anhänger gründlich Schiffbruch. Das Benehmen des Mannes wurde so autokratisch und an Größenwahn grenzend, daß sich einer nach dem anderen von ihm zurückzog.

Auf demselben Kongreß wurde von Vollmar – der damals zum erstenmal auf einem Parteikongreß erschien – der Antrag gestellt und angenommen:

„Um der Solidarität der Sozialisten aller Länder Ausdruck zu geben, beschließt der Kongreß, den diesjährigen internationalen Sozialistenkongreß zu Gent durch einen Delegierten zu beschicken. Das Zentral-Wahlkomitee bestimmt den Delegierten.“

Grillenberger unterstützte den Antrag, dagegen mahnte Liebknecht zur Vorsicht im Hinblick auf die in Belgien vorhandene bakunistisch-anarchistische Strömung, die versuchen werde, den Kongreß zu beherrschen.

Ob der Kongreß zustande kam, ist mir nicht erinnerlich, jedenfalls wurde er von uns nicht beschickt; der Partei erwuchsen mittlerweile im Innern ernstere und kostspieligere Aufgaben.



Zuletzt aktualisiert am 20.7.2007