Otto Bauer

Gefahren des Reformismus

(1. März 1910)


Der Kampf, Jg. 3 6. Heft, 1. März 1910, S. 241–245.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


„Jetzt haben wir das allgemeine Wahlrecht und doch geschieht nichts, die Teuerung zu bekämpfen.“ „Jetzt haben wir achtundachtzig Sozialdemokraten im Parlament und doch wird nichts getan, die Arbeitslosigkeit einzudämmen.“ Solche Klagen hat jeder von uns in den letzten Jahren gehört.

Die österreichische Arbeiterschaft hat jahrzehntelang den besten Teil ihrer Kraft im Wahlrechtskampfe eingesetzt. Unsere geschulten Kerntruppen haben diesen Kampf geführt, ohne sich darüber zu täuschen, dass auch das demokratische Parlament ein bürgerliches Parlament sein werde, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht zwar eine unentbehrliche Waffe des Proletariats ist, dass es aber an sich noch keineswegs genügt, die Gebrechen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu heilen und der Arbeiterklasse sofort greifbare Erfolge heimzubringen. Den ungeschulten Massen aber, die uns erst in den letzten Jahren des Wahlrechtskampfes zugeströmt sind, ist das unmittelbare Ziel im leidenschaftlichen Kampfe über alles Mass hinausgewachsen. Sie haben geglaubt, der blosse Besitz des Wahlrechts könne ihnen verbürgen, was in Wahrheit erst in jahrelangem klugen Gebrauche des Wahlrechtes erobert werden kann.

„Wir haben uns mit Strassendemonstrationen den politischen Fortschritt erkämpft. Warum gehen wir heute nicht auf die Strasse, um soziale und wirtschaftliche Reformen zu erobern?“ Auch diese Fragen haben unsere Vertrauensmänner in den letzten Jahren oft gehört.

Unsere alten Genossen wissen, dass es jahrzehntelanger Arbeit bedurfte, das Wahlrecht zu erobern. In jahrzehntelanger Agitations- und Organisatiönsarbeit haben wir die Bollwerke des Privilegienwahlrechtes untergraben. Und erst als nach vielen Jahren rastloser Arbeit grosse Ereignisse der europäischen Politik, als die russische Revolution und der ungarische Militärkonflikt die Stimmung schufen, eine gewaltige Volksbewegung zu entfesseln, haben wir im letzten Ansturm das Wahlrecht erobern können: im letzten Sturme haben wir die Festung genommen, nachdem wir die Kraft der Verteidiger in langer Belagerung zermürbt hatten. Aber die jungen Genossen erinnern sich nur des letzten Sturmes, nicht der langen Belagerung, die ihm vorausgehen musste. Sie meinen, man könne in ein paar Strassendemonstrationen alles erringen, und vergessen, dass der Gegner im Strassenkampf nur besiegt werden kann, wenn er vorher durch jahrelange Arbeit geschwächt worden ist.

„Jetzt kämpfen wir schon so viele Jahre. Und doch ist es nicht besser geworden, doch leiden wir unter der Teuerung und der Krise.“ So sprechen heute Tausende.

Wer wirklich erfüllt ist von den Lehren des revolutionären Sozialismus, wird nicht so sprechen. Er weiss ja, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft zwar manche Mittel gibt, die Not der Massen zu lindern, aber kein Mittel, das das Steigen der Ausbeutung zu verhindern, die Unsicherheit im Dasein der Arbeiterklasse aufzuheben vermöchte. Gerade darum sind wir ja Sozialisten. Gerade darum kämpfen wir nicht nur um ein paar kleine Reformen am Gebäude des Kapitalismus, sondern um die Macht, das ganze Gebäude umzustürzen, auf neuem Boden eine neue Gesellschaft zu bauen.

Aber die Massen, die uns in den letzten Jahren zugeströmt sind, haben den grossen Grundgedanken des Sozialismus noch nicht begriffen. Sie haben noch nicht begriffen, dass nur die soziale Revolution sie befreien kann; sie haben gehofft, eine Reihe schnell einander folgender sozialer Reformen werde ihr Elend lindern. Heute, da die Krise und die Teuerung uns die Schranken zeigen, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung dem Fortschreiten der Arbeiterklasse setzt, sind sie enttäuscht. Solche Enttäuschung muss sich immer wieder einstellen, wo die Blicke eines grossen Teiles der Arbeiterschaft nur auf die greifbaren Erfolge sozialer Reforrnarbeit gerichtet sind, wo sie nicht wissen, dass nur die völlige Umwälzung des ganzen Gesellschaftsgebäudes sie zu befreien vermag. Die Stimmung der letzten beiden Jahre zeigt uns die Gefahren des Reformismus.

* * *

Krise und Teuerung haben stets die Volksmassen revolutioniert. Sie sind den grossen revolutionären Erhebungen von 1789 und 1848 vorausgegangen. Sie haben oft genug Hunderttausende empfänglich gemacht für die Lehren des Sozialismus. Wenn die Arbeitslosigkeit und die Lebensmittelteuerung die Arbeiterklasse heimsuchen, wenn in ihnen die unheilbaren Gebrechen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sichtbar werden, dann müssen ja selbst die Vorurteilsvollen, die Gedankenlosen, die Trägen und Feigen erkennen, dass es zwischen der Herrschaft des Besitzes und den Bedürfnissen der Arbeit keinen Frieden geben kann. Wie eine unwiderlegbare Bestätigung der vernichtenden Anklage, die der Sozialismus der bürgerlichen Welt entgegenschleudert, müssen Zeiten gesteigerten Massenelends auf die Seelen der Menschen wirken.

Tausendfache Erfahrung bestätigt das Ergebnis dieser einfachen Erwägung. Nur gerade unsere jüngste Erfahrung in Oesterreich entspricht ihm nicht. Die Krise und die Teuerung haben in den letzten Jahren die Massen nicht zum Kampfe befeuert; sie haben sie weit eher enttäuscht, entmutigt, des Vertrauens beraubt. Gewiss, unsere Kerntruppen sind fest geblieben; die prächtige Entwicklung unseres Bildungswesens in den letzten Jahren, die über alles Erwarten schnell und erfolgreich durchgeführte Umbildung unserer Parteiorganisation, eine ganze Reihe politischer Aktionen in vielen Städten und Industriegebieten bezeugen, dass die Masse unserer Parteimitglieder sich die alten Tugenden der Schlagfertigkeit und der Kampfesfreude bewahrt und neue Aufgaben ihrem Arbeitseifer gefunden hat. Aber von den Hunderttausenden, die schon unsere Genossen, aber noch nicht unsere Parteimitglieder sind, sind heute viele in übler Stimmung.

Unsere Genossen im Deutschen Reich sind überzeugt, dass jede Wirtschaftskrise die Werbekraft der Partei steigert; in Oesterreich sinken heute gerade infolge der Wirtschaftskrise Tausende wieder in den Sumpf der Hoffnungslosigkeit, der unmännlichen Indifferenz zurück, aus denen sie der Wahlrechtssturm herausgerissen hat. Woher stammt dieser Unterschied?

Dass die kapitalistische Produktionsweise mit den Bedürfnissen der Arbeiterklasse unvereinbar, in ihrem Rahmen die Befriedigung dieser Bedürfnisse unmöglich ist, dass sie erst dann Befriedigung finden können, wenn in einer gewaltigen sozialen Revolution das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln aufgehoben sein wird, sind die allgemeinen Grundsätze des Sozialismus. Wohl kämpfen alle Arbeiterparteien der Welt um die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse innerhalb der heutigen Gesellschaft; aber als sozialistische Parteien erklären sie zugleich, dass diesen Bemühungen stets enge Grenzen gesetzt bleiben, solange die Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung aufrecht stehen. Ueberall kämpfen die Arbeiterparteien für die Demokratisierung des Staates, für Arbeiterschutzgesetze, für die Arbeiterversicherung und für den Ausbau der sozialen Verwaltung, überall organisieren sie Gewerkschaften und Genossenschaften; aber als sozialistische Parteien lehren sie zugleich auch die Volksmassen, dass auch der demokratische Staat ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen bleibt, solange die Arbeiterklasse selbst und allein nicht stark genug ist, die politische Macht zu erobern, dass soziale Reformgesetze und Verwaltungseinrichtungen, dass die Aktion der organisierten proletarischen Masse selbst in den Gewerkschaften und Genossenschaften zwar der kapitalistischen Ausbeutung entgegenzuwirken, aber nicht sie aufzuheben fähig sind. Die Erkenntnis der Grenzen aller Reformarbeit innerhalb der kapitalistischen Welt scheidet den Sozialismus von allen sozialen Reformparteien. Zeiten der Teuerung und der Krise zeigen der Arbeiterklasse, dass diese Grenzen, auf die der Sozialismus immer wieder hinweist, während die bürgerlichen Reformparteien sie leugnen, wirklich bestehen. Sie lehren die Arbeiterklasse, dass es nicht genügt, die „Auswüchse des Kapitalismus zu beschneiden“, dass sie vielmehr seine Wurzeln ausrotten muss. Sie zeigen ihr, dass ihrem Bedürfnis soziale Reformen nicht genügen, dass eherne Notwendigkeit sie zur völligen Umgestaltung des ganzen Gesellschaftskörpers treibt. Darum scheidet sich gerade in Zeiten gesteigerten Massenelends die Arbeiterschaft noch schroffer als sonst von allen sozialen Reformparteien, noch leichter als sonst finden in solchen Zeiten die Arbeiter den Weg in das Lager der sozialen Revolution.

„Kämpfet um euer Bürgerrecht im Reiche, im Staate, in den Gemeinden 1 Benützt eure Macht als Wähler, euch Schutzgesetze zu erringen! Erobert euch auf dem gewerkschaftlichen Kampfboden höheren Lohn und kürzere Arbeitszeit 1 Organisiert euch als Konsumenten, um auch auf dem Warenmarkt euren Einfluss in die Wagschale zu werfen! Aber lasset das Eigentum unberührt, erkennet den Staat als den gemeinsamen Hort aller an, gebt den Gedanken der sozialen Revolution auf!“ So sprechen in allen entwickelten Ländern die bürgerlichen Parteien zu den Arbeitern. „Tut alles, was ihr könnt, eure Lage zu verbessern! Aber täuscht euch nicht darüber, dass ihr bei jedem Schritt auf die gewaltigsten Hindernisse stossen, dass ihr nur langsam vorwärts kommen könnt, oft wieder zurückgeworfen werdet, dass die unerbittlichen Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft eurer Macht im Staate und in der Gemeinde, auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Warenmarkt enge Grenzen setzen! Vergesset darum nicht, dass es eure Aufgabe ist, diese Grenzen niederzureissen! Das könnt ihr nur, wenn ihr euch, von allen anderen Klassen unabhängig, die politische Macht erobert und sie dazu benützt, das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln aufzuheben, das die Wurzel aller Ausbeutung ist.“ So spricht der Sozialismus zur Arbeiterklasse. Und so oft traurige Erfahrungen die Arbeiter lehren, dsss in der Tat innerhalb unserer Gesellschaftsverfassung die furchtbarsten Erscheinungen des Massenelends immer wiederkehren, verlassen sie das Lager der blossen Reformparteien und strömen dem revolutionären Sozialismus zu.

So war es wohl auch in Oesterreich und dem wohlgeschulten Kern unserer Parteimitgliedschaft sind diese Gedanken auch heute noch geläufig. Nicht so jenen Massen, die wir erst in den letzten Jahren gewonnen haben. Hunderttausende sind in der Zeit des Wahlrechtskampfes im Sturm erobert, in den Lohnkämpfen der letzten Hochkonjunktur mit einem Male mitgerissen worden. Wie wir diesen Massen erschienen, entschied die Tat, nicht das Wort. Und hätten unsere Redner und unsere Zeitungen die Grundgedanken des Sozialismus noch so oft, so laut, so verständlich verkündet, so hätten wir doch den eben erst erfassten Massen als nichts anderes erscheinen können denn als die grosse Reformpartei, die Partei des gleichen Wahlrechtes und der gewerkschaftlichen Aktion. Die überschwenglichsten Hoffnungen haben diese Massen auf das Parlament des gleichen Wahlrechts gesetzt. Und da sie heute die Schwierigkeit, das langsame Fortschreiten, die zahllosen Hindernisse der Reformarbeit im demokratischen Parlament sehen, da die Teuerung sie quält und die Krise die gewerkschaftliche Aktion erschwert, werden sie ungeduldig.

Diese Stimmung zeigt sich in verschiedenen Erscheinungen. Am häufigsten wohl darin, dass viele Arbeiter meinen, es sei nur eine falsche Taktik der Partei, die uns um die Erfolge des Wahlrechtskampfes bringe. Was sich in Oesterreich als „Radikalismus“ gebärdet, ist nichts als der Reformismus in seiner naivsten Gestalt. Gerade unsere „Radikalen“ haben nichts anderes im Sinne als „positive Erfolge“; sie können es gar nicht begreifen, dass die Erfolge, die sie erwarteten, sich nicht einstellen wollen und meinen darum, das könne nur die Folge falscher Kampfmethoden sein. Wenn die Partei in den Vertretungskörpern obstruieren und auf der Strasse demonstrieren wollte, dann könnte der Erfolg doch gar nicht ausbleiben! Indes ist dieser „Radikalismus“, der in Wahrheit so ganz reformistisch ist, doch noch die erfreulichste Reaktion der Arbeitermassen auf die Erfahrungen der letzten Jahre. Führten solche Meinungsverschiedenheiten dazu, dass alle Fragen unserer Taktik in allen politischen Organisationen recht lebhaft diskutiert würden, dann würden sie sehr viel zur Erziehung der Arbeitermassen beitragen. Die Debatte ist eines der wichtigsten Erziehungsmittel! Gefährlicher ist es, wenn die Enttäuschung der Massen sich in anderen Symptomen zeigt: in der Unlust zu organisatorischer Arbeit, in der Säumigkeit bei der Erfüllung der Parteipflichten oder gar im Abfall von der Organisation. Glücklicherweise sind solche Erscheinungen in weit kleinerem Umfang aufgetreten als der „Radikalismus“ innerhalb der Partei.

Wir können heute ohne Scheu öffentlich über diese Erscheinungen sprechen, denn die Schwierigkeiten der letzten Jahre sind schon fast überwunden und werden sehr bald völlig überwunden sein. Der Tiefpunkt des industriellen Kreislaufes liegt wahrscheinlich bereits hinter uns; sobald die Industrie sich eines besseren Geschäftsganges erfreuen wird, dem gewerkschaftlichen Kampf wieder bessere Bedingungen gegeben sein werden, wird im Kampf die Missstimmung verschwinden, die die erzwungene Musse erzeugt hat. Aber auch der Tiefpunkt der politischen Konjunktur ist mit der Reform des Geschäftsordnungsgesetzes überschritten worden; die Finanznot wird eine neue Gliederung der Parteien im Parlament erzwingen; neben den fruchtlosen nationalen Hader, der das Parlament erniedrigt und entmannt, werden endlich wieder ernste Kämpfe um grosse Probleme der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialgesetzgebung treten, die dem politischen Interesse der Arbeiterschaft reiche Anregung geben werden. Wir können guten Mutes der nächsten Zukunft entgegensehen.

Aber so wenig wir heute um die nächste Zukunft besorgt sein müssen, so darf die Lehre der letzten Jahre doch nicht verloren gehen. Sie haben uns die Gefahren des Reformismus gezeigt. Gewiss, in noch höherem Masse als in anderen Ländern hat in Oesterreich die Sozialdemokratie alle soziale Reformarbeit in sich vereinigt. So war es stets, so soll es und wird es bleiben. Aber diese Reformarbeit muss erfüllt sein vom Geiste des revolutionären Sozialismus; sie darf in den proletarischen Massen nicht Erwartungen erwecken, die zu gefährlicher Enttäuschung führen müssen; mitten im Kampfe um die Reform müssen wir die Arbeitermassen doch die Grenzen aller Reformarbeit innerhalb der kapitalistischen Welt verstehen lehren. Wir dürfen ihre Hoffnung nicht allzusehr auf die Gaben des Parlaments richten, das zwar ein demokratisches, aber doch ein bürgerliches Parlament ist; wir müssen ihnen immer wieder die wahre grosse Hoffnung der Arbeiterklasse zeigen, die grossen Umwälzungen der Zukunft, deren Vorboten bereits in allen Ländern der kapitalistischen Welt sichtbar werden. Wir müssen in unseren Zeitungen und unseren Versammlungen etwas weniger von Ministern und Abgeordneten sprechen, etwas mehr von den allgemeinen Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Welt, von den grossen Tatsachen des proletarischen Klassenkampfes. Wir brauchen eine systematische Propaganda des wissenschaftlichen Sozialismus innerhalb der organisierten Arbeiterschaft. Nicht nur der belehrende Vortrag, auch die Parteipresse, die Volksversammlung und die Debatte in der Parteiorganisation müssen in den Dienst dieser Aufgabe treten.

* * *

Auch die Gefahren des nationalen Problems werden durch die reformistische Denkweise innerhalb der Partei verschärft. Eine Arbeiterschaft, deren Blicke ausschliesslich auf die sozialen und politischen Kämpfe des Alltags gerichtet sind, sieht nur die kleinen Gegenstände des Nationalitätenkampfes. Der Krieg der Nationen löst sich ihr in eine Unzahl lokaler Scharmützel auf. Dadurch gefährdet der Reformismus die internationale Einheit der Partei.

Die Arbeiterschaft der historischen Nationen, die bereits die Rechte geniessen, um die andere Völker erst ringen, sieht im nationalen Kampfe oft nicht mehr als ein Hindernis des sozialen Fortschrittes. Die Forderungen der Nationen, die um ihr Recht ringen, erscheinen ihr als eine mutwillige Störung des Friedens. Sie lehnt sie ab. Der Internationalismus wird zum nationalen Konservatismus. Proben dieser Denkweise hat unsere Diskussion über die Minderheitsschulen ans Tageslicht gebracht.

Anders bei den Genossen der ehemals geschichtslosen Nationen, die sich allmählich erst zu höherer Kultur und grösserer Macht emporarbeiten. Ganz unmittelbar erscheint hier der nationale Fortschritt als Wirkung und Begleiterscheinung der sozialen Entwicklung. Wie die arbeitenden Volksmassen von einer sozialen und politischen Reform zur anderen fortschreiten, so erobert sich auch die Nation, die sich ausschliesslich oder überwiegend aus diesen Klassen zusammensetzt, ein Stück der Macht nach dem anderen. Den Genossen dieser Nationen erscheint der Kampf der Nation als ein Bestandteil des Kampfes der Klasse. Sie beteiligen sich an dem nationalen Kampfe. Im Kampfe findet die nationalistische Ideologie sehr leicht den Eingang in das Bewusstsein der Arbeitermassen.

Ganz anders als dem reformistischen stellt sich dem revolutionären Sozialismus das nationale Problem dar.

Alle Revolutionen der Vergangenheit waren nicht nur soziale und politische, sondern auch nationale Revolutionen. In diesen Revolutionen ist die nationale Gliederung West- und Mitteleuropas verwirklicht worden; im ganzen Osten Europas aber — und zum Osten gehört hier auch Oesterreich"Ungarn — wird das revolutionäre Nationalitätsprinzip erst in den grossen sozialen und politischen Revolutionen der Zukunft verwirklicht werden. Die nationalen Kämpfe des Alltags sind nur Symptome einer widerspruchsvollen Entwicklung, die erst in einer grossen europäischen Umwälzung ihre Lösung finden kann. Gewiss enthebt uns diese Erkenntnis nicht der Pflicht, zu den Fragen des Tages ernst und besonnen Stellung zu nehmen. Aber sie gibt uns zu ihnen erst die rechte Distanz.

Erkennen wir den nationalen Kampf als ein unvermeidliches Symptom einer in ihren Ursachen und ihren Entwicklungstendenzen wahrhaft revolutionären Entwicklung, dann kann der Internationalismus nicht zum nationalen Konservatismus werden.

Erkennen wir, dass der nationale Kampf des Tages nur das Symptom dieser Entwicklung ist, dann werden wir in diesem Kampfe nicht aufgehen, der Werbekraft seiner Ideologie nicht erliegen. Wissen wir, dass die nationalen Einzelfragen in ihrer Vereinzelung unlösbar sind, dass sie nur in einer grossen internationalen Umwälzung aller Machtverhältnisse gelöst werden können, dann bleibt die internationale revolutionäre Bewegung die einzige Hoffnung der Nationen.

Wenn der Kampf um nationale Reformen uns zu den Klassengenossen anderer Nationalität oft in einen schwer aufhebbaren Gegensatz bringt, so eint uns mit ihnen die Erwartung der grossen sozialen Umwälzung, in der die Nationen ihre Freiheit und Einheit finden werden. Ueber alle nationale Beschränktheit, die die kleinen und kleinlichen Kämpfe dieses unseligen Staatsgebildes erzeugen, erhebt uns der Gedanke der internationalen Revolution. Der Streit um die Amtssprache in Eger, um die Universität in Brünn, um die Volksschule in Wien mündet in das grosse Problem, wie die entfesselten Völker ein neues Europa sich bauen werden, innerhalb dessen jede Nation in ihren Heimstätten ihr Schicksal selbst bestimmt und alle Völker sich zu gemeinsamer Kulturarbeit verbünden.

Lernen wir es, hinter dem Hader um Beamtenstellen und Sprachenregeln das grosse Problem der Umwälzung des europäischen Staatensystems zu sehen, dann wird uns so mancher Streit, der den guten Oesterreichern furchtbar wichtig dünkt, als ein Gezänk um lokale Einzelfragen erscheinen, manches andere nationale Problem, das die guten Oesterreicher wenig kümmert, als wichtiger und grösser, als sie je ahnten. Vom Standpunkt der europäischen Revolution gesehen, erscheint das polnisch-ruthenische Problem, das mit den Problemen der russischen Revolution eng zusammenhängt, das südslawische Problem, das uns mitten in die Balkanfrage hineinstellt, auf eines der wichtigsten Kampfgebiete des europäischen Imperialismus führt, das italienische Problem, dessen Lösung die Gruppierung der europäischen Grossmächte mitbestimmt, als viel bedeutsamer als der deutsch-tschechische Streit in den Sudetenländern, der das politische Leben Oesterreichs beherrscht. Nur der revolutionäre Sozialismus gibt uns den wahren Internationalismus wieder, dessen erste Regel, dessen ursprünglichster Inhalt es ist, alle sozialen, politischen, kulturellen Probleme nicht darnach zu bewerten, was sie für ein kleines Land, für ein einzelnes Volk, sondern darnach, was sie für die europäische Demokratie und den europäischen Sozialismus bedeuten.

 


Leztztes Update: 6. April 2024