MIA > Deutsch > Bebel > Aus meinem Leben, 2. Teil
Anfang Januar 1876 hielten die sächsischen Parteigenossen eine sehr gut besuchte Landesversammlung in Chemnitz ab, in der man sich bereits mit der Aufstellung der Kandidaten für die nächste Reichstagswahl beschäftigte, die man Januar 1877 erwartete. Die Stimmung war trotz aller Verfolgungen vorzüglich. Mit Beginn des Jahres hatten die Berliner Genossen in der Berliner freien Presse sich ein Lokalblatt geschaffen, das sich allmählich eine bei Freund und Feind angesehene Stellung eroberte. Jetzt wurden auch die ersten Zeichen einer Wandlung der gesamten Politik des Reiches bemerkbar. Mit der Entlassung des Präsidenten des Reichskanzleramtes Delbrück, die Ende April erfolgte, wurde die offizielle Schwenkung nach der schutzzöllnerischen Seite eingeleitet. Der preußische Handelsminister v. Camphausen, der noch kurz zuvor im Reichstag die Lohnherabsetzungen durch die Unternehmer als Mittel, aus der Krise herauszukommen, gerechtfertigt hatte und dafür von Eugen Richter das Lob erntete: Alle Hochachtung vor einem Minister, der es wagt, so unpopuläre Wahrheiten auszusprechen, folgte ihm später in die Wüste nach. Unterdessen nahmen die Verfolgungen gegen die Parteigenossen ununterbrochen ihren Fortgang, ganz besonders wegen Beleidigungen des Reichskanzlers. Bismarck hatte die Gewohnheit angenommen, daß er seine Strafanträge en masse hektographieren ließ und denjenigen Staatsanwälten zur Anklageerhebung zusandte, die ihm einen Beleidiger namhaft gemacht hatten.
Diese Strafanträge wurden von ihm unausgesetzt bis zum Ende seines Amtes – Februar 1890 – gestellt. Dieselben gingen in die Tausende, und die Verurteilten halfen die Gefängnisse bevölkern. Von Charaktergröße legte dieses Verfahren kein Zeugnis ab, es wurde selbst von vielen seiner Verehrer mißbilligt.
Getreu den Intentionen Bismarcks setzte ferner Tessendorf seine Verfolgungen der Arbeiterorganisationen fort. Hatte er bei seiner Anklage gegen die Leiter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wegen Vergehens gegen das preußische Vereinsgesetz März 1875 den Antrag auf dessen Unterdrückung mit den Worten begründet: „Zerstören wir die sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische Partei mehr“, Worte, die sein ganzes Unverständnis der Bewegung bewiesen, so sah er sich jetzt zu weiteren ähnlichen Maßregeln veranlaßt. Die Unterdrückung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war durch die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei in Gotha wettgemacht worden. Diese sollte jetzt an die Reihe kommen. Es gelang ihm auch, bei der Ratskammer des Berliner Stadtgerichtes einen Beschluß zu erlangen, wonach sowohl die Berliner Mitgliedschaft der Partei wie die Partei selbst für ganz Preußen für vorläufig geschlossen erklärt wurden. Der Parteivorstand antwortete auf diesen Beschluß mit einer Ansprache an die Parteigenossen, sie sollten unbekümmert um denselben in die Agitation für die nächsten Reichstagswahlen eintreten. Die Partei solle zeigen, daß sie sich durch Beschlüsse, wie jenen der Ratskammer des Berliner Stadtgerichtes, nicht einschüchtern lasse. Es sei nunmehr erst recht notwendig, daß jeder einzelne Genosse seine volle Schuldigkeit für die Partei tue. Dem Trumpf Tessendorfs „Vernichtung der Sozialdemokratie“ müsse durch den Gegentrumpf „Es lebe die Sozialdemokratie“ geantwortet werden. Nunmehr wurden überall in Preußen an Stelle der aufgelösten Parteiorganisation lokale Organisationen ins Leben gerufen, die allerdings jeden Schein einer Verbindung mit der für das übrige Deutschland fortbestehenden Zentralorganisation vermeiden mußten. Das Vorgehen Tessendorfs erwies sich buchstäblich als ein Schlag ins Wasser, denn für die Anwerbung von Parteigenossen, die Verbreitung der Parteipresse und die Sammlung von Geldmitteln leisteten diese Lokalorganisationen mindestens so viel wie die aufgelöste Zentralorganisation.
Freilich war unter diesen Verhältnissen ein Parteikongreß im früheren Sinne nicht mehr möglich. Da wir aber einen solchen nicht entbehren wollten und konnten, traten Reichstagsfraktion und Parteivorstand zusammen, um zu beraten, was geschehen solle. Man einigte sich sehr rasch auf den von mir gemachten Vorschlag, daß die Reichstagsfraktion einen allgemeinen Sozialistenkongreß einberufen solle, und zwar für die Tage vom 20. bis 23. August nach Gotha, wozu die Delegierten in öffentlichen Versammlungen gewählt werden sollten. Um andererseits den preußischen Parteigenossen die Leistung von Parteibeiträgen in unanfechtbarer Form zu ermöglichen, wurde beschlossen, monatlich ein ungefähr handgroßes Blättchen unter dem Titel Der Wähler herauszugeben, das zum Preise von 20 Pfennig sich eines guten Absatzes erfreute.
Tessendorfs Verfolgungseifer begnügte sich aber nicht mit der Auflösung der Parteiorganisation in Preußen. Er ging alsbald auch gegen eine Anzahl Zentralverbände der Gewerkschaften vor, um diesen als „politischen Organisationen“ das Schicksal der Partei zu bereiten. Das gelang ihm auch bei vier derselben. Die aufgelösten Zentralleitungen siedelten nunmehr nach Hamburg über, dessen Vereinsgesetz ein Verbindungsverbot für politische Vereine nicht kannte.
Am 28. Juni war Most endlich nach 26 Monaten Haft aus Plötzensee entlassen worden. An demselben Tage kündigte Bracke öffentlich das Erscheinen einer von Most verfaßten Broschüre an, betitelt: Die Bastille am Plötzensee, in der er seine Erlebnisse erzählte und die Art und Weise schilderte, wie er und andere hinter dem Rücken der Beamten sich allerlei Vorteile beschafft und die Beamten hinter das Licht geführt hatten. Diese Veröffentlichung war eine Unklugheit. Kaum war die Schrift erschienen, so verlangte der Minister des Innern von dem nichts ahnenden Direktor des Gefängnisses Plötzensee Auskunft über die geschilderten Vorgänge. Das Resultat war, daß mehrere Beamte bestraft und entlassen wurden und von jetzt ab eine weit strengere Handhabung der Gefängnisordnung Platz griff. Auch wurden von jetzt ab – mit mir machte man, als ich ebenfalls in Plötzensee Quartier beziehen mußte, worüber weiter unten mehr, noch eine Ausnahme – die meisten politischen Gefangenen im sogenannten Maskenflügel interniert. Als Most im Jahre 1878 abermals auf sechs Monate in Plötzensee seinen Einzug halten mußte, vergalt man ihm seine Indiskretionen. Er wurde jetzt in strenge Isolierhaft genommen, und so oft er die Zelle verließ, mußte er, wie die anderen Insassen des Zellenhauses, eine schwarze Maske vorlegen, damit ihn niemand erkenne.
Entsprechend den um jene Zeit einen immer aggressiveren Charakter annehmenden Verfolgungen der Partei wurden auch die verhängten Strafen bemessen. Wo man vordem Wochen oder wenige Monate verhängte, erhielt jetzt der Verurteilte eine drei- und vierfach höhere Strafe zuerkannt. Urteile, die zwölf, fünfzehn, achtzehn und mehr Monate diktierten, wurden Regel. Einzelne Parteiblätter, wie der Vorwärts und die Berliner Freie Presse, hatten ständig mehrere Redakteure in Haft. So erhielt zum Beispiel Saeweke-Chemnitz wegen Majestätsbeleidigung und was man als Gotteslästerung ansah zwei Jahre Gefängnis; vom Augsburger Schwurgericht wurden wegen verschiedener Preßvergehen R. Franz zu drei, E. Rottmanner und E. Köber zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt, eine Verurteilung, die in der ganzen Partei einen Sturm der Entrüstung hervorrief. In anderen Prozessen wurde Thomas-Augsburg zu zwei Jahren, Loof-Chemnitz zu einem Jahre vier Monaten verurteilt. Vahlteich erhielt im folgenden Jahre wegen verschiedener Preßvergehen achtzehn Monate Gefängnis, und zu der gleichen Strafe wurde im nächstfolgenden Jahre G. v. Vollmar, der Redakteur der Dresdener Volkszeitung war, verurteilt. Diese Verurteilungen erregten schließlich in der Partei kaum noch Aufsehen; wer Redakteur oder Agitator war, mußte mit dem Gefängnis als einem unumgänglichen Attribut seiner Stellung rechnen. Mit Vollmar war ich infolge seiner Stellung als Redakteur der Dresdener Volkszeitung in lebhafteren brieflichen Verkehr gekommen. Die verschiedenen Preßvergehen, in die er verwickelt war, legten ihm die Frage nahe, ob bei einer Verurteilung ihm die Pension, die er als schwer verwundeter Teilnehmer im Deutsch-Französischen Kriege bezog, nicht entzogen werden könne, und er ersuchte mich darüber um meine Meinung. Darauf antwortete ich ihm unter dem 17. Juni 1877 unter anderem:
„... Bezüglich Ihrer Pensionsangelegenheit habe ich mit Freytag noch nicht sprechen können, glaube auch kaum, daß er Ihnen mehr als ich wird sagen können.
Ich habe mir die Reichstagsverhandlungen angesehen. § 32 des Gesetzes, die Pensionierung und Versorgung der Militärpersonen, bestimmt unter b), daß durch rechtskräftige gerichtliche Verurteilung der Pensionsverlust herbeigeführt werden könne, und bestimmt dann weiter:
Die Pensionserhöhungen können jedoch durch gerichtliches Erkenntnis nicht entzogen werden.
Aus den Verhandlungen ergibt sich nun mit keinem Wort, in welchem Falle ein solches Aberkenntnis eintreten dürfe. Es wurde bei der Beratung darauf aufmerksam gemacht, daß im Reichsstrafgesetzbuch, das ja auch für Bayern gilt, alle Bestimmungen gestrichen wurden, wonach die Pension aberkannt werden könne. Im Gegensatz hierzu besteht aber das alte preußische Militärstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1845, das solche Bestimmungen enthält. Da dieses aber meines Wissens für Bayern nicht gilt, so fragt es sich, welche bezüglichen Bestimmungen das bayerische Militärstrafgesetz enthält, diese kommen alsdann in Betracht und dieses Gesetz werden Sie sich wohl leicht verschaffen können.
Ich empfehle Ihnen äußerste Vorsicht in der Schreibweise, ich fürchte, man läßt Sie tüchtig hereinfallen. Da aber die Verurteilung auf keinen Fall den Verlust der Ehrenrechte nach sich ziehen kann, so fragt es sich, ob diese Entziehung nicht eine Bedingung für die Aberkennung der Pension ist, in welchem Falle Sie gedeckt wären. Daß gegen Sie als einen ‚Apostaten‘ die herrschende Gewalt eine besondere Animosität besitzt, ist sicher ...“
Große Genugtuung rief es hervor, als um jene Zeit in der Partei bekannt wurde, daß der oberste Gerichtshof im Herzogtum Braunschweig den General Vogel v. Falckenstein wegen der Lötzener Affäre verurteilt habe, an die Herbst 1870 von ihm gefangen gesetzten Genossen Entschädigung zu zahlen, und zwar an Bracke 2.100 Mark, an Gralle 108 Mark, an Bonhorst 105 Mark, an Ehlers als selbständigen Gewerbetreibenden pro Tag 7,50 Mark, an Kühn als Arbeiter pro Tag 3 Mark.
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Zuletzt aktualisiert am 20.7.2007