MIA > Deutsch > Bebel > Aus meinem Leben, 1. Teil
Die Zahl der Arbeitervereine war namentlich in Sachsen erheblich geworden. Außer uns in Leipzig arbeiteten Julius Motteler, den ich 1863 auf dem Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig kennen lernte, und Wilhelm Stolle in Crimmitschau, Kupferschmied Försterling, bevor er zu den Lassalleanern überging, und Schuhmacher A. Knöfel in Dresden, Weber Pils in Frankenberg, die Weber Lippold und Franz in Glauchau, Buchbinder Werner in Lichtenstein-Callnberg, Weber Bohne in Hohenstein-Ernstthal usw. an der Gründung von Arbeitervereinen. Unsere Wirksamkeit dehnten wir auch auf Thüringen aus. Im unteren Erzgebirge waren unter der Wirker- und Weberbevölkerung Dutzende von Arbeiterlesevereinen gegründet worden, in denen ein reges geistiges Leben herrschte. Ähnliche Erscheinungen zeigten sich auch im übrigen Deutschland. Namentlich wurden in Württemberg eine große Zahl Arbeitervereine gegründet, die bereits 1865 sich zu einem Gauverband zusammenschlossen und bald darauf ein eigenes Organ ins Leben riefen. Auch in Baden und dem Königreich Hannover traten viele Arbeitervereine, meist Bildungsvereine, ins Leben.
Die Rührigkeit und Geschlossenheit, mit der andererseits die Lassalleaner arbeiteten, rief auch auf der Gegenseite das Bedürfnis nach Zusammenschluß hervor. Dieser Zusammenschluß konnte aber nur ein loser sein, denn ein gemeinsames festes Ziel, wie es die Lassalleaner hatten, für das sie mit Begeisterung und Opfermut kämpften, fehlte den Vereinen. Das einzige, in dem wir einig waren, war die Gegnerschaft gegen die Lassalleaner, und daß man angeblich keine Politik in den Vereinen treiben wolle. Tatsächlich aber suchten die Leiter der meisten dieser Vereine oder ihre Hintermänner den Verein, auf den sie Einfluß hatten, für ihre Parteipolitik zu gewinnen. Zu diesen Vereinen waren alle Nuancen der bürgerlichen Parteien jener Zeit vertreten. Vom republikanischen Demokraten bis zum rechtsstehenden Nationalvereinler, aus deren Mitte später (1867) die nationalliberale Partei gebildet wurde. Indes lösten sich schon 1865 die radikalen, großdeutsch gesinnten Elemente vom Nationalverein los und bilden die demokratische Volkspartei, deren Organ das in Mannheim erscheinende Deutsche Wochenblatt wurde.
Einstweilen vertrug man sich in den Vereinen so gut es ging. Die politische Situation drängte noch zu keiner klaren Entscheidung, denn der Verfassungskampf gegen das Ministerium Bismarck in Preußen machte ein geschlossenes Zusammengehen nötig. Der Deutsche Reformverein, der sich im Gegensatz zum Nationalverein gebildet hatte und für die Beibehaltung von Gesamtösterreich zum Deutschen Reiche eintrat, war ein Sammelsurium von süddeutsch-partikularistischen und österreichischen Elementen mit stark ultramontanem Einschlag. Dieser hatte für die Arbeiterbewegung keine Bedeutung. Sein Eintreten für die österreichische Bundesreform, die in der Hauptsache in einem deutschen Parlament bestand, das aus den Landtagen der einzelnen Staaten gewählt werden sollte, erweckte nirgends Sympathien. Zu einer klaren Stellungnahme in der deutschen Frage kam man übrigens in den Arbeitervereinen nicht, ebensowenig in der schleswig-holsteinschen Frage, die mit dem Jahre 1864 anfing, sehr aktuell zu werden.
Die Arbeiterbewegung hatte auch im Westen Deutschlands, insbesondere im Maingau, Boden gefaßt. In Frankfurt a.M. kam es gelegentlich eines Arbeitervereinstags, den der Frankfurter Arbeiterbildungsverein, 29. Mai 1862, einberufen hatte, zu scharfen Auseinandersetzungen über die politische Stellung der Arbeiter. Hier trat der Rechtsanwalt J.B. v. Schweitzer – der später eine Hauptrolle in der Bewegung spielte – für eine besondere politische Organisation der Arbeiter ein, offenbar unter dem Einfluß von Lassalles Vortrag: Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes. Seitdem hörten auch im Maingau die Meinungskämpfe nicht auf. Das Erscheinen von Lassalles Antwortschreiben schürte das Feuer. In Frankfurt machte sich jetzt auch Bernhard Becker bemerklich, in dem ich eine Reihe Jahre später einen mäßig veranlagten und eitlen Menschen kennen lernte, der auch ungelenk in der Rede war. Der Versuch, auf einem Arbeitertag in Rödelheim – 19. April 1863 –, auf dem Professor Louis Büchner einen Vortrag über Lassalles Programm hielt, eine Erklärung gegen Lassalle durchzusetzen, mißglückte. Dagegen erschien Lassalle selbst am 17. Mai in Frankfurt a.M., um seine Sache zu vertreten. Schulze-Delitzsch, der ebenfalls eingeladen war, entschuldigte sein Fernbleiben durch Überhäufung mit Geschäften. Er tat wohl daran. Wie ich später Schulze-Delitzsch persönlich kennen lernte, wäre er Lassalle gegenüber in jeder Beziehung unterlegen. Sonnemann, der vor Lassalle sprach, hatte dieses Schicksal.
Die Antwort auf jene Vorgänge im Maingau war ein Ausruf, datiert vom 19. Mai, durch den die deutschen Arbeitervereine zu einem Vereinstag nach Frankfurt a.M. für den 7. Juni 1863 eingeladen wurden. Unterzeichnet war der Aufruf vom Zentralkomitee der Arbeiter des Maingaus, von den Arbeitervereinen Berlin, Kassel, Chemnitz und Nürnberg und dem Handwerkerverein zu Düsseldorf.
In dem Aufruf wurde dem Leipziger Zentralkomitee die Schuld beigemessen, die Einberufung eines Arbeiterkongresses auf lange hinaus unmöglich gemacht zu haben. Der Bewegung selbst liege aber „ein so wichtiger und fruchtbarer Gedanke von so weittragender Bedeutung für eine friedliche, glückliche Entwicklung der Wohlfahrt unseres ganzen Volkes und Vaterlandes zugrunde, daß sie durch den Mißgriff einzelner in ihrem gesunden Verlauf nimmermehr gestört werden dürfe. Es sei die Pflicht aller, denen die Sache selbst am Herzen liege, mit allen Kräften zu verhüten, daß nicht das Ende eines durch Verschulden einzelner verfehlten Versuchs der Anfang einer unheilvollen Spaltung und Zersplitterung der ganzen Bewegung werde.“
Diese Spaltung war aber bereits vorhanden, und sie war, wie ich später erkannte, eine historische Notwendigkeit. Auf dem Vereinstag in Frankfurt a.M. waren 54 Vereine aus 48 Städten und einer freien Arbeiterversammlung (Leipzig) durch 110 Delegierte vertreten. Wäre die Einberufung des Vereinstags nicht Hals über Kopf erfolgt, so daß sie einer Überrumplung ähnlich sah, was den Einberufern in der Vorversammlung auch vorgehalten wurde, die Vertretung wäre eine erheblich stärkere geworden. Der Leipziger Gewerbliche Bildungsverein wählte mich mit 112 von 127 Stimmen zu seinem Vertreter. Außerdem waren in einer Leipziger Arbeiterversammlung Professor Roßmäßler und der Werkführer Bitter als Delegierte gewählt worden.
Als ich in Frankfurt in der Vorversammlung erschien, wurde ich August Röckel, der Vorsitzender des Lokalkomitees war, vorgestellt, der mich mit den Worten anredete: „Nun, ihr Sachsen, habt ihr endlich ausgeschlafen? Es wird Zeit.“ Etwas geärgert antwortete ich: „Wir sind früher aufgestanden als viele andere!“ Röckel lachte, er habe es nicht bös gemeint.
Unter den Delegierten befanden sich unter anderen Hermann Becker, der rote Becker, der seinerzeit im Kölner Kommunistenprozeß zu langer Festungshaft verurteilt worden war, Eugen Richter, den man kurz zuvor wegen seiner politischen Tätigkeit als Assessor gemaßregelt hatte, ferner Julius Knorr aus München, der Besitzer der Münchener Neuesten Nachrichten, die damals als ein kleines Blättchen erschienen, aber ihrem Besitzer ein großes Vermögen einbrachten.
Ob der rote Becker seinen Beinamen seinem roten Haare, das nur noch spärlich den mächtigen Kopf bedeckte, und seinem kurz geschnittenen roten Schnurrbart oder seiner früheren roten Gesinnung verdankte, weiß ich nicht. Becker war ein großer, stattlicher, sehr jovialer Herr, dem man die Freude an einem guten Tropfen und einem guten Bissen vom Gesicht ablesen konnte. Er war auch mitteilsam und gesprächig, im Gegensatz zu Eugen Richter, dessen frostiges, zurückhaltendes Wesen mir schon damals auffiel; Richter machte den Eindruck, als sähe er uns alle mit souveräner Geringschätzung an. Der Zufall wollte, daß ich eines Tages in der Mittagspause mit Becker, Eugen Richter und einigen anderen Delegierten einen Spaziergang um die Stadtpromenade machte. Hierbei kam die Unterhaltung auch auf Lassalle. Becker äußerte, Lassalle habe nur aus verletzter Eitelkeit, weil die Fortschrittspartei ihn nicht auf den Schild gehoben und ihm kein Landtagsmandat verschaffte, sein Pronunziamento gegen sie unternommen. Wie Guido Weiß erzählte, hatte der alte Waldeck geäußert, es sei ein Fehler, daß man Lassalle zurückgestoßen habe. Ferner deutete Becker an, Lassalle habe auch durch allerlei Frauengeschichten „sittliche Bedenken“ in der Fortschrittspartei hervorgerufen, was in Anbetracht der “sittlichen Verfehlungen“, die andere Führer der Fortschrittspartei jener Zeit sich zuschulden kommen ließen, etwas nach Heuchelei aussah. Becker machte seine Äußerungen, wie ich bemerken will, ohne Animosität gegen Lassalle, wie er sich denn überhaupt nie zu Angriffen gegen seine ehemaligen Parteigenossen hinreißen ließ, im Gegensatz zu Miquel, der später auch für das Sozialistengesetz stimmte.
Die Leitung des Vereinstags wurde Handelsschuldirektor Röhrich-Frankfurt a.M. als erstem und Dittmann-Berlin als zweitem Vorsitzenden übertragen. Als ersten Punkt der Tagesordnung hatte Roßmäßler einen Antrag eingebracht, der fast einstimmige Annahme fand und lautete:
„Der erste Vereinstag deutscher Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereine stellt an die Spitze seiner Beratungen und Beschlüsse den Ausspruch, daß er es für erste Pflicht der in ihm vertretenen und aller Arbeitervereine sowohl als überhaupt des gesamten Arbeiterstandes hält, bei der Verfolgung seines Strebens nach geistiger, politischer, bürgerlicher und wirtschaftlicher Hebung des Arbeiterstandes einig unter sich, einig mit allen nach des deutschen Vaterlandes Freiheit und Größe Strebenden, einig und mithelfend zu sein mit allen, welche an der Veredlung der Menschheit arbeiten.“
Diese Resolution drückt mehr als lange Reden den Standpunkt des Vereinstags aus. Obgleich diese Resolution direkt gegen den Lassalleanismus gerichtet war, wie die ganzen Verhandlungen des Vereinstags, wurde, soweit ich mich erinnere, der Name Lassalle nur von einem Redner erwähnt. Diese Ignorierung geschah nicht auf Verabredung; es ist wohl anzunehmen, sie geschah, weil man an die Zukunft der von Lassalle hervorgerufenen Bewegung noch nicht glaubte oder auch, weil man ihm nicht die Ehre antun wollte, seinen Namen zu nennen. Über den zweiten Punkt der Tagesordnung: Wesen und Zweck der Arbeiterbildungsvereine, referierte Eichelsdörfer-Mannheim, der auf der linken Seite der Versammlung stand. Ich beteiligte mich ebenfalls an der Debatte. Bemerkenswert ist, daß ein Amendement Dittmanns, das forderte, daß die Vereine auch Lehrkräfte für Ausbildung in der Volkswirtschaftslehre und in der Kenntnis der Landesgesetzgebung zu gewinnen suchen sollten, mit 25 gegen 25 Stimmen abgelehnt wurde. Dem Arbeiter von heute ist diese Rückständigkeit kaum begreiflich.
Ein anderer Punkt der Tagesordnung bildete die Forderung nach Beseitigung der Hemmnisse, die der Freiheit der Arbeit entgegenstünden, über den Dittmann referierte. Seine Resolution forderte Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Beseitigung der Erschwernisse der Eheschließung. Ein weiterer Punkt der Tagesordnung betraf die Stellung der Arbeiter zu den Spar- und Vorschußvereinen, den Konsum- und Produktivgenossenschaften, deren Gründung der Vereinstag den Arbeitern empfahl. Desgleichen empfahl er Gründung von Genossenschaften zur gemeinschaftlichen Benutzung von Werkstätten mit Triebkräften, als das beste Mittel zur Förderung des nationalen Wohles und der bürgerlichen Selbständigkeit der Arbeiter. In dieser Resolution wurde besonders darauf hingewiesen, daß dieses alles nach Schulze-Delitzschen Vorschlägen durchgeführt werden solle. Auch sollten Arbeiter und Arbeitgeber gemeinsam das Zustandekommen solcher Genossenschaften fördern, eine Auffassung, die nur in einer auf kleinbürgerlichem Standpunkt stehenden Versammlung Zustimmung finden konnte. Endlich sprach sich der Vereinstag für Schaffung von Alters- und Invalidenversicherungskassen aus, die geeignet seien, „manche Sorge wenigstens teilweise zu beseitigen“. Hier lag wenigstens keine Überschätzung dieser Kassen vor. In der Organisationsfrage wurde die Gründung von Gauverbänden mit monatlichen Zusammenkünften der Delegierten befürwortet, um die Gründung neuer Vereine zu fördern und unter den bestehenden Vereinen den Verkehr zu unterhalten. Ich nahm bei diesem Punkte das zweitemal das Wort, um mich gegen die Zulassung von Vertretern freier Arbeiterversammlungen auszusprechen. Gestützt auf meine damaligen Erfahrungen führte ich aus, daß mir diese Versammlungen bisher nicht imponiert hätten. Es fehle den Teilnehmern die vorbereitende Aufklärung, die in den Vereinen erreicht würde, und so folgten sie dem augenblicklichen Eindruck, den ein gewandter Redner erziele. Die Fußangeln der Vereinsgesetze fürchtete ich einstweilen nicht, bisher hätte man uns wenigstens in Sachsen gewähren lassen, doch könne ein Rückschlag kommen. Gauverbände hielt ich für nützlich. Diese Ausführungen riefen meinen Leipziger Widerpart Bitter auf die Tribüne, der gegen mein Urteil über den Wert der Arbeiterversammlungen protestierte. Diese seien viel besser, als ich sie schilderte, und mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß man das Vereinsgesetz wieder scharf gegen uns anwende, müßten wir uns die Vertretung durch freie Arbeiterversammlungen als Rückendeckung sichern.
Die schließlich angenommene Organisation lautete:
In den ständigen Ausschuß wurden unter anderen gewählt: Sonnemann, Max Wirth aus Frankfurt a.M., Eichelsdörfer-Mannheim, Dittmann-Berlin usw. Die Seele dieser neuen Organisation wurde Sonnemann, der die Sekretärarbeiten und die eigentliche Leitung übernahm.
Die Mittel, die dem Ausschuß aus der Organisation zur Verfügung standen, waren sehr unbedeutend, und selbst den geringen Beitrag von zwei Taler pro Jahr zahlten viele Vereine nicht. Opfer für einen gemeinsamen Zweck zu bringen, dafür waren damals die antisozialistischen Arbeitervereine nicht zu haben, darin unterschieden sie sich sehr unvorteilhaft von den Lassalleanern. Weil die Mittel fehlten, wandte sich der Ausschuß im Laufe des Sommers an den Nationalverein und erhielt von diesem 500 Taler, die auch in den nächsten zwei Jahren gezahlt wurden. Ebenso wandte sich Sonnemann persönlich an eine Reihe großer Unternehmer, um von diesen Mittel zu erhalten. Aber die Abneigung gegen alles, was Arbeiterverein heißt, war schon damals instinktiv bei unseren Bourgeois vorhanden, und so flossen von dieser Seite die Beiträge sehr spärlich.
Hier möchte ich auf einen Vorfall zu sprechen kommen, der sich zwar erst im übernächsten Jahre (Sommer 1865) abspielte, aber vierzig Jahre später in der Kölnischen Zeitung in einer für mich ungünstigen Weise auszunutzen versucht wurde.
In Sachsen war der Kampf gegen die Anhänger Lassalles besonders heftig. Die für jene Zeit hochentwickelten industriellen Verhältnisse in Sachsen schienen für die sozialistischen Ideen einen besonders günstigen Boden zu bieten. Um aber die Agitation betreiben zu können, fehlten uns die Mittel. Was immer wir für Agitation aufbrachten, es langte nicht, obgleich die Redner elend bezahlt wurden. So setzten sich eines Tages Dr. Eras und Schriftsteller Weithmann – ein Württemberger, der eine katilinarische Existenz führte – hin und verfaßten ein überschwenglich gehaltenes Schreiben an den Vorstand des Nationalvereins, in dem sie um Geld für die Agitation gegen die Lassalleaner baten. Ich wurde erst nachträglich von dem Schreiben verständigt und gab auf ihr Ansuchen meine Unterschrift, außerdem unterzeichneten Eras und Weithmann. Die Kölnische Zeitung, die dieses Schreiben und mein Dankschreiben für die empfangenen 200 Taler – nicht 300, wie sie behauptete – vor einigen Jahren veröffentlichte, sprach die Vermutung aus, alle drei Unterschriften rührten von mir. Gegen diese Verdächtigung muß ich mich entschieden verwahren. In dem Dankschreiben führte ich aus, daß wir namentlich Literatur für die Vereine zu beschaffen beabsichtigten, und könnte der Vorstand des Nationalvereins in der Beziehung seinen Einfluß bei den Buchhändlern geltend machen, daß sie uns diese billig überließen. Daß er die Unterstützung gewährte, zeige, daß er mehr Interesse für die Bewegung habe, als man ihm verschiedenseitig vorwerfe. Das Geld wurde indes namentlich zu Agitationsreisen verwandt; es wurde aber sehr sparsam ausgegeben, denn als Ende 1866 und Anfang 1867 die Agitation für die Wahlen zum norddeutschen Reichstag einsetzte, waren von den 200 Talern noch 120 vorhanden, die jetzt ihre Verwendung fanden. Das war allerdings eine Verwendung, die nicht vorgesehen war. Aber von 1865 bis 1866 änderte sich eben die Situation, und trat hüben und drüben eine so rasche Wandlung in den Ansichten ein, daß nur noch sehr wenige auf dem alten Standpunkt stehen blieben. Der Nationalverein litt unter dieser Wandlung am allermeisten, der von da ab in rascher Auflösung begriffen und tatsächlich längst tot war, als er im Herbst 1867 offiziell seine Auflösung beschloß. Daß wir die 200 Taler erhalten hatten, ärgerte viele. Es war namentlich Dr. Hans Blum, der das nicht verwinden konnte. Er hielt sich ganz besonders verpflichtet, bei der Wahlagitation mir entgegenzutreten und mir zum Vorwurf zu machen, daß wir jenes Geld angenommen hätten. Er mußte aber die Entdeckung machen, daß all seine Mühe, mir zu schaden, vergeblich war.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich feststellen, daß ich niemals Mitglied des Nationalvereins war, wie mehrfach behauptet worden ist. Damit drücke ich keine Gegnerschaft gegen denselben zu jener Zeit aus, aber neben all den großen materiellen Opfern, die mir meine Stellung und Tätigkeit in der Arbeiterbewegung auferlegten, auch noch einen Beitrag für den Nationalverein zu zahlen, schien mir überflüssig, denn mein Einkommen war ein sehr schmales. Ich begnügte mich, um mit Schulze-Delitzsch zu reden, „geistiges Ehrenmitglied“ des Nationalvereins zu sein.
In Leipzig empfand man das Bedürfnis, als Gegengewicht gegen das Auftreten Lassalles und gegen die Agitation seiner Anhänger einen Hauptschlag zu führen. Ich erhielt also den Auftrag, mich mit Schulze-Delitzsch wegen einer Versammlung in Verbindung zu setzen. Dieser erklärte sich dazu bereit. In seiner Antwort setzte er mir auseinander, daß wir in Sachsen besonders aufpassen müßten, die sächsischen Arbeiter hätten schon 1848 und 1849 Neigung für kommunistische und sozialistische Ideen gehabt. Im Laufe des Januar 1864 kam Schulze-Delitzsch nach Leipzig.
Es war vereinbart worden, daß ich die Versammlung mit einer Begrüßung Schulzes eröffnen und alsdann zum Vorsitzenden gewählt werden sollte. Aber ich hatte Pech. Ich eröffnete die Versammlung, die von 4.000 bis 5.000 Personen besucht war, blieb aber mitten in der Eröffnungsrede – die ich einstudiert hatte – elend stecken. Mein Temperament war mit meinen Gedanken durchgegangen. Ich hätte vor Scham in den Boden sinken mögen. Das Ende war, daß nicht ich, sondern Dolge zum Vorsitzenden gewählt wurde. Ich gelobte mir jetzt, nie mehr eine Rede einzustudieren, und bin gut damit gefahren. Schulze-Delitzsch besaß kein angenehmes Organ, auch war sein Vortrag trocken und seinem Inhalt nach nicht geeignet, Begeisterung zu erwecken. Er brachte für viele eine Enttäuschung. Die Entwicklung nach links hielt er nicht auf.
Den Beschluß des Frankfurter Vereinstags, die Gründung von Gauverbänden zu betreiben, versuchten wir in Sachsen zu verwirklichen. Da aber die bestehende Gesetzgebung dem im Wege stand, suchten wir bei dem Ministerium Beust um Genehmigung nach. Auf einer Landesversammlung, die im Sommer 1864 unter meinem Vorsitz tagte, kam das Schreiben des Herrn v. Beust zur Verlesung, wonach der Minister den Gauverband gestatten werde, wenn die Vereine sich verpflichteten, sich weder mit politischen und sozialen, noch überhaupt mit öffentlichen Angelegenheiten zu beschäftigen. Darauf beantragte ich folgende Resolution, die einstimmig angenommen wurde:
„Die sächsischen Arbeitervereine danken für das Gnadengeschenk des Herrn v. Beust und ziehen es vor, von der Gründung eines Gauverbandes abzusehen.“
Eine zweite Resolution, lautend: „Die versammelten Deputierten fordern die sächsischen Arbeiter auf, mit aller Energie für die Beseitigung des bestehenden Vereinsgesetzes einzutreten“, wollte der überwachende Polizeibeamte nicht zur Abstimmung kommen lassen, weil dieses eine politische Handlung sei. Ich geriet darüber mit ihm in eine scharfe Auseinandersetzung, fügte mich aber unter Protest, als er mit der Auflösung der Konferenz drohte.
Am 31. August 1864 trug der Telegraph die Kunde durch die Welt, daß Ferdinand Lassalle an den Folgen eines Duells in Genf verschieden sei. Der Eindruck, den diese Nachricht hervorrief, war ein tiefer. Der weitaus größte Teil seiner Gegner atmete auf, als wenn er von einem Alp befreit sei; sie hofften, daß es nunmehr mit der von ihm hervorgerufenen Bewegung zu Ende gehen werde. Und in der Tat schien dieses anfangs so. Nicht nur zählte sein Verein bei seinem Tode trotz riesenhafter Arbeit erst wenige tausend Mitglieder, diese gerieten sich auch alsbald untereinander in die Haare. Dann hatte Lassalle unbegreiflicherweise in dem Schriftsteller Bernhard Becker, den er als seinen Nachfolger im Präsidium des Vereins empfohlen hatte, einen Mann gewählt, der in keiner Richtung seiner Aufgabe gewachsen war.
Daß aber auch manche Gegner der Bedeutung Lassalles gerecht wurden, dafür spricht ein Artikel in der Ende 1862 gegründeten Koburger Allgemeinen Arbeiterzeitung, die von dem Rechtsanwalt Dr. Streit in Koburg, dem Geschäftsführer des Nationalvereins, ins Leben gerufen worden war. Dieselbe hatte bisher, wenn auch maßvoll, Lassalle bekämpft, das hielt sie aber nicht ab, ihm einen ehrenvollen Nachruf zu widmen, an dessen Schluß es hieß:
„Ein Teil der liberalen Partei und der liberalen Presse, derselbe Teil, der ihn am bittersten und dennoch mit dem wenigsten Recht angefeindet, eben diejenigen, welche seine Keulenschläge am meisten verdienten, mögen jetzt im stillen seines Todes sich freuen. Wir beklagen den Tod eines Gegners, den nur Ungerechtigkeit oder Beschränktheit sich erlauben mag, mit dem gewöhnlichen Maße zu messen.“
Bekanntlich trieb die Gräfin Hatzfeldt, die langjährige intime Freundin Lassalles, mit der Leiche des verstorbenen Freundes einen förmlichen Kultus, indem sie dieselbe zwecks Abhaltung von Totenfeiern durch ganz Deutschland führen wollte, ein Plan, der ihr, auf Intervention von Lassalles Angehörigen, behördlicherseits durchkreuzt wurde. Auf die Nachricht, daß die Leiche Lassalles Mannheim passieren werde, schrieb Eichelsdörfer an Sonnemann einen Brief, dem ich die folgenden Stellen entnehme, weil sie zeigen, wie bereits einzelne auf unserer Seite die Situation ansahen.
Der Brief lautete:
„Lieber Freund Sonnemann!
Die Leiche Lassalles wird am Freitag, wie mir Reusche aus Genf telegraphiert, dahier eintreffen und auf das Dampfboot verbracht. Mögen wir ihm im Leben gegenübergestanden haben, wir waren doch in der Hauptsache einig, der großen Masse unseres Volkes zu helfen, und ich glaube, wir haben inzwischen gelernt, daß ohne allgemeines Stimmrecht und dadurch herbeigeführte Umgestaltung der jetzigen staatlichen Zustände auf eine durchgreifende Hilfe nicht zu rechnen ist. Vielleicht wäre der jetzige Moment ein günstiger, daß von unserer Seite etwas geschähe, um eine Vereinigung der beiden Strömungen auf Grund eines entsprechenden Programms herbeizuführen und damit dem dahingeschiedenen Kämpen ein Denkmal zu setzen. Etwas mehr Mäßigung auf der anderen und etwas mehr Entschlossenheit auf unserer Seite könnte dazu führen und der Sache nur nützen, da die Philisterhaftigkeit des jetzigen tonangebenden Liberalismus doch getrieben werden muß, wenn sie vorwärts dem Ziele entgegengehen soll. Es ist dies eine Ansicht von mir, die ich nicht ermangle, Dir mitzuteilen und Deine Ansicht zu hören, um sodann unsere Freunde vielleicht zu einem Schritte zu veranlassen, der unter Umständen von weittragenden Folgen sein – im gegenteiligen Sinne nichts schaden kann.
Auch habe ich das unbestimmte Gefühl, daß wir in Leipzig [2] doch zu energischen Beschlüssen geführt werden: da einmal alles auf die Prinzipien drängt und wir uns wohl denselben nicht entgegenstellen. Halbheit und Verschwommenheit nützen zu nichts; sie taugen nicht einmal dazu, für die richtige Lösung vorzubereite .... Ich werde mich der Aufgabe nicht entziehen können, der Leiche Lassalles das Geleite zu geben. Einige Freunde werden dasselbe tun. Ich weiß nicht, ob ich den Verein dazu einladen soll, da es mißverstanden werden könnte, da viele Leute nicht verstehen und noch mehrere nicht verstehen wollen, daß man Lassalle anerkennen kann, ohne vollständig mit ihm einig zu gehen.“
Schließlich bittet er Sonnemann, ihm seine Ansicht mitzuteilen.
In einer Nachschrift heißt es:
„Würde es Dir als Präsident der Arbeitervereinigung nicht anstehen, hierher zu kommen und dem Gegner die Ehre zu geben? Wenn Du dieses willst, telegraphiere, worauf ich Dir alsdann die Zeit des Eintreffens der Leiche, sobald ich es weiß, ebenfalls übermitteln werde.“
Was Sonnemann auf diesen Brief antwortete, ist mir nicht bekannt, jedenfalls wurde der Vorschlag Eichelsdörfers nicht berücksichtigt. Es mußte noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen, ehe ähnliches, wie Eichelsdörfer wollte, erfüllt wurde. Nachdem der ständige Ausschuß auf den Antrag des Gewerblichen Bildungsvereins zu Leipzig beschlossen hatte, dort den nächsten Vereinstag abzuhalten, machte die Koburger Arbeiterzeitung dagegen Opposition. Es sei ausgeschlossen, daß in dem von Herrn v. Beust regierten Sachsen die Abhaltung eines Vereinstag möglich sei, und sie eröffnete über den Beschluß die Debatte. Die einzigen Vereine, die sich der Koburger Arbeiterzeitung anschlossen, waren die badischen, die auf ihrem Vereinstag in diesem Sinne votierten. Gewisse Bedenken gegen die Abhaltung eines Vereinstags in Sachsen waren berechtigt, denn die Abhaltung desselben lag auf Grund des sächsischen Vereinsgesetzes ganz in den Händen des Herrn v. Beust, der Regen oder Sonnenschein gewähren konnte.
Um es nicht zum Regnen kommen zu lassen, trugen wir der Situation insoweit Rechnung, daß der ständige Ausschuß sich auf unser Ansuchen bereit erklärte, die Wehrfrage, als eine eminent politische, nicht auf die Tagesordnung des Vereinstags zu setzen. Das Lokalkomitee für die Vorbereitungen wurde durch je zwei Mitglieder des Vereins Vorwärts, des Gewerblichen Bildungsvereins und des Fortbildungsvereins für Buchdrucker, außerdem durch Professor K. Biedermann und ein Ausschußmitglied der Polytechnischen Gesellschaft gebildet. Der Vorsitz wurde mir übertragen. Herr v. Beust ließ lange auf die nachgesuchte Entscheidung warten, endlich erfolgte sie in zustimmendem Sinne. Der Vereinstag wurde nunmehr auf den 23. und 24. Oktober einberufen und als Tagesordnung festgesetzt:
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Das war für zwei Tage Beratung eine sehr reiche Tagesordnung, deren Erledigung nur dadurch möglich wurde, daß die Berichterstatter vorher Gutachten und Resolutionen veröffentlichten und Berichte und Reden kurz waren. Die Gründlichkeit beider ließ in der Regel viel zu wünschen übrig.
Vertreten waren 47 Vereine, darunter allein 8 aus Leipzig, und 3 Gauverbände: badisches Oberland, Württemberg und Maingau. Es gab damals in Leipzig neben dem Fachverein der Buchdrucker auch noch einen solchen der Maurer und der Zimmerleute. Außerdem hatten die Lassalleaner unter Leitung Fritzsches rasch drei weitere Fachvereine gegründet, und zwar einen Zigarrenarbeiter-, einen Schneider- und einen Schmiedegesellenverein. Unter den Delegierten befanden sich zum erstenmal Dr. Friedrich Albert Lange, Vertreter des Duisburger Konsumsvereins, und Dr. Max Hirsch für den Magdeburger Arbeiterbildungsverein. Ferner war anwesend als Gast Professor V.A. Huber, der konservative Vertreter der Genossenschaftsidee.
Die Versammlung wählte Bandow-Berlin zum ersten Vorsitzenden, Dolge und mich zu seinen Stellvertretern. Im Namen der Stadt begrüßte der Bürgermeister Dr. Koch die Versammlung. Gleich bei dem ersten Punkte der Tagesordnung: Freizügigkeit, kam es zu einem Krach mit Fritzsche und zu tumultuarischen Szenen durch seine Anhänger, die die Tribünen des Saales (Schützenhaus) stark besetzt hatten. Fritzsche erklärte im Sinne Lassalles, daß man über die Freizügigkeit nicht mehr debattiere, sondern sie dekretiere, dagegen müsse man das allgemeine Wahlrecht verlangen. Er sprach sehr provokatorisch und fand damit demonstrativen Beifall bei seinen Anhängern. Gegen diese Methode erhoben die Delegierten lebhafte Proteste. Bei dieser Gelegenheit bewunderte ich Friedrich Albert Langes Vermittlertalent, womit er Erfolg hatte. Ein energisches Eingreifen von meiner Seite, als Vorsitzender des Lokalkomitees, schaffte auch Ruhe auf den Galerien. Am nächsten Tage kam es nochmals zu einer lebhaften Szene, als Fritzsche verlangte, noch zum Worte zugelassen zu werden, nachdem bereits der Schluß der Debatte angenommen worden war. Als ihm das Wort verweigert wurde, protestierte er gegen den herrschenden Terrorismus und legte sein Mandat nieder. Die Beschlüsse des Vereinstags waren von keinem großen Belang. Fr. Albert Lange, der über Konsumvereine referierte, zeigte sich als ein glänzender Redner. In den ständigen Ausschuß wurden gewählt: Bandow, Bebel, Dr. M. Hirsch, Lachmann-Offenbach, Lange, Martens-Hamburg (ein ehemaliger Weitlingianer, von dessen Kommunismus aber nichts mehr zu spüren war), Reinhard-Koburg, ehemaliges Parlamentsmitglied für Mecklenburg, Sonnemann, Staudinger-Nürnberg, Stuttmann-Rüsselsheim, Weithmann-Stuttgart und Max Wirth-Frankfurt a.M.
2. Leipzig war als Ort für den nächsten Vereinstag bestimmt.
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Zuletzt aktualisiert am 13.7.2007