Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




7. Die Sozialisierung des Wohnbodens und der Haushaltungen


Eines der charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist die Zusammenballung immer gewaltigerer Volksmassen in den Großstädten und Industriegebieten. In dem Maße, als die Bevölkerung der Großstädte und Industriegebiete wächst, steigen die Wohnungspreise, die Grundrente, die Bodenwerte. Während den Eigentümern des städtischen Grund und Bodens infolge des Wachstums der Bevölkerung ein unverdienter Wertzuwachs zufällt, drängt sich die Volksmasse immer dichter in überbevölkerten Mietkasernen zusammen. Die Überfüllung der Wohnungen ist die schlimmste Gefahr für die Volksgesundheit, die Quelle der ungeheueren Verbreitung der Tuberkulose, der Verwahrlosung der Jugend, der Zerrüttung des Familienlebens. Der Krieg hat diese Gefahren nur vergrößert. Fünf Jahre lang sind keine Wohnhäuser gebaut worden; vielen Gemeinden droht daher furchtbare Wohnungsnot. Die Baukosten sind ungeheuer gestiegen; es droht daher, sobald die Mieterschutzgesetze außer Wirksamkeit treten, eine ungeheuere Steigerung der Mietzinse. Die Volksgesundheit ist durch den Krieg völlig zerstört; so ist es dann doppelt notwendig, die Wohnungsfrage zu lösen.

Die wichtige Aufgabe auf diesem Gebiet fällt den Gemeinden zu; der Staat muss den Gemeinden nur die rechtlichen Mittel geben, diese Aufgabe zu lösen. Zu diesem Zweck muß der Staat den Gemeinden das Recht zugestehen, das städtische Bauland und die Miethäuser im Stadtbezirk zu enteignen. Die bisherigen Eigentümer müssen selbstverständlich von den Gemeinden entschädigt werden. Sie werden als Entschädigung Wertpapiere empfangen, die sie berechtigen, einen festen Zins aus dem Erträgnis des kommunalisierten Bodens zu beziehen. Ist dies gesetzlich geregelt, so wird es jeder Gemeinde freistehen, entweder nur den noch unbebauten Boden oder aber auch die schon bestehenden Miethäuser in ihren Besitz zu übernehmen, wenn sie dies für vorteilhaft findet. Wenn eine Stadt befürchten muß, dass infolge der politischen und wirtschaftlichen Neugestaltungen ihre Bevölkerung zurückgehen wird, dann wird sie es allerdings kaum vorteilhaft finden, den Boden in den Gemeindbesitz zu überführen. Städte aber, die erwarten dürfen, dass ihre Bevölkerung auch in Zukunft wachsen wird, werden den Boden zu dem gegenwärtigen Preise übernehmen, damit der Wertzuwachs des Bodens, der infolge des Wachstums der Bevölkerung eintreten wird, nicht mehr Privatleute bereichere, sondern der Gemeinde zufalle.

Der Staat wird weiter jedem Staatsbürger einen klagbaren Anspruch gegen die Gemeinde auf Zuweisung einer seiner persönlichen Verhältnissen angemessenen Wohnung gegen ortsüblichen Mietzins zugestehen müssen. Wird ein solches „Recht auf Wohnung“ anerkannt, so wird jede Gemeinde gezwungen sein, selbst dafür zu sorgen, dass die Bautätigkeit der Entwicklung des Wohnungsbedarfs angepaßt werde. Das „Recht auf Wohnung“ wird diejenigen Gemeinden, deren Bevölkerung wächst, zwingen, von dem Rechte der Enteignung des städtischen Baulandes Gebrauch zu machen und das Bauland entweder selbst zu bebauen oder zu Erbbaurecht an Baulustige und Baugenossenschaften zu vergeben, und zwar so schnell, daß der Vorrat an verfügbaren Wohnungen immer ebenso schnell anwachse wie der Wohnungsbedarf der Bevölkerung.

Weiter wird der Staat auch die Mietzinse in den kommunalen Miethäusern regeln müssen. Grundsätzlich wird festgesetzt werden müssen, dass die Gemeinde die Mietzinse von Kleinwohnungen, Werkstätten und Geschäftsladen so bemessen muß, dass nur ihre Selbstkosten gedeckt werden. Einen Gewinn werden die Gemeinden aus der Vermietung dieser Mietobjekte nicht ziehen dürfen. Nur Luxuswohnungen und Wohnungen und Geschäftsladen in begünstigter Lage werden die Gemeinden zu höheren Zinsen vermieten und den Gewinn, den sie aus ihnen ziehen, zur Ermäßigung der Mietzinse der Kleinwohnungen oder zur Befriedigung allgemeiner Gemeindebedürfnisse verwenden können.

Endlich wird der Staat auch das Mietrecht wesentlich umgestalten müssen. Wo die Miethäuser der Gemeinde gehören, wird festgestellt werden können, dass den Mietern die Wohnungen, Werkstätten und Geschäftsladen nur dann aufgekündigt werden können, wenn vor dem Wohnungsamt bewiesen wird, dass sie die Mietobjekte nicht pfleglich behandeln,

daß sie Ruhe und Ordnung in den Miethäusern stören oder dass sie den Mietzins aus eigenem Verschulden nicht bezahlen.

Sehr wichtig wird es sein, die Verwaltung der kommunalen Miethäuser zweckmäßig zu regeln. Es ist natürlich nicht denkbar, daß eine große Gemeinde alle Miethäuser im Stadtgebiet von einer Stelle aus verwaltet. Es wird daher notwendig sein, die Miethäuser durch die Mieter selbst verwalten zu lassen. Die Verwaltung der einzelnen Häuser wird Mieterausschüssen übertragen werden und diese Mieterausschüsse werden selbst für die Instandhaltung, pflegliche Behandlung und Reinigung der Miethäuser Sorge tragen, wenn nur bestimmt wird, dass für jede Beschädigung und Verwahrlosung die Mieter selbst haften und zu den Kosten ihrer Wiedergutmachung im Verhältnis des Mietzinses beizutragen haben.

Sind aber zunächst zu diesem Zwecke Mieterausschüsse konstituiert, so werden sie bald auch andere Aufgaben übernehmen. Die Mieterausschüsse werden berechtigt sein, zur Entlastung der Hausfrauen für jedes einzelne Haus oder jeden einzelnen Häuserblock Zentralküchen, Zentralwaschküchen, Zentralheizanlagen, Spielräume und Lernzimmer für die Kinder, gemeinsam Speiseräume, Lesezimmer und Spielzimmer für die Erwachsenen einzurichten und die zur Führung dieser gemeinsamen Einrichtungen erforderlichen Köchinnen, Wäscherinnen, Kinderpflegerinnen usw. zu bestellen. Zu den Kosten dieser Einrichtungen werden die Mieter im Verhältnis ihres Mietzinses beitragen. Auf diese Weise werden die Haushaltungen teilweise sozialisiert werden; viele Aufgaben, die heute für jede Haushaltung einzeln besorgt werden müssen, werden dann für viele Haushaltungen gemeinsam durch den Mieterausschuß und seine Organe besorgt werden. Die arbeitenden Frauen werden nicht mehr der Doppelarbeit im Beruf und im Haushalt erliegen. Für die Kinder wird viel besser als bisher vorgesorgt sein; wenn die Mutter in die Fabrik oder ins Bureau geht, wird sie die Kinder nicht mehr sich selbst überlassen müssen, sondern der Obhutd der vom Mieterausschuß des Hauses oder Häuserblocks bestellen Kinderpflegerin in den dazu eingerichteten Spiel- und Lernzimmern übergeben. Endlich aber werden auch die Männer dank dieser teilweisen Sozialisierung der Haushaltungen ein behagliches Heim erlangen. Während heute der Arbeiter seine Mußestunden in derselben Kammer verbringen muß, die als Küche, als Waschraum, als Spielzimmer für die Kinder dient, während es heute aus dem unbehaglichen Heim nur allzu oft, wenn er nur kann, in das Gasthaus flieht, wird er dann in dem Hause neben seiner Wohnung auch Lesezimmer, Spiel- und Unterhaltungsräume finden, in denen er seine Mußestunden behaglich verbringen kann.

So wird die Sozialisierung des städtischen Baulandes die ganzen Lebensbedingungen der breiten Volksmassen völlig verändern. Ist das Bauland und sind die Miethäuser in das Eigentum der Gemeinden übergegangen, dann gibt es keine Obdachlosigkeit mehr; denn jedermann hat dann klagbaren Anspruch auf Zuweisung einer angemessenen Wohnung. Es gibt dann kein „Steigern“ mehr; denn da die Gemeinde die Mietzinse so bemessen muß, dass nur ihre Selbstkosten gedeckt werden, wird das Wachstum der Bevölkerung nicht mehr wie bisher zur Folge haben können, dass die Mietzinse erhöht werden. Zugleich gibt es auch keine Kündigung mehr: denn die Gemeinde wird dem Mieter nur dann aufkündigen können, wenn er die Wohnung nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Mieters benützt und behandelt. Es gibt keine Willkürherrschaft des Hausherrn, Hausinspektors oder Hausmeisters mehr: an ihre Stelle tritt ja der von den Mietern selbst gewählte Mieterausschuß. Und es gibt schließlich auch keinen freudlosen, unbehaglichen Einzelhaushalt mehr: die kleine Wohnung der einzelnen Familie findet ihre Ergänzung in den gemeinsamen Räumen und gemeinsamen Einrichtungen, die die demokratische Gemeinschaft der Mieter für alle schafft.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007