Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




3. Die Organisierung der Industrie


Nur die Großindustrie, in der die Produktion in wenigen Großbetrieben, die von Aktiengesellschaften beherrscht werden, konzentriert ist, ist zur sofortigen Vergesellschaftung reif. Die meisten Industriezweige sind es noch nicht. Ist eine Industrie noch in viele kleine und mittlere Betriebe zersplittert, so ist es unmöglich, sie gesellschaftlich, also von einer Stelle aus zu leiten. Wo noch nicht Direktoren und Beamte, sondern noch die Unternehmer selbst die technische und kaufmännische Leitung der Betriebe besorgen, können die Unternehmer nicht ausgeschaltet werden, ohne dass die Produktion durch den Wegfall sachkundiger Leitung geschädigt würde. Die meisten Industriezweige werden wir daher nicht sofort vergesellschaften können, sondern sie zunächst organisieren müssen, damit ihre künftige Vergesellschaftung zielbewusst vorbereitet werde.

Die Notwendigkeit der Organisierung der Industrie haben die Unternehmer selbst längst eingesehen. Sie haben sich zu diesem Zweck in den Kartellen vereinigt. Die Kartelle haben die Konkurrenz zwischen den Unternehmen ausgeschaltet und dadurch die großen unnötigen Kosten des Konkurrenzkampfes (Reklame, Reisende usw.) erspart. Sie haben den Verkauf der Ware in den Kartellbureaus konzentriert, die Händler in bloße Agenten der Kartellbureaus verwandelt und dadurch die Macht und die Profite des Handelskapitals wesentlich beschränkt. Sie haben schließlich den Umfang der Produktion geregelt, die Erzeugung der einzelnen Betriebe kontingentiert und dadurch die Produktion den Schwankungen des Bedarfes so angepasst, dass Krisen verhütet oder doch gemildert werden konnten. Aber so Nützliches die Kartelle auf diese Weise geleistet haben, so musste doch die Gesellschaft diese Leistung furchtbar erkaufen. Denn die Kartelle haben die Macht des industriellen Kapitals ungeheuer gesteigert, seine Macht sowohl den Konsumenten als auch den industriellen Arbeitern gegenüber. Den Konsumenten wurden hohe Preise, gewaltige Tribute auferlegt, den industriellen Arbeitern trat die organisierte Kapitalsmacht als unüberwindlicher Gegner gegenüber.

Während des Krieges sind neue Organisationen der Industrie entstanden: die Kriegsgesellschaften in Deutschland, die Zentralen und die Kriegsverbände in Österreich. Auch sie haben manche nützliche Wirkung erzielt. Dank der zwangsweisen Beschränkung des Bedarfs und der planmäßigen Verteilung der Vorräte haben sie die Warenpreise niedriger gehalten, als dies bei freiem Wettbewerb möglich gewesen wäre. Aber auch diese Wirkung musste teuer erkauft werden: Manche Zentralen sind nichts anderes gewesen als staatlich organisierte Zwangskartelle, so zum Beispiel die Spirituszentrale. Andere Zentralen sind nichts anderes gewesen als Requisitionsinstrumente der Heeresverwaltung, so zum Beispiel die Baumwollzentrale.

Unsere Aufgabe kann heute nicht darin bestehen, die Organisation der Industrie wieder vollständig zu zerstören und zum unbeschränkten freien Wettbewerb zurückzukehren. Zu dem Ideal des Manchesterliberalismus, dem Ideal der freien Konkurrenz führt kein Weg mehr zurück, wenn auch Parteien wie die Christilichsozialen, die in ihrer Jugend im Kampfe gegen den Manchesterliberalismus groß geworden sind, sich jetzt selbst zu dem Ideal des „freien Handels“ bekehrt haben. Nicht darum kann es sich heute handeln, die Organisation der Industrie zu beseitigen, sondern nur darum, an die Stelle der kapitalistischen Organisation der Industrie eine solche zu setzen, die den Bedürfnissen der Volksgesamtheit dient. Soweit die auch die künftigen Organisationen der Industrie diese Funktionen ausüben; aber sie müssen sie ausüben nicht mehr im Interesse des Kapitals, wie die Kartelle, nicht mehr im Interesse des Militarismus, wie die Zentralen, sondern im Interesse der Volksgesamtheit.

Zu diesem Zweck sollen alle Unternehmungen in jedem einzelnen Industriezweig verpflichtet werden, einem Industrieverband anzugehöhren; diese Industrieverbände sollen an die Stelle der Kartelle und and die Stelle der Zentralen treten. Die Industrieverbände werden aber nicht wie die Kartelle von den Unternehmern selbst beherrscht werden, auch nicht wie die Zentralen der Leitung einer Bureaukratie unterstellt sein, die zur Regelung wirtschaftlicher Tätigkeit unfähig ist. Sie werden vielmehr von Verwaltungsräten geleitet werden, in denen die Vertreter aller derjenigen Gesellschaftskreise vereinigt werden sollen, deren Bedürfnissen die Verwaltung des organisierten Industriezweiges dienen soll. An der Spitze jedes Industrieverbandes wird also ein Verwaltungsrat stehen, der ungefähr in folgender Weise zusammengesetzt sein soll: Ein Viertel der Mitglieder des Verwaltungsrats werden die Vertreter des Staates bilden; einer dieser Vertreter mag vom Staatssekretär für Handel und Industrie ernannt werden, die anderen aber sollen von der Nationalversammlung, wenn auch nicht aus ihrer Mitte, gewählt werden. Ihre Aufgabe wird es sein, in dem Verwaltungsrat die Interessen des Staates und der Volkswirtschaft zu verfechten. Ein zweites Viertel der Mitglieder des Verwaltungsrats werden die Vertreter der Konsumenten bilden. Für Industriezweige, die Verbrauchsgüter erzeugen, werden die Konsumvereine diese Vertreter ernennen; für Industriezweige, die Rohstoffe und Arbeitsmittel erzeugen, werden sie von den Organisationen der Industrie ernannt werden, die diese Rohstoffe und Arbeitsmittel brauchen. Ein drittes Viertel der Mitglieder des Verwaltungsrats bilden die Vertreter der Arbeiter, Angestellten und Beamten, die in dem organisierten Industriezweig beschäftigt sind; sie werden den Gewerkschaften und Angestelltenorganisationen entnommen werden. Und nur das letzte Viertel der Mitglieder des Verwaltungsrats werden die Vertreter der Unternehmer des organisierten Industriezweiges bilden. Auf diese Weise wird dafür gesorgt sein, dass die Tätigkeit des Verwaltungsrats nicht den Interessen der Unternehmer allein diene, sondern denen der Gesamtheit. Dadurch werden sich die Industrieverbände der Zukunft von den Kartellen der Vergangenheit und den Zentralen der Gegenwart sehr wesentlich unterscheiden.

Welche Aufgaben werden nun diese Industrieverbände haben? Zunächst werden sie dafür sorgen müssen, dass die technische Entwicklung der Industrie gefördert, ihre Produktionskosten herabgesetzt werden. Sie werden Konstruktionsbureaus, Laboratorien und Materialprüfanstalten errichten und erhalten. Sie werden Vorschriften über die Normalisierung und Typisierung der Waren erlassen; führt die freie Konkurrenz dazu, dass eine Anzahl verschiedenartiger Warenmuster in Wettbewerb miteinander tritt, so verfügt die Organisation, dass nur wenige Muster und Typen erzeugt werden. Dadurch kann jede einzelne der ausgewählten Warentypen in größeren Mengen, daher auch zu bedeutend niedrigeren Kosten hervorgebracht werden. Weiter wird der Industrieverband die Spezialisierung der einzelnen Industriebetriebe fördern; er wird verfügen, dass die eine der ausgewählten Warentypen nur in dem, die andere nur in jenem Betriebe erzeugt werde. Dies ermöglicht den Übergang zur Massenproduktion, zu automatisierter, menschlicher Arbeitskraft ersparender Produktionsweise. Auf diese Weise werden die Industrieverbände die Herstellungskosten ermäßigen, eine wohlfeile Produktion ermöglichen.

Die Industrieverbände werden weiter, wo dies zweckdienlich erscheint, den Ankauf der Rohstoffe zentralisieren, die Rohstoffe den einzelnen Betrieben zuteilen, den Verkauf der der fertigen Waren in ihren Bureaus konzentrieren können. So werden sie der Gesellschaft die Kosten des Konkurrenzkampfes zwischen den Unternehmen ersparen. Sie werden die Größe der Produktion regeln und dadurch Wirtschaftskrisen verhüten. Sie werden schließlich die Preise der Waren festsetzen; die Zusammensetzung der Verwaltungsräte bürgt dafür, dass die Warenpreise so bemessen werden, dass der Gewinn der Unternehmer einem angemessenen Arbeitslohn für die von ihnen geleistete Arbeit ungefähr gleich kommt. Die Industrieverbände werden endlich auch die kollektiven Arbeitsverträge mit den Gewerkschaften der Arbeiter und den Organisationen der Angestellten schließen; der von dem Industrieverband abgeschlossene Arbeitsvertrag bindet alle Betriebe des Industriezweiges. So werden die Arbeiter und die Angestellten bei dem Abschluss von Arbeitsverträgen nicht mehr den Unternehmern allein gegenüberstehen, sondern Verwaltungsräten, in denen neben den Unternehmern auch die Vertreter es Parlaments, der Konsumenten und der Arbeiter und Angestellten selbst sitzen werden.

Wo die Gesetzgebung dies für zweckmäßig erachtet, wird sie dem Staate auch einen Anteil an dem Reingewinn der organisierten Unternehmungen zusichern können. Gelingt es dem Industrieverband, die Erzeugungskosten der Waren wesentlich zu ermäßigen, so wird dadurch der Gewinn der Unternehmer vergrößert und diesen Zuwachs des Gewinns wird der Staat, der ja den Industrieverband geschaffen hat, durch die Vermittlung des Industrieverbandes an sich ziehen können.

Auf diese Weise wird sich der Staat Einkünfte aus dem Erträgnis der Industrie sichern können, ohne die Verbraucher belasten zu müssen.

Nur im Rahmen der von den Industrieverbänden erlassenen Vorschriften wird die Leitung der Betriebe den einzelnen Unternehmen überlassen bleiben. Die Unternehmer werden hier also zunächst nicht vollständig ausgeschaltet, wohl aber unter eine sehr wirksame Kontrolle der Gesellschaft gestellt, in Beauftragte der Gesellschaft verwandelt werden.

Eine der wichtigen Aufgaben der Industrieverbände wird aber darin bestehen, die Erzeugung in den technisch vollkommensten Betrieben zu konzentrieren. Jedem Industrieverband wird das Recht zustehen, anzuordnen, dass technisch unvollkommene Betriebe stillgelegt werden und ihr Produktionsanteil auf die technisch vollkommeneren Betriebe übertragen wird. Die Eigentümer der stillgelegten Betriebe werden natürlich auf Kosten derjenigen Unternehmer entschädigt werden, denen ihr Produktionsanteil zufällt. Auf diese Weise wird die Produktion allmählich in wenigen großen, technisch vollkommeneren Betrieben konzentriert werden, und sobald dies der Fall ist, kann die Industrie dann vollständig vergesellschaftet werden. Dann erst ist es möglich, die Unternehmer zu enteignen und die Leitung des Industriezweiges ganz unmittelbar dem Verwaltungsrat des Industrieverbands, aus dem dann die Unternehmervertreter ausscheiden, zu übertragen. Die Organisierung der Industrie in Industrieverbänden ist also eine Übergangsstufe zur vollständigen Vergesellschaftung der Industrie.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007