August Bebel

Rede im Reichstag
zum Massenstreik im Kriegsfall

(11. November 1911)


Stenographische Berichte, 12. Legislaturperiode, 2. Session, Bd.268 am 11.11.1911, S.780f.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917, Bd.2, Frankfurt/M, 1978, S.690-693
Transkription und HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Weiter hat man behauptet, die Sozialdemokratie habe Agitation betrieben und habe die Militärpflichtigen aufgefordert, der Einberufungsorder nicht zu folgen. Die Partei habe sogar im Falle des Krieges mit dem Massenstreik gedroht. Insbesondere hat der Herr Kollege Haußmann die Worte seines Parteifreundes Wiemer dahin ausgelegt, obgleich Herr Kollege Wiemer davon kein Wort gesagt hat. (Zuruf links: Doch, doch! Massenstreik!) – Sie brauchen gar nicht stolz darauf zu sein, Herr Kollege Wiemer, das ebenfalls behauptet zu haben. (Heiterkeit.) Ich will Ihnen sagen, dass, was Sie behaupten, einfach nicht wahr ist. Und wenn dann der Herr Abgeordnete Erzberger behauptet, dass der Redakteur Däumig den Massenstreik in einer Rede befürwortet hätte und der „Vorwärts“ nachher in einem Artikel einer solchen Ansicht beigepflichtet und ebenfalls dazu aufgefordert habe, man solle im Falle der Einberufung nicht folgen, so ist das von seilen des Herrn Abgeordneten Erzberger eine leichtfertige Behauptung, für die er nicht den geringsten Beweis zu erbringen imstande ist. Der „Vorwärts“ hat einen solchen Artikel nicht gebracht, er hat sich in dieser Sache durchaus reserviert verhalten, er weiß, dass Anschauungen, wie sie der Genosse Däumig ausgesprochen haben sollte, nicht die Ansicht der Partei sind. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist auch nicht wahr, dass die Treptower Resolution, also jene, die die Massendemonstration für den Frieden beschloss, etwas derartiges enthalten habe. Diese Resolution stand auf dem Boden, den die Partei seit langen Jahren eingenommen hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn der Herr Abgeordnete Erzberger sich darauf bezog, dass der Ausschuss der christlich-sozialen Partei, der angeblich ein und eine Viertelmillion Mitglieder hinter sich habe, das Verhalten der sozialdemokratischen Partei als Verrat am deutschen Volk und am Vaterland gebrandmarkt habe, dann hat er das getan, weil er von der Annahme ausging, Däumig habe den Massenstreik im Kriegsfall gefordert, und das sei die allgemeine Anschauung der Partei. Nach dieser Richtung ging der Protest, es war also ein Lufthieb. Hätte der „Vorwärts“ getan, was der Herr Abgeordnete Erzberger ihm unterstellte, dann wäre § 112 des Strafgesetzbuches in Anwendung gekommen, der besagt:

Wer eine Person des Soldatenstandes, es sei des Deutschen Heeres oder der Kaiserlichen Marine, auffordert oder anreizt, dem Befehle des Oberen nicht Gehorsam zu leisten, wer insbesondere eine Person, welche zum Beurlaubtenstande gehört, auffordert oder anreizt, der Einberufung zum Dienste nicht zu folgen, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

Diese Bestimmung ist sehr klar und sehr deutlich. Man wäre also unrettbar gegen den „Vorwärts“ eingeschritten. Die Staatsanwaltschaft würde sich eine Pflichtvergessenheit haben zuschulden kommen lassen, wenn sie es nicht tat, und das Kriegsministerium würde die Staatsanwaltschaft zur Ordnung gerufen haben, wenn sie nicht eingeschritten wäre. (Zwischenrufe.) Vom Standpunkt der herrschenden Klassen und des Staates wäre es eine Pflichtvergessenheit der Staatsanwaltschaft gewesen; sie wäre auch sicher eingeschritten, wenn sie gekonnt hätte.

Ich komme nun zu der Frage des Massenstreiks im Kriegsfall. Richtig ist, dass Herr Däumig in einer Rede in einer Versammlung organisierter Parteigenossen ein Referat über die Marokkoangelegenheit gehalten hat, in welchem er ausgeführt haben soll, es ginge künftig nicht mehr mit bloßen Reden, wie bisher, man werde die Frage aufwerfen müssen, ob im Ernstfall nicht andere Mittel in Anwendung zu kommen hätten wie etwa der Massenstreik. Eine Debatte fand nach der Natur der Versammlung nicht statt. Die Rede des Genossen Däumig hat dann neben der Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft auch die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Presse hervorgerufen. Es gab eine große Hetze nicht bloß gegen den Genossen Däumig, sondern ähnlich, wie heute der Herr Kollege Erzberger sich hat gehen lassen, gegen die gesamte sozialdemokratische Partei. Das war Veranlassung, dass ich auf die Frage des Massenstreiks auf dem Jenaer Parteitag zu sprechen kam, wo ich das Referat über die Marokkofrage hatte. Der Herr Abgeordnete Erzberger meinte, ich hätte mich mit außerordentlicher Geschicklichkeit um die Stellungnahme zu dieser Frage gedrückt. Das kann nur von ihm geäußert werden unter der Voraussetzung, dass er den Verhandlungen des Jenaer Parteitags nicht gefolgt ist bzw. das Protokoll des Jenaer Parteitages nicht kennt, denn sonst hätte er eine Behauptung aufgestellt, die er nur wider besseres Wissen machen konnte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich habe mich nicht mit besonderer Geschicklichkeit um die Frage herumgedrückt, sondern ich habe vielmehr, wenn der Ausdruck erlaubt ist, den Ochsen bei den Hörnern gepackt. Ich habe ausgeführt: man hat die Rede eines Genossen von uns, der sich für den Massenstreik im Kriegsfall ausgesprochen haben soll, in der Presse benutzt, um gegen die Partei zu hetzen und die Dinge so darzustellen, als wenn die Partei entschlossen und darüber einig sei, im Falle eines Krieges zum Massenstreik zu greifen. Ich habe weiter erklärt: wir hielten es nicht für notwendig, uns hier in Jena auf die Erörterung dieser Frage einzulassen, da die Stellung der Partei zur Massenstreikfrage im Kriegsfalle bereits längst festliege; aber nachdem die Sache zur öffentlichen Erörterung gekommen ist, wollen wir aussprechen, was wir seinerzeit getan und festgelegt haben. Das ist auf dem internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart im August 1907 zum soundsovielten Male geschehen. Ich will bemerken: die Frage des Massenstreiks, des Militärstreiks im Kriege ist seit 1892 auf den verschiedenen internationalen Kongressen behandelt worden. Bei den ersten Gelegenheiten waren es namentlich holländische Vertreter, die den Militär- und Massenstreik bei Kriegsausbruch verlangten. Nun, vom Jahre 1892 an bis zum Jahre 1907 war es die deutsche Sozialdemokratie, die durch ihre Vertreter in der bestimmtesten Weise erklärt hat: auf solche Vorschläge lassen wir uns nicht ein. (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben regelmäßig einstimmig gegen solche Resolutionen gestimmt. Die Frage kam wieder auf dem internationalen Kongress in Stuttgart zur Sprache. Die Franzosen, die Engländer, die meisten Nationen, die dort Vertreter hatten, waren dafür, dass in der Resolution, die zur Militär- und Kriegsfrage beschlossen werden sollte, auch ein Satz aufgenommen werde, der aussprach, dass im Falle des Kriegs die Arbeiter mit dem Massenstreik antworten müssten. Darauf habe ich im Namen meiner Parteifreunde, und zwar im einstimmigen Auftrag derselben erklärt: die Resolution nehmen wir nicht an, wollt ihr sie annehmen, dann gut, wir werden aber dagegen protestieren. Darauf sagte man: wenn ihr Deutschen als eine der stärksten Nationen gegen eine solche Resolution protestiert, können wir dieselbe natürlich nicht vorschlagen. Darauf wurde eine Kommission niedergesetzt, und diese setzte nach langen Verhandlungen eine Subkommission ein. Diese bestand aus drei Deutschen, aus dem Abgeordneten v. Vollmar, dem früheren Abgeordneten Dr. Haase und mir. Wir haben daraufhin eine Resolution vorgeschlagen, in der der entscheidende Satz dahin lautet, „dass jede Nationalität im gegebenen Falle mit den ihr am wirksamsten scheinenden Mitteln sich gegen den Ausbruch eines Krieges erklären soll“, also mit den ihr am wirksamsten erscheinenden Mitteln! (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten.)

Damit war gesagt: wenn ihr Deutschen den Massenstreik im Kriegsfall nicht mitmachen könnt oder wollt, seid ihr dazu nicht verpflichtet.

Das war der Weg, der betreten worden ist, und dieser Weg bedeutet, meine Herren, dass die Partei an einen Massenstreik im Kriegsfall nicht denkt, nichts damit zu tun hat. Ich habe für notwendig erachtet, dieses hier klarzustellen. Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ein sonst mit den Verhältnissen der sozialdemokratischen Partei und ihren Beschlüssen so vertrauter Abgeordnete wie der Herr Abgeordnete Erzberger – von den Abgeordneten Wiemer und Haußmann wundert es mich nicht, wenn sie nichts wissen; (Heiterkeit) denen sind die sozialdemokratischen Parteiverhältnisse böhmische Dörfer, (große Heiterkeit) der dort (nach der Mitte) weiß etwas mehr. (Zurufe links: Das macht die frühere Bundesgenossenschaft! – Zurufe von den Sozialdemokraten.) – Ihr habt ja hier 10 Jahre lang mit dem Zentrum gemogelt! (Stürmische Heiterkeit. – Zurufe links.) Meine Herren, wenn man sich gegenseitig hier solche Vorwürfe macht, kommen Sie mir vor wie die Auguren Roms, die, wenn sie einander begegneten, sich anlachten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Also, meine Herren, nachdem das in der Weise wiederholt worden ist, und nachdem zu befürchten ist, dass diese lügenhaften Behauptungen – anders kann ich sie nicht bezeichnen – im Wahlkampf gegen unsere Partei ausgespielt werden, habe ich mich veranlasst gesehen, die Sache richtig zu stellen. Wer aber nunmehr, nachdem ich die Sache hier vor dem Reichstag und vor der Nation richtig gestellt habe, diese Behauptung wiederum gegen uns benutzt, der ist ein Verleumder, der handelt wider besseres Wissen, und den werden meine Parteigenossen, hoffe ich, in der rechten Weise für seine Verleumdung zu züchtigen wissen. (Lebhaftes Bravo bei den Sozialdemokraten.)


Zuletzt aktualisiert am 2.7.2008