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Der Kampf, Jg. 3 No. 1, 1. Oktober 1909, S. 13–24.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Frage der Minderheitsschulen gewinnt von Jahr zu Jahr grössere Bedeutung. Die deutsche Sozialdemokratie in Oesterreich hat ihre Stellung zu dieser Frage niemals programmatisch festgelegt. Das Fehlen eines Programms, das alle Parteigenossen bindet, bringt uns in eine schwierige Stellung, so oft diese Frage aufgerollt wird. Ohne eine konkrete Entscheidung dieses Problems können wir zu vielen aktuellen Fragen der nationalen Politik nicht deutlich und entschieden genug Stellung nehmen; ohne sie können wir nicht an den Ausbau unseres Nationalitätenprogramms schreiten; von der Lösung dieser Frage hängt die Gestaltung unserer Beziehungen zu den nichtdeutschen Genossen in Oesterreich ab. Die Entscheidung der Frage kann natürlich nur durch die Partei selbst, nicht durch ein einzelnes Parteiorgan oder einen einzelnen Genossen erfolgen ; sie muss aber durch eine ernste Diskussion vorbereitet werden. Eine solche Diskussion einzuleiten, ist die Aufgabe dieses Artikels. Was er ausspricht, ist natürlich nur meine persönliche Ansicht, für die niemand verantwortlich ist als ich allein. Ich hoffe aber, dass die Diskussion auch den Genossen, die meine Ansicht nicht teilen, Gelegenheit geben wird, ihre Ansicht zu bekennen und zu begründen. Nur auf diese Weise können wir die schliessliche Entscheidung der Partei vorbereiten. Und entscheiden müssen wir: eine grosse Partei, wie die unsere, muss auf eine politische Frage, die immer wieder die Gemüter erregt, eine klare und unzweideutige Antwort zu geben wissen.
Da die Frage vielen deutschen Genossen fremd ist, wollen wir zunächst den heutigen Rechtszustand darstellen.
Der Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bestimmt:
„Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.“
Auf diesem Gesetze beruht das Recht der Minderheitsschulen. Das Reichsgericht hat wiederholt zu Rechterkannt:
„Durch die Verfassung ist den Einwohnern verschiedensprachiger Ortschaften das Recht, dass in den Volksschulen der Unterricht in jeder an diesem Orte landesüblichen Sprache erteilt werde, beziehentlich jedem österreichischen Volksstamm das unverletzliche Recht gewährleistet, dass in den Ländern und Orten, in welchen verschiedene Volksstämme wohnen, jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung der Schuljugend in seiner Sprache erhalte.“
Das Recht jedes Volksstammes auf Minoritätsschulen ist demnach überall gegeben, wo er wohnt und seine Sprache landesüblich ist. Diese Begriffe hat aber das Reichsgericht einschränkend ausgelegt. Es hat zwar auf Grund des Artikels 19 den Anspruch der Deutschen wie der Tschechen auf Minderheitsschulen in den Sudetenländern anerkannt, dagegen die Forderung der Tschechen nach Minoritätsschulen in Wien mit der Begründung abgewiesen, dass der tschechische Volksstamm in Wien nicht wohne, die tschechische Sprache in Wien nicht landesüblich sei. Das Reichsgericht hat dies in dem Erkenntnis vom 19. Oktober 1904, Z. 437, in folgender Weise begründet:
„Es ist zwar durch die letzten Volkszählungen nachgewiesen, dass sowohl in manchen Gemeinden des flachen Landes Angehörige der böhmischen Nationalität in bald geringerer, bald grösserer Zahl, wohnen, als auch, dass in Wien eine nicht unbeträchtliche Zahl von Angehörigen dieser Nation ihren Wohnsitz hat; damit ist aber noch nicht der allein entscheidende Umstand gegeben, dass der böhmische Volksstamm in Oesterreich unter der Enns als nationale Individualität besteht. Die nationale Gemeintätigkeit der in Oesterreich unter der Enns wohnhaften Angehörigen böhmischer Nationalität hat in dem Öffentlichen Leben des Landes nicht jene historischen Wurzeln geschlagen, welche ihnen als einer historischen Einheit den das wesentliche Merkmal eines Volksstammes des Landes bildenden Charakter einer nationalen Individualität im Lande verliehen hätte. Hierzu würde eine historische Entwicklung gehören, welche sich durch eine besondere Art der bleibenden Ansiedlung und durch ein Verwachsensein mit dem Leben der Gesamtbevölkerung, geltend macht. Diese Voraussetzungen fehlen aber bei den Bewohnern böhmischer. Nationalität in Oesterreich unter der Enns mit Ausnahme jener Bruchteile, die als blosse Ausläufer des geschlossenen böhmischen Volksstammes in den Nachbarländern erscheinen, wie dies in Unter- und Ober-Themenau, dann Bischofswart der Fall ist. Für Wien insbesondere treffen jene Voraussetzungen um so weniger zu, als das Vorhandensein von Bewohnern böhmischer Nationalität in Wien nur das Ergebnis jener Anziehungskraft ist, welche die Haupt- und Residenzstadt des Reiches nicht nur auf die Angehörigen des böhmischen Volksstammes, sondern auch aller anderen österreichischen Volksstämme ausübt ... Dieses Zuströmen verschiedener sprachlicher Elemente ist eine den Grossstädten eigentümliche, zumeist in Erwerbsrücksichten begründete Erscheinung und es vermag eine derartige Ansiedlung weder mit Rücksicht auf die Zahl noch auf die nationale Betätigung die historischen Voraussetzungen eines Volksstammes des Landes zu begründen ... Was ferner die Frage betrifft, ob die böhmische Sprache in Wien landesüblich ist, so ist auch diese in der Erwägung zu verneinen, dass die Angehörigen böhmischer Nationalität in Wien in den einzelnen Bezirken in bald kleinerer, bald grösserer Zahl nur zerstreut leben und infolgedessen dem Gebrauch ihrer Sprache zu ihrem gegenseitigen Verkehr der Charakter einer in Wien landesüblichen Sprache nicht beigelegt werden kann.“
Durch diese Auslegung des Staatsgrundgesetzes hat das Reichsgericht das Recht auf Minderheitsschulen eingeschränkt; der Anspruch auf Minderheitsschulen steht nach dieser Rechtsprechung den Nationen nur in denjenigen Kronländern zu, in denen sie eine historische Stellung haben, nicht in jenen, in die sie erst durch den kapitalistischen Umsiedlungsprozess geführt worden sind. Freilich könnte das Reichsgericht seine Ansicht über den Sinn des Staatsgrundgesetzes jeden Tag ändern; daher wollen die Deutschbürgerlichen durch die Lex Axmann eine sichere Rechtsgrundlage für die Verhinderung tschechischer Schulen in Wien schaffen. Sie begeben sich freilich damit auf ein gefährliches Gebiet: soll doch hier die Reichsverfassung durch ein Landesgesetz abgeändert werden!
Innerhalb des Rahmens, der durch den Artikel 19 St.-G.-G. und seine Auslegung durch das Reichsgericht geschaffen wurde, wird das Recht auf Minderheitsschulen durch die verwaltungsgerichtliche Auslegung des Reichsvolksschulgesetzes und der auf ihm beruhenden Schulerrichtungsgesetze geregelt. Das Reichsvolksschulgesetz bestimmt im § 59:
„Die Verpflichtung zur Errichtung der Schulen regelt die Landesgesetzgebung mit Festhaltung des Grundsatzes, dass eine Schule unter allen Umständen überall zu errichten sei, wo sich im Umkreis einer Stunde und nach einem fünfjährigen Durchschnitt mehr als 40 Kinder vorfinden, welche eine über vier Kilometer entfernte Schule besuchen müssen.“
Die Durchführung dieses Gesetzes ist durch die Schulerrichtungsgesetze der Länder erfolgt. Die meisten Landesgesetze regeln die Pflicht zur Errichtung öffentlicher Volksschulen in folgender Weise:
„Eine öffentliche Volksschule ist überall zu errichten, wo sich in einer Ortschaft oder in mehreren im Umkreis einer Stunde gelegenen Ortschaften, Weilern oder Einschichten zusammen nach einem fünfjährigen Durchschnitt mindestens 40 schulpflichtige Kinder befinden, welche eine mehr als vier Kilometer entfernte Schule besuchen müssen.“
Der Verwaltungsgerichtshof legt nun diese Gesetze in dem Sinne aus, dass sie auch die Bedingungen enthalten, unter denen das Recht auf Minderheitsschulen, soweit es nach der reichsgerichtlichen Auslegung des Staatsgrundgesetzes besteht, geltend gemacht werden kann. Eine Schule mit einer anderen als der an der bereits bestehenden Schule angewendeten Unterrichtssprache ist also zu errichten, wenn im Umkreis von vier Kilometern nach einem fünfjährigen Durchschnitt mindestens 40 schulpflichtige Kinder vorhanden sind, deren gesetzliche Vertreter sich zu dem betreffenden Volksstamm bekennen und die Errichtung einer Volksschule mit der entsprechenden Unterrichtssprache begehren. Auf dieser Auslegung der Schulerrichtungsgesetze durch den Verwaltungsgerichtshof beruht das Recht der Minoritätsschulen in denjenigen Kronländern, in denen dieses Recht nach der reichsgerichtlichen Auslegung des Staatsgrundgesetzes überhaupt besteht.
Nach dieser Auslegung erscheint das Recht auf Minderheitsschulen als ein individuelles Recht der Schulkinder, das ihre gesetzlichen Vertreter geltend machen können. Der Verwaltungsgerichtshof erkennt die Freiheit der Nationalitätserklärung an: die gesetzlichen Vertreter der Schulkinder sind um ihre Nationalität zu befragen und als Angehörige jener Nationalität zu behandeln, zu welcher sie selbst sich bekennen. (Erkenntnis vom 3. Jänner 1881) Das Recht auf Minderheitsschulen ist dispositives Recht:
„Die unbedingt notwendige Voraussetzung der Errichtung einer Nationalitätenschule bildet die Geltendmachung des Rechtes von selten Angehöriger der betreffenden Nationalität; ein Einschreiten der Behörden zum Zwecke der Provozierung dieses Rechtes ist ausgeschlossen.“ (Erkenntnis vom 22. Oktober 1890)
Es ist also innerhalb der gesetzlichen Schranken das Recht der Eltern und Vormünder, zu entscheiden, in welcher Sprache sie ihre Kinder erziehen wollen. Dieser reichsrechtliche Grundsatz wurde aber durch ein mährisches Landesgesetz eingeschränkt. Der § 20 des mährischen Landesgesetzes vom 27. November 1905, L.-G.-Bl. Nr. 4 ex 1906, bestimmt nämlich: „In die Volksschule dürfen in der Regel nur Kinder aufgenommen werden, welche der Unterrichtssprache mächtig sind.“ Durch dieses Gesetz, die sogenannte Lex Perek, ist das vom Verwaltungsgerichtshof anerkannte Recht der Eltern und Vormünder, die Unterrichtssprache für ihre Kinder zu wählen, eingeschränkt: tschechische Kinder können vom Besuche deutscher, deutsche Kinder vom Besuche tschechischer Schulen ausgeschlossen werden, wenn sie der Unterrichtssprache nicht mächtig sind. Die Lex Perek erscheint also ganz ebenso wie die Lex Axmann als ein Versuch, Reichsrecht durch Landrecht aufzuheben.
Dass der heutige Rechtszustand unbefriedigend ist, wird von allen Beteiligten zugegeben. Es handelt sich nun darum, festzustellen, welche Aenderungen die Arbeiterklasse zu fordern hat.
Verhältnismässig einfach liegt die Frage in Böhmen. Hier ist das Recht auf Minderheitsschulen bereits anerkannt, – dass es wieder beseitigt oder wesentlich eingeschränkt werden könnte, kann nur chauvinistische Gewissenlosigkeit der Bevölkerung einreden wollen. Nicht der Rechtsgrundsatz selbst, sondern nur die Art seiner Durchführung steht hier in Frage. Schwieriger liegt die Frage in Mähren, wo die Deutschen die Lex Perek bekämpfen, am schwierigsten in Niederösterreich, wo die Minderheitsschulen von den Tschechen gefordert, von den Deutschen abgelehnt werden. Wie stellen wir uns zu diesen Streitfragen?
Würde in Oesterreich nicht alle Nüchternheit und Sachlichkeit verschwinden, sobald irgend eine Frage in den Bereich der nationalen Kämpfe gerückt wird, dann müsste die Frage der Minderheitsschulen vor allem als das betrachtet werden, was sie doch in erster Reihe ist, als eine Schulfrage, bei deren Erörterung den pädagogischen Argumenten die erste Stelle gebührt. Die Frage der Unterrichtssprache ist zunächst eine Frage der Unterrichtsmethode: In welcher Sprache müssen wir zu den Schulkindern sprechen, damit der Unterrichtserfolg möglichst gross sei? Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann: Der Unterricht in der Muttersprache der Kinder sichert den besten Erfolg! Der Unterricht in einer Sprache, die die Kinder – sechs- und siebenjährige Kinder! – im Elternhaus überhaupt nicht oder nur unzureichend erlernt haben, kann nur dürftige Ergebnisse herbeiführen. Verweigern wir den Kindern den Unterricht in der Sprache, die allein sie beherrschen, dann senken wir das Niveau des Unterrichts überhaupt. Wir schädigen nicht nur die Jugend der nationalen Minderheit, sondern auch die Kinder der nationalen Mehrheit; in einer deutschen Schulklasse, in der auch tschechische Kinder sitzen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, muss der Lehrer so viel Kraft und Mühe auf die Ueberwindung dieser Schwierigkeit verwenden, dass darunter zweifellos auch der Unterricht der deutschen Kinder leidet. Wenn heute gefordert wird, dass die Kinder je nach ihrer Begabung und ihren Vorkenntnissen in besondere Schulklassen geschieden werden, damit der Unterricht der Befähigteren und mit grösseren Vorkenntnissen Ausgestatteten nicht durch die Unterweisung der minder Befähigten und weniger Vorgebildeten leide, so muss erst recht die Scheidung der Kinder nach ihren Sprachkenntnissen verlangt werden. Das Streben nach möglichst vollkommenen Unterrichtsmethoden heischt also die Trennung der Schulkinder nach ihren Sprachkenntnissen und die Unterweisung der Schuljugend in ihrer Muttersprache.
Diese Argumentation, die von dem Problem der Methode des Unterrichts ausgeht, findet aber ihre Begrenzung in der Rücksicht auf den Unterrichtszweck. Es handelt sich ja nicht nur um die Frage, in welcher Sprache wir zu den Kindern sprechen müssen, damit sie möglichst gut im Rechnen, in der Geschichte, der Erdbeschreibung, der Naturkunde unterrichtet werden, sondern auch um die andere Frage: Welche Sprache müssen die Kinder sprechen, lesen, schreiben lernen, damit die Schule sie mit jenen Kenntnissen ausstatte, die sie im späteren Leben brauchen werden? Da ist es nun ganz offenbar, dass den Kindern der nationalen Minderheit die Kenntnis ihrer Sprache nicht genügt, dass sie auch die Sprache des Volkes, in dessen Mitte sie leben, erlernen sollen. Wohl lernen sie diese Sprache auch dann, wenn die Schule sie ihnen nicht vermittelt; sie lernen sie auf der Strasse, im Geschäftsladen, im Gasthaus, in der Werkstätte. Aber sie lernen sie nicht schulmässig, unmethodisch, unzureichend; die Schule hat auch hier die Aufgabe, durch methodischen Unterricht zu ergänzen, zu vertiefen, zu ordnen, was das Kind ausserhalb der Schule unvollständig, unzureichend, ungeordnet lernt. Die Minoritätsschule erfüllt also ihre Aufgabe nicht, wenn sie die Kinder nicht auch die Sprache der Mehrheit lehrt. Das gilt auch für unsere deutschen Schulen im tschechischen Sprachgebiet; selbst die berufsmässigen Nationalisten beginnen ja einzusehen, wie töricht es ist, die Sprache der anderen Nation nicht zu erlernen. Es gilt in noch höherem Masse für die tschechischen Schulen in unseren deutschen Städten. Ist doch das tschechische Sprachgebiet wie eine Sprachinsel in das grosse Siedlungsgebiet der deutschen Nation eingezwängt! Und dass die Kenntnis der Sprache einer der führenden grossen Kulturnationen für die tschechischen Kinder ein reicher Gewinn ist, wird kein besonnener Tscheche leugnen. Nüchterne Erwägung der Aufgaben der Schule heischt also, dass an allen Minderheitsschulen auch die Sprache der Mehrheit unterrichtet werde.
Nun wissen wir aber, wie gering der Erfolg des Unterrichtes in den lebenden Sprachen nicht nur an unseren Volks- und Bürgerschulen, sondern selbst an den viel besser ausgestatteten Mittelschulen ist. Die Verbesserung der Lehrmethode mag den Erfolg erhöhen. Wirklichen Erfolg kann aber der Sprachunterricht nur haben, wenn die Kinder in der Schule Gelegenheit haben, die fremde Sprache zu sprechen. Das ist nur in unzureichendem Masse der Fall, solange die fremde Sprache bloss ein Unterrichtsgegenstand ist; es wird dagegen verwirklicht, wenn die fremde Sprache, sobald die Schüler sie als Unterrichtsgegenstand in genügendem Masse erlernt haben, bei dem Unterricht in einzelnen Lehrgegenständen als Unterrichtssprache verwendet wird. Es gibt in Oesterreich immer noch einige, in anderen Staaten viel mehr Schulen, in denen im Unterricht verschiedener Lehrgegenstände verschiedene Sprachen verwendet werden. Der Erfolg dieser Unterrichtsmethode war nicht immer günstig. Aber es darf nicht übersehen werden, dass sie gerade an den Minderheitsschulen mit viel grösserer Aussicht auf Erfolg angewendet werden kann als an Schulen in geschlossenen einheitlichen Sprachgebieten. Das tschechische Kind in der deutschen Stadt hört fortwährend in seiner nächsten Umgebung deutsch sprechen. Es wird in der Schule viel leichter und mit viel grösserem Erfolg die deutsche Sprache erlernen als etwa das tschechische Kind im tschechischen Sprachgebiet; es wird, wenn die deutsche Sprache in den unteren Klassen zunächst als Unterrichtsgegenstand gelehrt wird, leicht so weit gebracht werden können, dass die deutsche Sprache in den höheren Klassen bei dem Unterricht einiger, nicht aller Lehrgegenstände als Unterrichtssprache gebraucht werden kann, ohne dass der Unterrichtserfolg dadurch gefährdet wird. Eine solche Schule würde die Schuljugend der nationalen Minderheiten beide Sprachen beherrschen lehren!
Rein sachliche, pädagogische Erwägungen führen also zu dem Schlüsse, dass wir einen besonderen Typus der Minoritätsschulen mit besonderem Lehrplan brauchen. Die Kinder sind in diesen Schulen in ihrer Muttersprache zu unterrichten. Doch ist die Sprache der Bevölkerungsmehrheit in allen Klassen als Unterrichtsgegenstand zu lehren, in den höheren Schulklassen überdies bei dem Unterricht einiger Lehrgegenstände als Unterrichtssprache zu gebrauchen. Die nationalen Minderheiten leben unter besonderen Bedingungen und haben besondere Bedürfnisse; der Unterricht ihrer Kinder wird unter anderen Bedingungen erteilt und er hat andere Bedürfnisse zu befriedigen als der Unterricht an den Schulen in den geschlossenen Sprachgebieten. Daher kann nur ein den besonderen Daseinsbedingungen der nationalen Minderheiten angepasster Schultypus ihre Bedürfnisse befriedigen.
Indessen ist die Frage der Minderheitsschulen nicht nur ein pädagogisches, sondern auch ein nationales Problem; sie ist ein Teil, der wichtigste Teil des grossen Problems der nationalen Minderheiten. Es gibt nationale Minderheiten verschiedener Art: solche, die in vorkapitalistischen Zeiten oder auf älteren Entwicklungsstufen des Kapitalismus entstanden sind, und solche, die erst die grosse Wanderbewegung erzeugt hat, die die Entwicklung der kapitalistischen Industrie und die Umbildung der Landwirtschaft unter kapitalistischem Einfluss hervorriefen. Die Minderheiten älteren Ursprungs bestehen zumeist aus Besitzenden oder doch aus Personen mit höherem Einkommen; für ihre Bedürfnisse ist von altersher gesorgt; sie sind auch wirtschaftlich und politisch stark genug, für sich selbst zu sorgen, wo dies nicht der Fall ist. Die neuen Minderheiten bestehen überwiegend aus Proletariern; die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ist eine neue Aufgabe der öffentlichen Verwaltung. Die Minderheiten des älteren Typus wachsen nicht, sie bröckeln eher ab. Die neuen Minderheiten wachsen mit der Entwicklung des Kapitalismus. Nun sind die Minderheiten des älteren Typus meist deutsch, die des jüngeren meist tschechisch. Da nun diese der öffentlichen Fürsorge mehr bedürfen und da sie weit zukunftsreicher erscheinen als jene, ist es verständlich, dass die Deutschen lieber auf die Sicherung und Ausgestaltung der Rechte ihrer Minderheiten verzichten, ehe sie auch den tschechischen Minderheiten diese Rechte gewähren, obwohl die deutschen Minoritäten in Böhmen und in Mähren absolut und relativ grösser sind als die tschechischen und obwohl keine Nation in Oesterreich so viele Minoritäten zu verteidigen hat wie die deutsche. Aber in einem demokratischen Staate, in dem 9 Millionen Deutschen 16 Millionen Nichtdeutsche gegenüberstehen, wird es nicht möglich sein, dauernd den deutschen Minderheiten zu sichern, was den Minderheiten der anderen Nationen verweigert wird. Und eine proletarische Partei, die die lebendigen Bedürfnisse der Völker gegen die starren Forderungen der historisch-politischen Individualitäten anruft, kann nicht bourgeoise und bäuerliche Minderheiten als historisch-politische Individualitäten schützen, proletarische Minderheiten, weil sie der historischen Stellung entbehren, entrechten wollen. Wir können nur ein Programm für die Minderheitsschulen haben. Ist das Interesse der deutschen Nation, den Tschechen im deutschen Gebiete die Minderheitsschulen zu verweigern, so gross, dass wir um seinetwillen auf die deutschen Minderheitsschulen im tschechischen Gebiete verzichten müssten?
Man schätze die Bedeutung dieser Frage nicht gering! Es leben Tschechen:
in Niederösterreich |
132.968 |
in den deutschen Gemeinden Böhmens [1] |
84.598 |
in den deutschen Gerichtsbezirken Mährens |
131.585 |
in den deutschen Gerichtsbezirken Schlesiens |
14.916 |
Dagegen Deutsche:
in den tschechischen Gemeinden Böhmens |
98.548 |
in den tschechischen Gerichtsbezirken Mährens |
176.098 |
in den slawischen Gerichtsbezirken Schlesiens |
52.022 |
Die Zahlen zeigen anschaulich genug, wie gefährlich es wäre, die deutschen Minderheiten zu gefährden, um nur die Ansprüche der tschechischen Minoritäten abweisen zu können.
Welche Rolle spielen nun die Volksschulen in dem Minoritätenproblem? Die Frage fällt mit der anderen zusammen: welche Rolle spielt die Schule in dem Prozess der nationalen Assimilation?
Das Wesen der nationalen Assimilation ist in unserer Parteipresse in der jüngsten Zeit wiederholt erörtert worden. Wir können die Ergebnisse dieser Erörterungen in folgender Weise zusammenfassen: Die kapitalistische Entwicklung führt zahlreiche Personen in fremdes Sprachgebiet. Die Einwanderer [2] treten nun zwischen zwei Verkehrsgemeinschaften: sie bleiben durch starke Bande mit der Nation verbunden, der sie entstammen, und werden doch auch durch starke Einflüsse mit dem Volke verknüpft, in dessen Mitte sie nun leben. Sie werden „kulturelle Mischlinge“. Erweist sich die Verknüpfung mit der Mutternation dauernd als stärker, dann bleiben sie ihr erhalten; überwiegt der Einfluss der neuen Umgebung, dann werden sie ihr national assimiliert.
Jede Nation wünscht, dass ihre Minderheiten ihr erhalten bleiben, die fremden Minderheiten in ihrem Gebiete assimiliert werden.
Im Verteidigungskampfe für ihre Minderheiten beruft sich jede Nation auf das Recht, sich ihre Volksgenossen bis zum letzten Manne zu erhalten. Aber dieses vermeintliche Recht kann vor der Geschichte nicht bestehen. Der Kapitalismus, der breite Volksschichten aus ihrer Schicksalsgemeinschaft herauslöst und neuen Schicksalsgemeinschaften eingliedert, verändert dadurch die Nationalität dieser Volksschichten. Dieser ökonomischen Tatsache können sich die Nationen ebensowenig erwehren, wie sich der Handwerker der Konkurrenz des Kapitals, der gelernte Arbeiter der Manufaktur des Wettbewerbes der ungelernten Fabriksarbeit erwehren kann. Soweit die nationale Assimilation eine Wirkung des kapitalistischen Umwälzungswerkes und nur dessen Wirkung ist, geht sie unaufhaltsam vor sich. [3]
Aber die nationale Assimilation ist nicht nur die Wirkung des kapitalistischen Umsiedlungsprozesses. Sie wird überdies gefördert durch den Druck, den die nationale Mehrheit auf die Minderheit auszuüben sucht, durch planmässigen Zwang. Durch den Missbrauch wirtschaftlicher Macht und gesellschaftlicher Einflüsse, durch die Verweigerung aller Kulturmittel, deren die Minderheit zur Pflege ihrer Kultur und Sprache bedarf, soll die Assimilation erzwungen werden. Im Kampfe um solche Massregeln verkündet die eroberungslustige Nation den Grundsatz, der Einwanderer dürfe zur Anpassung an die Nationalität des Landes, in dem er Arbeit sucht, gezwungen werden. Dieser Grundsatz kann aber vor unseren sozialen Grundanschauungen nicht bestehen; er bedeutet ja, dass die Eigentümer des Bodens und der Arbeitsmittel das Recht haben sollen, den Proletariern, die sie auf ihren Boden und an ihre Arbeitsmittel stellen, um aus ihrer Arbeit reichen Gewinn zu ziehen, auch ihre Nationalität aufzuzwingen. [4]
Unsere Einsicht in die unvermeidlichen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung warnt uns vor jedem Versuche, die Assimilation künstlich zu hemmen; unsere Kampfesstellung gegen den Kapitalismus, der fremde Einwanderer als willkommenes Ausbeutungsmaterial an sich zieht, verbietet uns, den einwandernden Proletariern, die die Not zwingt, sich in das Reich fremden Kapitals zu begeben, die Nationalität der Kapitalisten aufzwingen zu wollen. Darum wollen wir ihnen Schulen geben, die den Assimilationsprozess nicht hemmen, so weit er eine unvermeidliche Wirkung der proletarischen Wanderungen ist, die ihn aber auch nicht erzwingen, wo die Anziehungskraft der Mutternation stärker ist als die der neuen Umgebung. Diesem Zwecke kann nur jener besondere Typus der Minderheitsschulen dienen, den wir schon aus pädagogischen Erwägungen gefordert haben: Schulen, in denen die Kinder in der Sprache der Minderheit unterrichtet werden, so dass das Band mit der Mutternation nicht zerschnitten wird, aber auch die Sprache der Mehrheit erlernen, damit die Assimilation durch die Schule nicht erschwert werde. Eine solche Schule greift dem nationalen Entwicklungsprozess nicht vor; im freien Wettbewerb der nationalen Kulturen wird entschieden werden, welcher Nation Einfluss auf die Kinder, die in solchen Schulen erzogen worden sind, sich als stärker erweist. Durch die Schule von der Umgebung nicht künstlich abgesperrt, aber auch nicht von der Gemeinschaft, der sie entstammen, geschieden, mögen die Kinder später in freier Selbstbestimmung sich ihre Nationalität wählen.
Den Problemen gegenüber, die der kapitalistische Umschichtungs- und Umsiedlungsprozess hervorruft, haben wir zwei Aufgaben zu erfüllen. Wir sind einerseits die Sachwalter der zur Wanderung gezwungenen Proletarier. Darum müssen wir ihren Schulen die beste Unterrichtsmethode sichern – also Unterricht in der Muttersprache! – aber auch die Ausstattung ihrer Kinder mit allen Kenntnissen fordern, die sie im Leben brauchen werden – also auch mit der Kenntnis der Sprache der Mehrheit! Wir sind aber andererseits auch die Sachwalter der sesshaften heimischen Arbeiterschaft, deren Interessen durch die Einwanderung oft gefährdet werden. Darum fordern wir möglichst gute Schulen für die Kinder der Einwanderer, damit diese uns nicht zu Lohndrückern und Streikbrechern, sondern zu kampffähigen Mitkämpfern erzogen werden – also wiederum den besten Unterricht, den Unterricht in der Muttersprache! – Schulen, die aber auch keine künstliche Scheidewand innerhalb der Arbeiterschaft schaffen, sondern den gemeinsamen Kampf fördern, seine Hemmungen beseitigen – also auch Unterricht in der Sprache der Mehrheit! Die pädagogisch beste Minoritätsschule entspricht auch am besten den Interessen sowohl der heimischen als auch der zuwandernden Arbeiterschaft. Sie findet im proletarischen Klasseninteresse ihre Begründung.
Wie würde nun eine solche Regelung der Schulfrage die nationalen Verhältnisse beeinflussen?
Den günstigsten Einfluss würde die von uns geforderte Lösung des Problems auf die Verhältnisse der deutschen Minderheiten in den slawischen Sprachgebieten üben. Wir würden ihre Minderheitsschulen für alle Zeiten gegen jeden Angriff sichern, wenn wir den Slawen im deutschen Gebiet ihre Schulen zugestehen. Freilich müsste an diesen Schulen nun auch die Sprache der Mehrheit gelehrt werden. Aber auch dies wäre kein geringer Gewinn: die Kenntnis der zweiten Landessprache wird unseren Kindern den Wettbewerb um die einflussreichsten Stellen in öffentlichen und privaten Diensten erleichtern.
Aber auch die Schulfrage der slawischen Minderheiten in den deutschen Gebieten der Sudetenländer würde auf diese Weise in einer den Deutschen vorteilhaften Weise gelöst. Das Reichsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben ja schon längst den Anspruch dieser Minderheiten auf die Errichtung öffentlicher Schulen anerkannt. Wo die tschechischen Minderheiten diesen Anspruch geltend machen, kann die deutsche Mehrheit die Errichtung solcher Schulen heute durch Gewalttätigkeiten und Schikanen für einige Zeit verzögern, aber nicht verhindern. Wie sinnlos diese Politik der deutschen Gemeinden ist, wie der geringfügige nationale Gewinn, den die Verzögerung eines Schulbaues für wenige Jahre bedeuten mag, weitaus aufgewogen wird durch die Wirkungen des Kampfes um die Schule, der den Hass gegen das Deutschtum schon in die Seelen der Schulkinder versenkt und dadurch die friedliche und freiwillige Assimilation erschwert, hat Seliger in seiner trefflichen Rede über das Problem der Minoritätsschulen gezeigt. [5] Das Deutschtum würde nichts verlieren, wenn die deutschen Gemeinden in den Sudetenländern auf den schon nach der heutigen Rechtslage hoffnungslosen Kampf gegen die Minderheitsschulen verzichten würden; es würde aber viel gewinnen, wenn an Stelle rein tschechischer Schulen ein besonderer Minoritätsschultypus geschaffen würde, in dem neben der tschechischen auch die deutsche Sprache unterrichtet würde. Die von uns vorgeschlagene Lösung des Problems würde die Vergewaltigung der tschechischen Minderheiten in den deutschen Gebieten der Sudetenländer aufheben, ihre friedliche und freiwillige Assimilation dagegen sowohl durch die Beendigung der erbitternden Schulkämpfe als auch durch die Einführung des deutschen Unterrichtes in den tschechischen Schulen fördern.
Anders steht die Frage für Wien. Hier ist das Recht der tschechischen Minderheit auf öffentliche Schulen noch nicht anerkannt; hier würde die von uns vorgeschlagene Regelung also die grössten Wirkungen üben. Haben die Deutschen Wiens wirklich Grund, diese Wirkungen zu fürchten?
Bei der letzten Volkszählung wurden in Wien 180.922 Personen gezählt, die in tschechischen Bezirken Böhmens, 113.308 Personen, die in tschechischen Bezirken Mährens, 5.182 Personen, die in tschechischen Bezirken Schlesiens geboren sind. Im ganzen sind also 299.412 in Wien anwesende Personen in den tschechischen Gebieten der Sudetenländer geboren. Von den Einwanderern aus den Sudetenländern haben sich nun aber in Wien zur tschechischen Umgangssprache bekannt: von den Einwanderern aus Böhmen 52.815, aus Mähren 25.640, aus Schlesien 381, zusammen 78.836. Es leben also in Wien 299.412 Personen, die in tschechischen Bezirken der Sudetenländer geboren sind, aber nur 78.836 in den Sudetenländern geborene, in Wien lebende Personen bekennen sich zur tschechischen Umgangssprache. Nach diesen Zahlen würde der Assimilationsgewinn des Deutschtums in Wien 220.576 Köpfe betragen. In Wirklichkeit ist er gewiss beträchtlich kleiner. Auch in den tschechischen Gebieten der Sudetenländer wohnen Deutsche und auch auf sie übt die deutsche Grossstadt eine grosse Anziehungskraft aus; die Zahl der nach Wien einwandernden Tschechen ist also kleiner als die Zahl der aus den tschechischen Bezirken eingewanderten Personen. Andererseits ist das Bekenntnis der Umgangssprache nicht immer ein verlässliches Zeugnis der Nationalität; die Zahl der in Wien wohnenden Tschechen ist also grösser als die Zahl der Personen, die sich hier zur tschechischen Umgangssprache bekannt haben. Aus diesen Gründen können wir annehmen, dass der deutsche Assimilationsgewinn in Wien mit 200.000 Köpfen gewiss zu hoch geschätzt ist. [6] Doch zeigt auch diese Zahl, welch grosse Rolle die nationale Assimilation in der Entwicklung Wiens und des Wiener Deutschtums spielt. Wird dieser Prozess gehemmt werden, wenn den Wiener Tschechen das Recht auf Minderheitsschulen zugestanden wird?
Hier können uns zunächst deutschböhmische Erfahrungen belehren. In den deutschen Bezirken Böhmens mit weniger als 20 Prozent tschechischer Bevölkerung wurden am Tage der letzten Volkszählung 151.370 Personen gezählt, die im tschechischen Sprachgebiet Böhmens geboren waren. In diesen Bezirken haben sich aber nur 56.481 Personen zur tschechischen Umgangssprache bekannt. Der deutsche Assimilationsgewinn betrug also 94.889 Köpfe. Schaltet man das Dux-Teplitzer Kohlenrevier aus, wo ganz besondere Umstände die Aufsaugung des tschechischen Zuzuges hemmen, so erscheint die Assimilation noch grösser: 112.722 Einwanderern aus dem tschechischen Gebiet stehen nur 30.328 tschechisch Sprechende gegenüber, 73,1 Prozent der tschechischen Einwanderer sind Deutsche geworden. [7] Da nun in Wien 299.412 Einwanderern aus den tschechischen Bezirken nur 78.836 tschechisch Sprechende gegenüberstehen, also etwa 73,67 Prozent der Einwanderer dem Deutschtum gewonnen worden sind, so erscheint die Assimilationskraft Deutschböhmens genau ebenso gross wie die Assimilationskraft des Deutschtums in Wien, obwohl den tschechischen Minderheiten in Deutschböhmen das Recht auf Schulen zugestanden wurde, während es ihnen in Wien verweigert wird. Schon diese Tatsache mahnt zur Vorsicht gegenüber dem populären Vorurteil, dass die Aufsaugung der Minderheiten ausschliesslich oder auch nur entscheidend durch die Regelung der Schulfrage beeinflusst wird.
In der Tat zeigen ja unsere Zahlen, dass die Assimilation schon deshalb nicht durch die deutsche Schule in Wien herbeigeführt oder durch tschechische Schulen in Wien verhindert werden kann, weil die grosse Masse der Assimilierten die Schule gar nicht in Wien, sondern noch in ihrer Heimat besucht haben. 73,67 Prozent der Einwanderer wurden schon in der ersten Generation assimiliert und die grosse Mehrzahl von ihnen ist gewiss erst nach Beendigung des Schulbesuches nach Wien gekommen. Die Masse der in Wien dem Deutschtum gewonnenen Tschechen bilden die Lehrjungen, Dienstmädchen und jugendlichen Arbeiter, die nach dem 14. Lebensjahr nach Wien kommen, hier sesshaft werden, einen Hausstand begründen und allmählich in dem grossen deutschen Volkskörper aufgehen! Diese Masse der tschechischen Einwanderer wird assimiliert, obwohl sie in ihrer Heimat eine tschechische Schule besucht haben; die Regelung des Schulwesens in Wien ist für ihre Assimilation ohne Bedeutung.
Nur für zwei Kategorien der Einwanderer hat die Schulfrage eine entscheidende Bedeutung: erstens für jene Einwanderer, die sich selbst der Assimilationstendenz erwehrt haben und nun auch ihre in Wien geborenen Kinder in ihrer Muttersprache erziehen wollen, zweitens für diejenigen, die bereits bei der Einwanderung schulpflichtige Kinder mitbringen. Wie zahlreich diese beiden Kategorien sind, lässt sich wenigstens annähernd zahlenmässig feststellen.
In Niederösterreich stehen von je 1.000 Personen mit deutscher Umgangssprache 221,77, von je 1.000 Personen mit tschechischer Umgangssprache 191,71 im Alter bis zu zehn Jahren. In der niedrigen Besetzung der untersten Altersklassen bei den Tschechen drückt sich die Tatsache aus, dass die Masse der tschechischen Einwanderer erst auf höherer Altersstufe nach Niederösterreich kommt. In Niederösterreich sind von je 1.000 Deutschen 598,03, von je 1.000 Tschechen 617,59 ledigen Standes – die tschechische Einwanderung ist eben nur zum geringen Teile Familienwanderung und der Assimilationsprozess wird häufig noch vor Begründung eines eigenen Hausstandes vollzogen. Daher ist hier die Zahl der Kinder in schulpflichtigem Alter, deren Eltern sich zur tschechischen Umgangssprache bekennen, verhältnismässig gering. Im Jahre 1900 wurden in Wien nur 18.928 Personen mit tschechischer Umgangssprache gezählt, die im Alter bis zu zehn Jahren standen. Bei der Schulfrage handelt es sich also nicht um die grosse Masse der 300.000 Einwanderer aus den tschechischen Gebieten, sondern nur um höchstens 20.000 Kinder in schulpflichtigem Alter, deren Eltern sich auch in Wien noch als Tschechen bekennen. Den 18.928 tschechischen Kindern stehen 270.096 deutsche Kinder im Alter bis zu zehn Jahren gegenüber – zeugt es wirklich von nationalem Selbstbewusstsein, von Vertrauen in die Kraft und Grösse der deutschen Nation, wenn wir den deutschen Charakter der alten deutschen Hauptstadt bedroht glauben, sobald ein paar tausend tschechische Schulkinder in tschechischer Sprache unterrichtet werden?
In Wahrheit ist das nationale Problem Wiens ein ganz anderes. Hainisch hat darauf hingewiesen, dass sich der Anteil der in den Sudetenländern Geborenen an der Wiener Bevölkerung seit einem halben Jahrhundert nicht geändert hat – im Jahre 1856 waren 25 Prozent, heute sind 26,6 Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung in den Sudetenländern geboren. „Die Zuwanderung ist alt, geändert hat sich nur das nationale Selbstbewusstsein der Einwanderer und dies macht die Assimilierung dieser Einwanderer, die sich bisher geräuschlos vollzogen hat, zu einem immerhin ernsten Problem.“ [8] Die Widerstandskraft der nationalen Minderheit gegen die Assimilation ist durch zwei Tatsachen gestärkt worden. Zunächst durch die Hebung des Kulturniveaus der Bevölkerung in den tschechischen Auswanderungsgebieten. Nicht mehr als kulturlose Lohnsklaven, sondern als selbstbewusste Arbeiter, die ein Stück ihrer nationalen Kultur in sich aufgenommen haben, kommen die tschechischen Einwanderer nach Wien. Diese an sich sehr erfreuliche Tatsache ist die erste Ursache, die die Assimilation erschwert; dieser Tatsache können wir und wollen wir nicht entgegenwirken. Aber noch eine andere Tatsache hemmt den Assimilationsprozess: der nationale Kampf, der das Bewusstsein der Einwanderer mit Abneigung gegen das Deutschtum erfüllt und sie dadurch gegen die Anziehungskraft der deutschen Kulturgemeinschaft schützt. Diese Ursache können und wollen wir bekämpfen. Entziehen wir durch eine vernünftige Lösung der Schulfrage dem Chauvinismus seinen Nährstoff, dann wird die friedliche Assimilation von mancher Hemmung befreit werden! Die tschechische Schule könnte äusserstenfalls die Nationalität von 20.000 Schulkindern beeinflussen; der Kampf um die tschechische Schule, der die pädagogische Zweckmässigkeitsfrage zur Frage der nationalen Ehre aufbauscht, gefährdet die friedliche Assimilation von 200.000 erwachsenen Tschechen, in denen ihr Nationalbewusstsein geweckt, ihr nationales Ehrgefühl aufgestachelt wird, wenn man ihnen aufzwingen will, was sie sonst aus nüchterner Zweckmässigkeitserwägung freiwillig auf sich genommen hätten. Wer die Psychologie des nationalen Assimilationsprozesses kennt, wird zugeben, dass der Kampf um die Minderheitsschulen der Assimilation grössere Schwierigkeiten bereitet, als die Errichtung von ein paar Schulen, in denen neben der tschechischen auch die deutsche Sprache gelehrt würde, ihr bereiten würde. Die tschechische Minderheit in Wien wird niemals gänzlich assimiliert werden können – sie wird es auch heute nicht, trotz der deutschen Schulen; ihre teilweise und allmähliche Assimilation kann nur in einer Atmosphäre friedlichen Verkehres, nicht im Lärm des Kampfes erfolgen. Darum kann auch den Interessen des Deutschtums ein billiger Ausgleich in der Wiener Schulfrage nur förderlich sein. Ein solches Kompromiss stellt der Typus der Minderheitsschulen dar, den wir empfehlen.
Ich glaube daher, dass keine nationalen Rücksichten uns deutsche Sozialdemokraten hindern, in der Frage der Minderheitsschulen zu tun, was unsere pädagogische Einsicht und unsere soziale Gesamtanschauung uns gebieten.
Schliesst sich die Partei dieser Ansicht an, dann wird es nicht schwer sein, die Grundlinien eines sozialdemokratischen Programms für die Frage der Minoritätsschulen festzustellen.
An erster Stelle müssen wir fordern, dass die Frage der Minderheitsschulen gelöst werde durch die Reichsgesetzgebung und für das Reich. Wir sprechen nicht nur den Landtagen die Zuständigkeit zur Lösung des Problems ab. Wir stellen auch die unleugbare Tatsache fest, dass keine Nation und am allerwenigsten die deutsche auf die wirkliche oder vermeintliche Machtstellung, die ihr die heutige Regelung des Problems in einem Lande gibt, verzichten wird, wenn ihr nicht gleichzeitig ihr Recht in den anderen Ländern wird. Das heutige Machtverhältnis der Nationen schliesst jede einseitige Lösung aus. Es ist undenkbar, dass die tschechische Minderheit in Wien das Recht, ihre Kinder in öffentlichen Schulen in ihrer Muttersprache zu erziehen, erlangt, ohne dass gleichzeitig den deutschen Minderheiten aller-wärts ihr Recht auf Minderheitsschulen gegen jeden Angriff gesichert und ohne dass gleichzeitig die Organisation der tschechischen Minderheitsschulen in den deutschen Bezirken der Sudetenländer in einer solchen Weise umgestaltet wird, dass den Wünschen der nationalen Mehrheit Rechnung getragen wird, soweit sie durchführbar sind, ohne das Recht der Minderheiten auf die nationale Erziehung ihrer Kinder zu verletzen.
In meritorischer Hinsicht müssen wir eine besondere Organisation der Minderheitsschulen fordern. Die Muttersprache der Kinder ist Unterrichtssprache, die Sprache der Mehrheit Unterrichtsgegenstand, in den höheren Schulklassen bei dem Unterricht einiger Lehrgegenstände überdies Unterrichtssprache. Da vielfältige Erfahrung beweist, dass nur sehr wenige Lehrer eine Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, mit gutem Erfolg unterrichten können, sind die Lehrerstellen an den Minderheitsschulen tunlichst in der Weise zu besetzen, dass jeder Lehrer nur die Sprache seiner Nation als Unterrichtssprache zu gebrauchen und als Unterrichtsgegenstand zu lehren hat.
Die Frage der Schulaufsicht wird uns keine Schwierigkeiten bereiten. In dieser Hinsicht haben auch die bürgerlichen Parteien den Grundsatz der nationalen Autonomie anerkannt und in Böhmen und Mähren – freilich unvollständig und unzureichend – durchgeführt.
Ebenso ist die Frage der Schullasten unschwer zu lösen. Wir fordern die Uebertragung der Schullasten an die zu konstituierenden Nationen. Da die Belastung kleinerer Gemeinden durch den Zwang zur Errichtung der Minderheitsschulen die Lösung des Problems sehr erschwert, sind die Kosten dieser Schulen, solange die Nationen nicht konstituiert sind, von grösseren Territorialverbänden, den Ländern oder den Kreisen, zu tragen.
Ein solches Programm würde meiner persönlichen Ansicht nach den Grundsätzen der Unterrichtsmethode entsprechen, ohne den anzustrebenden Unterrichtserfolg, der auch die Kenntnis der Mehrheitssprache einschliesst, zu gefährden; es würde die nationale Assimilation nicht künstlich hemmen, sie aber auch niemandem aufzwingen; es würde den wirklichen Interessen der nationalen Minderheiten vollkommen entsprechen, aber auch den Wünschen der Mehrheiten Rechnung tragen. Ein solches Programm allein entspricht unseren sozialen Grundanschauungen und den Klasseninteressen des Proletariats. Auf keiner anderen Grundlage erscheint mir eine einverständliche Lösung, ein nationaler Ausgleich möglich.
Können wir uns über ein solches Programm einigen, dann sind wir endlich in der Lage, auf eine stets aktuelle Frage eine konkrete und unzweideutige Antwort zu geben. Auf dieser Grundlage wird eine Vermittlung zwischen dem Territorialprinzip und dem Personalitätsprinzip möglich sein, in deren Widerstreit sich ja nichts anderes als das Minoritätenproblem birgt. Die Verständigung über ein solches Programm wird den gefährlichsten Grund der Unstimmigkeiten zwischen den deutschen und den tschechischen Genossen beseitigen und dadurch die österreichische Internationale kräftigen, zur Ausgestaltung des gemeinsamen Nationalitätenprogramms erst die Möglichkeit schaffen. Sind wir einsichtig und mutig genug, dieses Problem zu lösen, dann haben wir kein anderes mehr zu fürchten!
Ich stelle dieses Programm zur Diskussion. Ich hoffe, dass sie als fruchtbare Wirklichkeit offenbaren wird, was in Prag wie in Reichenberg als Wunsch in schönen Worten so oft verkündet wurde: den Willen der Sozialdemokraten aller Nationen, den Völkern Oesterreichs den Weg zum nationalen Frieden auf der Grundlage des nationalen Rechtes zu weisen.
1. Für Böhmen liegen Rauchbergs Berechnungen nach Ortsgemeinden vor; für Mähren und Schlesien müssen wir uns mit den Angaben über die nationale Zusammensetzung der Gerichtsbezirke begnügen.
2. Genosse Hudec hat im Právo Lidu einen Artikel veröffentlicht, in dem er uns das Recht abspricht, die tschechischen Arbeiter in Wien Einwanderer zu nennen. Die deutsche Sprache ist aber nun einmal so boshaft, Leute, die eingewandert sind, als Einwanderer zu bezeichnen. Hudec meint wohl, dass wir die tschechischen Arbeiter durch diesen Ausdruck herabsetzen und ihre Vergewaltigung rechtfertigen wollen. Dieser Verdacht ist natürlich ganz unbegründet. Wir sind nicht der Meinung, dass Proletarier, die der Kapitalismus zur Aenderung ihres Wohnsitzes zwingt, darum ihres Rechtes verlustig werden sollen. Sind doch nicht nur die tschechischen Arbeiter Wiens in diesem Sinne Einwanderer, sondern auch die Mehrzahl der deutschen Proletarier! Wenn dem Genossen Hudec die Terminologie des wissenschaftlichen Sozialismus ebenso vertraut wäre, wie die des nationalen Chauvinismus, dann hätte er vielleicht bemerkt, dass der Gedankengang des von ihm angefochtenen Artikels und seine Terminologie nicht dem Gedanken- und Wortschätze der Deutschnationalen entnommen war, sondern wenigstens teilweise einer Abhandlung über proletarische Wanderungen, die ich vor dem Stuttgarter Sozialistenkongress in der Neuen Zeit veröffentlicht habe und die auf die Beschlüsse des Kongresses über das Einwanderungsproblem nicht ganz ohne Einfluss geblieben ist.
3. Vgl. hierzu die Arbeiter-Zeitung vom 15. August und 12. September 1909.
4. Vgl. die ausführliche Kritik dieser Anschauungen in meinem Buche Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, § 21.
5. Die Minoritätsschulen und die Sozialdemokratie, Rede des Abgeordneten Josef Seliger im österreichischen Abgeordnetenhaus am 3. Juli 1909, Verlag der Teplitzer „Freiheit“. Preis 2 h. – Das Flugblatt sollte überall verbreitet werden, wo die Frage der Minoritätsschulen aktuell wird.
6. Vergl. Meinzingen, Die binnenländischen Wanderungen und ihre Rückwirkung auf die Umgangssprache, Statistische Monatshefte, N. F., VII. Jg., Seite 693 ff.
7. Vergl. Rauchberg, Der nationale Besitzstand in Böhmen, I., Seite 296 ff.
8. Hainisch, Einige neue Zahlen zur Statistik der Deutschösterreicher, Leipzig 1909, Seite 45 f.
Leztztes Update: 6. April 2024