MIA > Deutsch > Bebel > Aus meinem Leben, 2. Teil
Nachdem wir uns verständigt hatten, den Kongreß auf den 7. August nach Eisenach einzuberufen, erschien im Demokratischen Wochenblatt vom 17. Juli der Ausruf, der unterzeichnet war von 66 ehemaligen Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aus verschiedenen Orten, 114 Mitgliedern des Verbandes der deutschen Arbeitervereine – worunter ebenfalls eine Anzahl ehemaliger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins waren –, einer Anzahl ehemaliger Mitglieder des Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, vom Zentralkomitee der deutschen Arbeitervereine der Schweiz, vom Deutsch-Republikanischen Verein in Zürich; für die Arbeiter Österreichs von H. Oberwinder, H. Hartung, B. Beschan, A. Macher, A. Straßer-Graz, und für die deutsche Abteilung der Internationale in Genf von Joh. Phil. Becker. Der Ausruf lautete:
An die deutschen Sozialdemokraten!
Parteigenossen! In der jüngsten Zeit haben sich im Schoße unserer Partei Ereignisse vollzogen, die jeden ehrlichen Sozialdemokraten mit Freude erfüllen müssen. Der Bann, welcher bisher auf der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung lastete, ist gebrochen; die Selbstsucht einzelner, welche sich wie ein spaltender Keil in das Mark, in das Herz unserer Partei geschoben, ist entlarvt und niedergeschmettert, und es gilt nun, rasch zu handeln, damit die Früchte des Sieges uns nicht wieder entrissen werden und damit aus der heilsamen Revolution, welche sich soeben vollzogen hat, die Prinzipienreinheit und die einheitliche Organisation hervorgehen mögen, ohne die unsere Partei den ihr gebührenden Einfluß nicht ausüben, die ihr innewohnende Kraft nicht entfalten kann.
Lange, leider zu lange, war es dem Egoismus und der Bosheit einzelner möglich, die Partei in sich zu verfeinden. Doch eine neue Zeit ist angebrochen; mit ehernem Finger zeigt sie uns auf die Notwendigkeit hin, die Partei der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands in sich zu einigen und dieselbe in die richtige, einzig zum Siege führende Bahn der auf internationaler Grundlage beruhenden, großen Arbeiterbewegung hinüberzuleiten.
Wer, der ein aufrichtig denkender Sozialdemokrat ist, sollte sich dieser Notwendigkeit verschließen können? Wer sollte die unberechenbaren Vorteile für unsere Partei nicht ahnen, die sich aus einer derartigen Einigung auf Grund einer gemeinsamen Organisation, eines gemeinsamen Programms, eines gemeinsamen Auftretens in der politisch-sozialen Welt ergeben? – Wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß die große, die überwältigende Mehrheit unserer Parteigenossen der besseren Erkenntnis huldigt, daß sie gern und freudig die Hand zu dem stolzen Werke bietet, das endlich unsere Partei zur großartigen und wirksamen Machtentfaltung befähigt!
Von dieser Überzeugung durchdrungen, haben wir uns auf einer in Braunschweig am 6. Juli dieses Jahres stattgehabten Konferenz über die hierzu zunächst erforderlichen Schritte völlig verständigt und berufen hiermit in Gemäßheit des dort gefaßten Beschlusses einen allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongreß auf Sonnabend den 7. August, Sonntag den 8. August und Montag den 9. August nach Eisenach.
Auf die Tagesordnung des Kongresses sind, unbeschadet weiterer Anträge, folgende Punkte gesetzt: l. Die Organisation der Partei. 2. Das Parteiprogramm. 3. Das Verhältnis zur Internationalen Arbeiterassoziation. 4. Das Parteiorgan (Blatt). 5. Die Vereinigung der Gewerkschaften (Gewerksgenossenschaften).
Die auf diese fünf Punkte der Tagesordnung sich beziehenden spezielleren Anträge, zum Beispiel Vorlage betreffs der Parteiorganisation usw., werden ihrem Wortlaut nach spätestens Ende dieses Monats gedruckt versandt werden.
Die Delegierten (Abgeordneten) zum Arbeiterkongreß haben sich durch ein Mandat (Vollmacht), worin der Ort, für den sie abgeordnet sind, sowie die Zahl ihrer Wähler, die sie vertreten, angegeben sein muß, zu legitimieren. Es kann solche Legitimation erfolgen entweder durch Mandate, welche im Namen von Vereinen oder deren Mitgliedschaften, oder welche auch im Auftrag von zum Zwecke der Beschickung des Kongresses stattgehabten Volksversammlungen ausgestellt sind, oder endlich auch Mandate, welche mit den Unterschriften der an einem Orte anwesenden Parteigenossen versehen sind. Mehrere Orte, denen es zu schwer wird, je einen Delegierten zu senden, mögen zusammentreten, um mindestens gemeinsam einen Delegierten abzuordnen.
Es ist dringend notwendig, daß der Kongreß schon am Sonnabend den 7. August, abends 8 Uhr, eröffnet wird, damit die Wahl des Bureaus und die Feststellung der Geschäftsordnung erfolgen kann, weshalb denn auch die Delegierten noch an diesem Tage (7. August) in Eisenach eintreffen wollen.
Wir geben uns der frohen Hoffnung hin, daß von allen Orten des großen Gesamtdeutschlands, wo die Arbeit im Kampfe mit der Kapitalmacht, wo der Volkswille gegen die staatliche Reaktion tagtäglich im Ringen nach Freiheit begriffen ist, Vertreter zum Kongreß abgeordnet werden – wir hoffen es zum Wohle und Wachstum der Partei, welche die politischen und sozialen Rechte des gedrückten Volkes mit Flammenschrift auf ihre Fahne schrieb.
Auf, Parteigenossen, zu wirken für den allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß, zu wirken durch ihn für die Größe und Einheit der Partei!
Im weiteren berief ich im Auftrag des Vorortsvorstandes als Vorsitzender desselben für Montag den 9. August einen Vereinstag der deutschen Arbeitervereine nach Eisenach mit der Tagesordnung: 1. Bericht des Vorstandes. 2. Beratung über die Frage: Welche Stellung soll der Verband zu der neuen Organisation der sozialdemokratischen Partei einnehmen? Eventuell Auflösung des Verbandes.
Von den Einberufern des Kongresses erhielt ich den Auftrag, die nötigen Vorkehrungen für den Kongreß in Eisenach zu treffen, ferner einen Programm- und einen Organisationsentwurf auszuarbeiten und zur gemeinsamen Beratung vorzulegen. Bracke und Geib meinten, es sei an uns, die für passend erachteten Vorschläge zu machen. Liebknecht war mit der Redaktion des Demokratischen Wochenblattes und der Polemik gegen den Sozialdemokrat beschäftigt, so fiel mir die erwähnte Arbeit zu.
Ich betrachte noch heute mit einiger Heiterkeit die Schriftstücke, worin sowohl die königlich sächsische Staatsbahnverwaltung wie das Direktorium der damals privaten Thüringischen Eisenbahngesellschaft auf meine Gesuche mir anzeigten, daß sie die üblichen Fahrpreisermäßigungen für Besucher von Kongressen auch den Besuchern des in Eisenach stattfindenden sozialdemokratischen Kongresses gewährten. Heute geschähe dergleichen nicht mehr.
In eine kleine Verlegenheit brachte mich ein Artikel, in dem Joh. Phil. Becker im Vorboten seine Ansichten über die Organisation der neuen Partei entwickelte. Der alte Jean Philipp war ein prächtiger Kerl, opferbereit, hingebend, unermüdlich bei Tag und Nacht, ein Haudegen, der wie 1848 und 1849 in der badischen Revolution als Oberst eines Freischarenregiments jetzt wieder bereit gewesen wäre, zu Pferde zu steigen. Auch wußte er aus seinem sehr bewegten Leben eine Menge Geschichten, Schnurren und Anekdoten zu erzählen, die er in äußerst lebendiger Weise zum Vortrag brachte. Ich habe mich öfter stundenlang über seine Erzählungen amüsiert. Aber von einer Parteiorganisation verstand er nicht allzuviel, und seine lange Abwesenheit aus Deutschland hatten ihn den deutschen Verhältnissen entfremdet. Statt einer geschlossenen, möglichst zentralisierten, aber demokratisch organisierten Partei, die fähig zu kräftigem Handeln war, wollte Becker eine Verbindung, die wohl die Propagierung der sozialdemokratischen Grundsätze betreibe, aber keine feste Parteiorganisation habe; sie müsse sich, wie er es nannte, einen stets wandelbaren und entwicklungsfähigen Charakter bewahren, und diese Verbindung sollte von Genf abhängen. Einen bezüglichen Entwurf hatte er im Vorboten veröffentlicht und hoffte, daß der Eisenacher Kongreß ihm zustimmen werde. Dieser Artikel Beckers veranlaßte Marx, mir zu schreiben, daß sie mit demselben nichts zu tun hätten und die Ansichten desselben nicht teilten. Darauf antwortete ich Marx unter dem 30. Juli:
„Ihr werter Brief, den ich soeben empfangen, hat mir viel Freude gemacht. Ich habe die Vorschläge Beckers im Vorboten ebenfalls gelesen und muß gestehen, daß sie mich etwas unbehaglich stimmten, weil ich daraus zu ersehen glaubte, daß es Becker darum zu tun sei, die Leitung für Deutschland in bezug auf die Internationale in die Hände zu bekommen. Mein Entschluß war denn auch, auf dem Kongreß das unpraktische, ja unausführbare, Zeit und Geld kostende Projekt zu bekämpfen. Es freut mich nun, an dem Generalrat der Internationale selbst eine Stütze gefunden zu haben. Fürchten Sie deshalb nicht, daß ich Sie oder den Generalrat irgendwie nutzloser Weise in die Debatte hereinziehen werde; ich werde sogar versuchen, wenn Becker selbst oder ein anderer Vertreter aus Genf kommt, ihm privatim die Gründe auseinanderzusetzen. Auch können Sie im voraus versichert sein, daß Beckers Vorschlag weder von unserer Seite, noch von seiten der Opposition des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, noch von den schweizer oder österreichischen Vertretern unterstützt wird, ich müßte denn die Stimmung sehr schlecht kennen. Wie wir uns unser Verhältnis zur Internationale gedacht, werden Sie aus dem von mir entworfenen und von Braunschweig und Hamburg mitberatenen Organisationsentwurf, den das Demokratische Wochenblatt diese Woche bringt, ersehen. Ich glaube, es ist die einzig richtige und mögliche Form.“
An I.Ph. Becker schrieb ich einen Brief im gleichen Sinne, in dem ich unter anderem auch ein Urteil über Schweitzer abgab, und zwar schrieb ich Becker mit Bezugnahme auf Schweitzers Plan, Delegierte zum Eisenacher Kongreß senden zu wollen:
„Es ist bei aller Pfiffigkeit Schweitzers doch eine große Dummheit, daß er seinen Coup selber verrät. Ich habe überhaupt im Zusammensein mit ihm, sowohl in Barmen-Elberfeld wie in Berlin, die Beobachtung gemacht, daß er, namentlich wenn man ihm persönlich gegenübertritt, sehr leicht den Kopf verliert und Dummheiten macht. Das böse Gewissen ist’s, das ihm jederzeit die Besinnung raubt, sobald ihn einer an der Kehle packt.“
Ich möchte hier auch einige Worte über Schweitzers Äußere verlieren. Schweitzer war von hoher, schlanker Gestalt und hatte bleiche, verlebte Gesichtszüge. Das braune Haar war dünn, ebenso die Bartkoteletten und der verzwirbelte Schnurrbart. Die Nase war ziemlich lang und gegen ihr Ende gebogen und spitz; hinter der Brille sahen ein paar kalte, glitzernde Augen hervor. Wenn er stand oder ging, legte er stets die Hände auf den Rücken und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er mußte sehr blutarm sein, denn als ich ihm nach der Barmen-Elberfelder Affäre einmal in Berlin die Hand reichte, schauerte ich ein wenig zusammen. Es war, als hätte ich die kalte, feuchte Hand einer Leiche erfaßt.
Der Kongreß war von einer stattlichen Zahl von Delegierten besucht. Es waren 262 Abgeordnete anwesend, die 193 Orte vertraten. Darunter Johann Philipp Becker-Genf, Greulich und Dr. Ladendorf-Zürich, Oberwinder und Andreas Scheu-Wien, Hofstetten-Berlin. Sonnemann-Frankfurt war ebenfalls zugegen, er beteiligte sich auch einigemal an der Debatte. Von jetzt ab besuchte er aber keinen Arbeiterkongreß mehr; seine Hoffnungen, es könne noch zwischen der Arbeiterpartei und der Volkspartei zu einer Verständigung kommen, erfüllten sich nicht. Der Klassencharakter der Partei stieß ihn ab. Die „Schweitzerianer“, wie wir die Delegierten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins jetzt nannten, waren ganz bedeutend schwächer vertreten, nicht halb so stark. Dieselben versammelten sich im Schiff, unsere Delegierten im Goldenen Bären. Da von den verschiedensten Seiten Mitteilungen gemacht wurden, daß die Schweitzerianer den Kongreß mit Gewalt sprengen wollten, begab ich mich zum Oberbürgermeister und zur Polizei, um zu hören, wie diese die Situation betrachteten, denn es lag uns selbstverständlich alles daran, den Kongreß abhalten zu können, sollten nicht die enormen Opfer umsonst gebracht worden sein. Die Erklärung lautete, daß wir die Versammlungen ganz nach Belieben wo und wie abhalten könnten. In Sachsen-Weimar gebe es kein Vereins- und Versammlungsgesetz, die Versammlungsfreiheit war also eine absolute. Weiter wurde mir versichert, daß die Polizei, falls die von uns getroffenen Anordnungen mit Gewalt gestört werden sollten, bereit sei, einzugreifen. Eine Aufforderung an die Schweitzerianer im Schiff, ihre Mandate abzugeben und dieselben gegen rote Legitimationskarten einzutauschen, verweigerten sie. Abends gegen 7 Uhr rückten sie dann über hundert Mann stark, unter Führung des Riesen Tölcke, in den Goldenen Bären. Über seine damalige Mission schrieb Tölcke später in seiner Schrift Zweck, Mittel und Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins:
„Es war überhaupt eine beliebte Manier des Herrn v. Schweitzer, überallhin, wo es galt, in heißem Kampfe einen Strauß anzufechten, andere zu senden und diesen die Verantwortlichkeit der Partei gegenüber für ein etwaiges Mißlingen aufzubürden.“
Das war vollkommen zutreffend; Tapferkeit war nicht die Stärke Schweitzers, dagegen ließ sich damals Tölcke zu allem gebrauchen, wozu Schweitzer ihn benutzen wollte.
Als die Schweitzerianer in den Goldenen Bären einrückten, fanden sie die Treppe von uns so stark besetzt, daß sie es vorzogen, ihre Mandate abzugeben. Am Nachmittag waren in einer Vorversammlung Geib und ich zu Vorsitzenden, Oberwinder und Quick-Genf zu Stellvertretern in Aussicht genommen worden. Es war weiter auf meinen Vorschlag zwischen uns vereinbart worden, daß, falls die Versammlung am Abend tumultuarisch verlaufe, Geib den Kongreß schließen solle. Alsdann solle ein neuer Kongreß auf Sonntag vormittag einberufen werden, zu dem nur Delegierte mit gelben Eintrittskarten Zutritt hätten.
Wie vorausgesehen, so kam es. Bei der Bureauwahl entstanden bereits die stürmischsten Szenen. Wir hatten, da die Beleuchtung eine elende war, am Bureautisch ein halbes Dutzend Flaschen, in deren Hälse wir Stearinlichter gesteckt, aufgestellt. Diese waren in beständiger Gefahr, umzufallen, und mußten mit den Händen gehalten werden. Schließlich nahm der Tumult so zu, daß Geib den Kongreß schloß und anzeigte, daß er einen neuen Kongreß für nächsten Vormittag 10 Uhr in den Mohren berufe, an dem nur Delegierte mit gelben Legitimationskarten teilnehmen könnten.
Unser Coup war gelungen. Während der Nacht sichteten wir (Bracke, Geib und ich) die Mandate, suchten die der Schweitzerianer heraus, und Geib übersandte sie am frühen Morgen an Tölcke mit dem Ersuchen, er möge sie den betreffenden Delegierten aushändigen. Der Kongreß verlief alsdann ohne jede Störung.
Zu Berichterstattern über Programm und Organisation waren ich und Bracke bestimmt. J.Ph. Becker hatte es sich trotz all meiner Gegengründe nicht nehmen lassen, einen langen Antrag einzubringen, wonach die Partei sich „Allgemeiner deutscher sozialistisch-demokratischer Arbeiterverein, Bestandteil der internationalen Arbeiterassoziation“ nennen solle. Der Antrag fand keine Zustimmung. Programm und Organisation wurden mit geringen Änderungen in der von den Einberufern vorgeschlagenen Fassung angenommen. Die neue Partei erhielt den Namen „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“. Das angenommene Programm lautete:
I. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des freien Volksstaats.
II. Jedes Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende Grundsätze:
1. Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.
2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.
4. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.
5. In Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, gibt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen ermöglicht, seinen Einfluß für das Wohl der Gesamtheit geltend zu machen.
6. In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend.
III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei sind geltend zu machen:
1. Erteilung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes an alle Männer vom 20. Lebensjahr an zur Wahl für das Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die Provinzial- und Gemeindevertretungen wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren.
2. Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vorschlags- und Verwerfungsrecht) durch das Volk.
3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und Konfession.
4. Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.
5. Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche.
6. Obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten.
7. Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen- und Fachgewerbegerichte, Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und unentgeltliche Rechtspflege.
8. Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze; Einführung des Normalarbeitstags; Einschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit.
9. Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer.
10. Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien.
IV. Jedes Mitglied der Partei hat einen monatlichen Beitrag von 1 Groschen (3½ Kreuzer süddeutsch, 5 Kreuzer österreichisch, 12 Centimes) für Parteizwecke zu entrichten. Die Parteigenossen, welche auf das Parteiorgan abonnieren und dies glaubhaft nachweisen, sind während der Dauer des Abonnements ihrer Beitragspflicht enthoben. Sache des Ausschusses ist es, einzelnen Orten den Beitrag zu ermäßigen.
V. Der Beitrag ist monatlich franko an den Parteiausschuß abzuliefern.
VI. Wer drei Monate lang seine Pflichten gegen die Partei nicht erfüllt, wird als Parteimitglied nicht mehr betrachtet.
VII. Mindestens einmal im Jahre findet ein Parteikongreß statt, auf dem über alle die Partei berührende Fragen beraten und beschlossen, der Vorort der Partei sowie der Sitz der Kontrollkommission und der Ort für den nächsten Parteikongreß bestimmt wird. – Die Entschädigung für den Ausschuß respektive einzelne seiner Mitglieder setzt der Kongreß fest.
VIII. Außerordentliche Kongresse finden statt, wenn der Ausschuß oder die Kontrollkommission mit absoluter Majorität dies beschließt oder wenn ein Sechstel sämtlicher Parteimitglieder darauf anträgt.
IX. Zu jedem Kongreß ist die vorläufige Tagesordnung mindestens sechs Wochen vorher durch den Ausschuß im Parteiorgan bekanntzumachen. Die innerhalb der nächsten zehn Tage nach erfolgter Bekanntmachung von seiten der Parteigenossen einlaufenden Anträge sind alsdann mindestens vierzehn Tage vor dem Kongreß als definitive Tagesordnung zu veröffentlichen. Auf dem Kongreß gestellte selbständige Anträge kommen nur dann zur Verhandlung, wenn sich mindestens ein Drittel der Delegierten dafür erklärt.
X. Jeder Delegierte hat eine Stimme. Die Parteimitglieder, welche sich an einem Orte an den Wahlen der Delegierten beteiligen, dürfen nicht mehr als fünf stimmberechtigte Abgeordnete zum Kongreß senden. Parteimitglieder, welche nicht Delegierte sind, haben nur beratende Stimme.
XI. Spätestens drei Wochen nach dem Kongreß muß das Kongreßprotokoll allen Mitgliedern zum Kostenpreise zugänglich gemacht werden. Alle Kongreßbeschlüsse, welche eine Abänderung des Statuts, die Grundsätze und die politische Stellung der Partei oder die Besteuerung derselben betreffen, müssen innerhalb sechs Wochen nach dem Kongreß der Urabstimmung aller Parteimitglieder unterbreitet werden. Einfache Majorität der Abstimmenden entscheidet. Das Resultat der Abstimmung wird im Parteiorgan veröffentlicht.
XII. Die Leitung der Parteigeschäfte ist einem Ausschuß von fünf Personen, als einem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter, einem Schriftführer, einem Kassierer, der eine entsprechende Kaution zu leisten hat, und einem Beisitzer übertragen. Sämtliche Ausschußmitglieder müssen an einem Orte oder in dessen einmeiligem Umkreis wohnhaft sein und werden von den am Vorort der Partei wohnhaften Parteimitgliedern in besonderen Wahlgängen durch Stimmzettel mit absoluter Majorität gewählt. Weder ein Mitglied der Redaktion noch der Expedition des Parteiorgans darf im Ausschuß sein. Treten im Laufe des Jahres im Ausschuß Vakanzen ein, so hat der Vorort – mit Ausnahme des in § VII erwähnten Falles – nach demselben Wahlmodus die Ergänzungswahlen vorzunehmen.
XIII. Der Ausschuß muß innerhalb vierzehn Tagen nach stattgehabtem Kongreß gewählt sein; bis zu dieser Wahl verbleibt dem bisherigen Ausschuß, falls der Kongreß nicht anders verfügt, die Geschäftsführung.
XIV. Der Ausschuß faßt alle Beschlüsse gemeinsam und ist nur dann beschlußfähig, wenn in einer ordentlich einberufenen Sitzung wenigstens drei Mitglieder anwesend sind; derselbe gibt sich, soweit nicht der Kongreß darüber bestimmt, selbst eine Geschäftsordnung.
Der Ausschuß ist dem Parteikongreß für alle seine Handlungen verantwortlich.
XV. Um Eigenmächtigkeiten des Ausschusses möglichst zu vermeiden, konstituiert die Partei eine Kontrollkommission von elf Personen, an die alle von dem Ausschuß unberücksichtigt gelassenen Beschwerden zu richten sind, und die zugleich die Geschäftsführung des Ausschusses zu kontrollieren hat.
XVI. Die Kontrollkommission wählen die Parteimitglieder desjenigen Ortes und seines einmeiligen Umkreises, welcher von dem Parteikongreß als Sitz der Kontrollkommission bestimmt worden ist. Die Wahl erfolgt durch Stimmzettel und hat spätestens vierzehn Tage nach dem Kongreß stattzufinden.
XVII. Die Kontrollkommission ist verpflichtet, die Geschäftsführung, Akten, Bücher, Kasse usw. des Ausschusses mindestens einmal vierteljährlich zu prüfen und zu untersuchen, und ist berechtigt, falls sie begründete Ursache hat und der Ausschuß die Abhilfe der Unregelmäßigkeiten verweigert, einzelne Mitglieder wie den gesamten Ausschuß zu suspendieren sowie die nötigen Schritte für provisorische Weiterführung der Geschäfte zu tun. Es müssen solche Beschlüsse mit Zweidrittelmajorität der Kontrollkommission gefaßt werden und ist, wenn mehr als die Hälfte der Ausschußmitglieder suspendiert wird, innerhalb vier Wochen ein Parteikongreß einzuberufen, der endgültig in der Sache entscheidet.
XVIII. Die Partei gründet eine Zeitung als Organ unter dem Namen Der Volksstaat, Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Das Organ erscheint in Leipzig und ist Eigentum der Partei. Personen und Gehalt des Redaktions- und Expeditionspersonals, des Druckers, Preis des Blattes wird durch den Ausschuß bestimmt. Streitigkeiten hierüber entscheidet die Kontrollkommission, in letzter Instanz der Parteikongreß. Die Haltung des Blattes ist streng dem Parteiprogramm anzupassen. Einsendungen von Parteigenossen, welche demselben entsprechen, sind – soweit der Raum des Blattes ausreicht – unentgeltlich aufzunehmen. Beschwerden über Nichtaufnahme oder tendenziöse Färbung der Einsendungen sind bei dem Ausschuß, in zweiter Instanz bei der Kontrollkommission anzubringen, welcher die endgültige Entscheidung zusteht.
XIX. Die Parteimitglieder verpflichten sich, überall auf Grund des Parteiprogramms die Gründung sozialdemokratischer Arbeitervereine in die Hand zu nehmen.
Im Laufe der Verhandlungen teilte ich mit, daß mir aus dem Revolutionsfonds in Zürich von den Verwaltern desselben, Dr. Ladendorf und Genossen, 900 Taler zur Agitation bewilligt worden seien. Das sei die Geldquelle, die Tölcke und Genossen soviel Schmerzen verursachte, und die sie dem Hitzinger, dem König von Hannover, zuschrieben.
Zum Parteiorgan wurde das Demokratische Wochenblatt bestimmt, das nunmehr vom 1. Oktober ab wöchentlich zweimal unter dem Titel Der Volksstaat, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, erschien. Als Sitz des Ausschusses wurde Braunschweig-Wolfenbüttel, als Sitz der Kontrollkommission Wien gewählt. Man hatte anfangs die Absicht, Leipzig zum Sitze des Ausschusses zu bestimmen. Ich riet entschieden ab. Unsere Propaganda im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei weit leichter, wenn ein Ort wie Braunschweig Sitz der Parteileitung werde, woselbst ausschließlich frühere Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Frage kämen. Unser Einfluß in der neuen Partei bleibe uns gesichert, wir würden uns mit dem Ausschuß zu stellen wissen. So geschah es. Als nächster Kongreßort wurde Stuttgart bestimmt. Die Vertretung auf dem Kongreß der Internationale, der Anfang September in Basel stattfand, wurde Liebknecht übertragen, dem sich später Spier-Wolfenbüttel als Delegierter des Ausschusses anschloß.
Der glänzende Verlauf des Kongresses hatte im Schweitzerschen Lager einen sehr unangenehmen Eindruck erzeugt. Nachdem wir die nach Eisenach entsandten Delegierten Schweitzers von unserem Kongreß ausgeschlossen hatten, tagten diese im „Schiff“, woselbst sie eine Reihe Resolutionen gegen uns faßten. So lautete eine derselben, die sich gegen Liebknecht und mich persönlich richtete: „In Erwägung der gehörten Tatsachen beschließt der Kongreß, daß die Herren Liebknecht und Bebel unwürdig sind, daß der Kongreß sich weiter mit ihnen befaßt.“ Tölcke veröffentlichte im Sozialdemokrat vom 15. August einen Aufruf an die Parteigenossen, der mit den Worten begann: „Der Kongreß zu Eisenach ist vorüber. Mit Stolz und mit voller Zuversicht auf die Zukunft der Partei können wir auf den Verlauf und das Resultat desselben zurückblicken.“
Nach dem Schlusse des Kongresses hielt der Verband der deutschen Arbeitervereine seinen Vereinstag ab. Zum Vorsitzenden wurde ich, Bürger-Göppingen zum Stellvertreter, Motteler zum Schriftführer gewählt. Crimmitschau erhielt den Auftrag, die Geschäftsführung des Vorortes zu prüfen und im Parteiorgan Bericht zu erstatten. Aus dem von mir erstatteten Bericht ging hervor, daß infolge der Spaltung in Nürnberg der Verband auf 72 Vereine gesunken war, daß im Laufe des Jahres weitere 5 ausschieden, aber 42 Vereine sich neu anschlossen, so daß schließlich zum Verband 109 Vereine mit rund 10.000 Mitgliedern gehörten. Die Einnahmen betrugen 470 Taler, die Ausgaben 457 Taler, der Revolutionsfonds hatte 934 Taler gesteuert, von denen 800 Taler für Unterstützung des Demokratischen Wochenblatts und für Agitation ausgegeben worden waren. Alsdann beschloß die Versammlung einstimmig die Auslösung des Verbandes nach sechsjährigem Bestehen und Anschluß an die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der vorhandene Kassenbestand wurde der letzteren überwiesen, das vorhandene Inventar (Akten, Briefe, Protokolle) wurde mir zur Aufbewahrung überlassen. Nach einem warmen Danke an den Vorortsvorstand für dessen Mühewaltung trennte man sich mit dem Wunsche auf Wiedersehen in Stuttgart.
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Zuletzt aktualisiert am 13.7.2007