MIA > Deutsch > Bebel > Aus meinem Leben, 2. Teil
Bevor ich auf die Tragödie des Deutsch-Französischen Krieges eingehe, muß ich in Kürze auf die taktischen Unstimmigkeiten zu sprechen kommen, die sich zwischen Liebknecht und mir wegen unserer parlamentarischen Stellung herausgebildet hatten.
Liebknecht hatte schon zur Zeit, als der Bismarcksche Bundesreformantrag zur Diskussion stand – Frühjahr 1866 –, sich gegen das Wählen zu einem solchen Parlament ausgesprochen, und zwar im Mannheimer Deutschen Wochenblatt. Dieses wurde aber in unseren Kreisen fast nicht gelesen, und da Liebknecht, soweit ich mich dessen entsinne, weder im Leipziger Arbeiterbildungsverein, noch im Demokratischen Verein, noch in einer anderen Versammlung seinen negierenden Standpunkt zur Geltung zu bringen suchte, kam es infolgedessen zu keiner Diskussion. Als wir dann Weihnachten 1866 auf unserer Landesversammlung zu Glauchau ohne jeden Widerspruch die Wahlbeteiligung als selbstverständlich beschlossen und Liebknecht, der damals drei Monate Gefängnis in der Berliner Stadtpolizei verbüßte, mit als Kandidaten für den 19. sächsischen Wahlkreis aufstellten, akzeptierte er diese Aufstellung ohne jeden Vorbehalt. Bei seiner zweiten Kandidatur, Hochsommer 1867, wurde er auch gewählt. Anfangs stellte er selbst Anträge zu Gesetzentwürfen, aber bald kam die alte Abneigung gegen den Parlamentarismus wieder bei ihm zum Durchbruch und äußerte sich in lebhaften Auseinandersetzungen zwischen uns über die Taktik, die wir im Reichstag einnahmen sollten.
Liebknecht sah in dem Norddeutschen Bunde ein Gebilde, das mit allen Mitteln bis zur Vernichtung bekämpft werden müsse. An dessen Parlament sich anders als negierend und protestierend zu beteiligen, war nach seiner Meinung eine Preisgabe des revolutionären Standpunktes. Daher kein Paktieren, kein Kompromisseln, das heißt kein Versuch, die Gesetzgebung in unserem Sinne zu beeinflussen.
Zu dieser Auffassung unseres revolutionären Standpunktes konnte ich mich nicht bekennen. Protestieren und negieren, wo es am Platze war, also vor allen Dingen gegen alles Schlechte und Verderbliche, aber zugleich auch agitieren in positivem Sinne, indem wir überall unsere Anträge zu den einzelnen Gesetzentwürfen stellten und damit zeigten, wie wir uns die Gestaltung der Dinge dachten. Indem wir diese Anträge stellten und Reden zu ihren Gunsten hielten, die, wenn auch noch so verstümmelt, in den Berichten der Zeitungen von Millionen gelesen wurden, würden wir im höchsten Grade agitatorisch und propagandistisch wirken.
Diese Meinungsverschiedenheiten kamen zwischen uns am lebhaftesten zum Ausdruck, als ich zahlreiche Anträge zur Gewerbeordnung und anderen Gesetzentwürfen stellte, zu denen Liebknecht seine Stimme nur ungern hergab. Er hielt es schließlich für zweckmäßig, seinen abweichenden Standpunkt in einem Vortrag darzulegen, den er am 31. Mai 1869 im Berliner Demokratischen Arbeiterverein hielt. Der Vortrag ist nachher in einer Broschüre erschienen, betitelt: Die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesondere mit bezug auf den Reichstag.
Liebknecht äußerte darin: Die soziale Bewegung ist ein revolutionärer Umgestaltungsprozeß, der sich nicht über Nacht vollziehen kann ... Aber die neue Gesellschaft steht in unversöhnlichem Gegensatz mit dem alten Staat ... Was die neue Gesellschaft will, hat daher vor allem auf Vernichtung des alten Staates hinzuwirken ... Für die soziale Praxis muß sich die Sozialdemokratie erst den staatlichen Boden schaffen ... Der Kampf im Reichstag sei bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie ... Verhandeln könne man nur, wo eine gemeinsame Grundlage bestehe ... Prinzipien seien unteilbar, man müsse sie ganz bewahren oder ganz opfern ... Den im Reichstag fast ausschließlich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber sei der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen sei, gleich jeder anderen Machtfrage ... Alles, was von dem Werte der Reden im Reichstag gesagt werde, sei hinfällig. Ob man glaube, den Reichstag durch Reden bekehren zu können? Dieses Reden sei zwecklos, und zwecklos zu reden, sei ein Vergnügen der Toren.
Er wendete sich dann gegen die Überschätzung des Wahlrechts im absolutistischen Staat; losgelöst von staatsbürgerlicher Freiheit, ohne Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht könne das allgemeine Stimmrecht nur Spiel und Werkzeug des Absolutismus sein.
Der Reichstag habe auch keine Macht; eine Kompagnie Soldaten jage, selbst wenn wir die Mehrheit darin hätten, diese Mehrheit zum Tempel hinaus ... Revolutionen würden nicht mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung gemacht; die sozialistische Idee könne nicht innerhalb des heutigen Staates verwirklicht werden; sie müsse ihn stürzen, um ins Leben treten zu können. „Kein Friede mit dem heutigen Staat.“
Diese rein negierende Stellung Liebknechts ist für die Partei nie maßgebend geworden, so oft er auch dafür kämpfte. Als aber in den achtziger Jahren unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes der Anarchismus in Deutschland hier und da Boden fand, benutzten selbstverständlich die Anarchisten die Broschüre Liebknechts, um gegen uns als „parlamentarische Partei“ zu kämpfen. Es war ein unhaltbarer Zustand, daß eine Rede des ersten Führers der Partei ständig gegen die Wirksamkeit der Partei ausgenutzt wurde. Darauf machte ich ihn in einer Fraktionssitzung Mitte der achtziger Jahre aufmerksam. Liebknecht gab die Berechtigung meiner Auffassung ohne weiteres zu, und so erschien die neue Auflage mit einem Vorwort, in dem er darauf hinwies, daß sein in der Broschüre vertretener Standpunkt sich nur auf die Periode vor Gründung des Reiches beziehe. Im weiteren hat dann auch Liebknecht auf dem St. Galler Kongreß – Oktober 1887 – offen und rückhaltlos erklärt, er sei nunmehr zu der Ansicht gekommen, daß die praktische Tätigkeit in den Parlamenten eine Notwendigkeit und von großem Vorteil für die Partei sei. Damit waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns über die parlamentarische Taktik beseitigt.
Die Liebknechtsche Rede hatte ein gerichtliches Nachspiel. Das Berliner Stadtgericht verurteilte ihn in contumaciam, da er auf Vorladung nicht erschienen war, wegen Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen zu drei Monaten Gefängnis. Das Berliner Stadtgericht forderte darauf die Auslieferung Liebknechts – man halte fest, daß es damals noch kein gemeinsames Strafrecht und kein gemeinsames Prozeßverfahren gab – auf Grund des Gesetzes über die gegenseitige Rechtshilfe. Diese Auslieferung wurde von den sächsischen Gerichten verweigert, weil es nach dem neuen sächsischen Strafrecht kein Vergehen gab wie jenes, auf das hin Liebknecht in Berlin verurteilt worden war. Nun verlangte die preußische Regierung bei der sächsischen die Verfolgung Liebknechts wegen Schmähung von Bundesinstitutionen. Die sächsische Regierung machte auch Miene, dem Verlangen stattzugeben. Die Sache zog sich aber in die Länge, und schließlich erging es Liebknecht mit seiner Berliner wie mir mit meinen Plauener Reden, sie wanderten als schätzbares Anklagematerial in die Akten unseres kommenden Hochverratsprozesses.
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Zuletzt aktualisiert am 16.7.2007