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Der Kampf, Jg. 2 Heft 9, 1. Juni 1909, S. 429–430.
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Genosse Artur Schulz macht in seiner Broschüre Oekonomische und politische Entwicklungstendenzen in Deutschland (Verlag Birk, München) den Versuch, „die Autonomieforderung der süddeutschen sozialdemokratischen Landesorganisationen theoretisch zu begründen“. Er knüpft zu diesem Zwecke an eine Abhandlung an, in der Karl Kautsky die Verschiedenheit der politischen Entwicklung in Süd- und Norddeutschland daraus zu erklären versuchte,dass Süddeutschland auf einer niedrigeren Stufe der kapitalistischen Entwicklung steht als der Norden des Reiches. Dieser Erklärung gegenüber weist Schulz mit Recht darauf hin, dass die Eigenart der sozialen und politischen Verhältnisse Süddeutschlands nicht nur aus „dem graduellen Unterschied in der Industrieentwicklung“, sondern auch aus dem „prinzipiellen Unterschied in der gesamten Agrarverfassung, und zwar in der Grundbesitzverteilung ebenso wie in der landwirtschaftlichen Betriebsgliederung und Arbeitsverfassung“ zu erklären ist. In der Tat können auch Länder, deren Industrie gleich entwickelt ist, sich doch durch die Grundbesitzverteilung, durch das Verhältnis zwischen dem Grossbetrieb und Kleinbetrieb in der Landwirtschaft wesentlich unterscheiden; hier wirken Verschiedenheiten vorkapitalistischer Wirtschaftsentwicklung heute noch fort. Und dass die Entwicklung des Klassenbewusstseins der besitzenden Klassen, aber auch der Arbeiter sehr wesentlich davon beeinflusst wird, ob Grundherren oder Bauern die Landwirtschaft beherrschen, ist unverkennbar.
Aber über diese unleugbare Tatsache geht Schulzens Broschüre weit hinaus. Er weist nämlich nicht nur auf die Verschiedenheit süd- und norddeutscher Agrarverfassung hin, er behauptet vielmehr, dass die Entwicklung auch Norddeutschland zum landwirtschaftlichen Kleinbesitz und Kleinbetrieb führen werde. Süddeutschland steht also, dank seiner bäuerlichen Agrarverfassung, auf einer höheren Stufe der Wirtschaftsentwicklung als Norddeutschland. „Das Schicksal des Grossgutes als der herrschenden landwirtschaftlichen Unternehmungsform im Osten ist heute schon besiegelt.“ Wir stehen an der Schwelle des „Zeitalters der bäuerlichen Neukolonisation des Ostens“. Diesen Schluss zieht Schulz aus – der preussischen Landarbeiterkolonisation, die bekanntlich dem Zwecke dient, durch die Milderung der Leutenot den landwirtschaftlichen Grossbetrieb zu stärken.
Schulz hält es für die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie, diese Entwicklung zu fördern. Denn einerseits „verwirklicht der selbständige Familienbetrieb der Kleinbauern die Grundprinzipien des Sozialismus“, andererseits werden die Industriearbeiter in ihrem Kampfe gegen das industrielle Kapital in der Bauernschaft „Freunde oder neutrale Schiedsrichter“ gewinnen. Die Sozialdemokratie solle daher Verleihung von individuellem Grundeigentum an die Landarbeiter fordern, im Interesse des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs den Kampf gegen die Viehzölle aufgeben und nicht durch die antiklerikale Agitation die Gefühle der bäuerlichen Bundesgenossen verletzen. Als warnendes Beispiel wird die österreichische Sozialdemokratie hingestellt. „Welche Erfolge haben denn die österreichischen Genossen mit einer solchen Verbindung antiklerikaler und antischutzzöllnerischer Politik errungen? Sie haben glücklich erreicht, dass die Christlichsozialen, so lange eine korrupte Wiener Spiessbürgerpartei, schon heute die Partei der Bauern aller Alpenländer geworden sind und es als solche an Volkstümlichkeit, Kraft und Bedeutsamkeit für die Zukunft Oesterreichs getrost mit jeder anderen Partei aufnehmen können.“
Uns dünkt, dass Schulz das Wesen der modernen Agrarfrage völlig verkennt. Wie die meisten reichsdeutschen Genossen sieht auch er nur die Besitz- und Betriebsfrage. Aber die Statistik zeigt, dass in der Landwirtschaft weder der Grossbesitz den Bauern noch die Bauernschaft den Grossbesitz aufzusaugen vermag; und die Einsicht in die Gesetze der Konkurrenz auf dem Getreide- und Bodenmarkt vermag diese Tatsache restlos zu erklären. Der landwirtschaftliche Kleinbetrieb wird in der kapitalistischen Welt gewiss nicht verschwinden, wie ältere Marxisten geglaubt haben; aber ebensowenig wird der Grossbetrieb zugrunde gehen, wie David und Schulz meinen. Viel wichtiger als die verhältnismässig geringfügigen Veränderungen in der Grundbesitzverteilung und in der Betriebsverfassung sind die Umwälzungen im inneren Wesen der landwirtschaftlichen Unternehmung. Je mehr der Bauer zum Warenproduzenten wird, je enger sich der bäuerliche Einzelbetrieb genossenschaftskapitalistischen Unternehmungen angliedert, desto stärker wird der Gegensatz zwischen den Landwirten und den Arbeitern, die auf den Kampf gegen die Teuerungspolitik der agrarischen Organisationen, die den Reallohn der Arbeiter herabdrückt, unmöglich verzichten können. Und je mehr auch der Bauer von der Leutenot bedroht wird – Schulz glaubt von ihr ganz mit Unrecht nur den Grossbetrieb betroffen – desto feindseliger wird die Stimmung der Landwirte auch gegen die Hebung der Lage der industriellen Arbeiterschaft, deren Folgeerscheinungen den Bauern auf dem ländlichen Arbeitsmarkt fühlbar werden. Die Landwirte haben längst aufgehört, dem sozialen Kampf in der Industrie als „neutrale Schiedsrichter“ gegenüberzustehen. Die bäuerlichen Agrarparteien in Oesterreich sind weniger brutale, aber engherzigere und intransigentere Gegner der Arbeiterschaft als die preussischen Junker. Zu gewinnen ist für uns der naturalwirtschaftliche Bauer, der noch im Grossgrundbesitzer seinen einzigen Feind sieht (Russland, Galizien, Ungarn), viel schwerer schon der Bauer, der, zu intensiverer Kultur übergehend, von einer antikapitalistischen „Mittelstandspolitik“ seine Rettung vor dem „mobilen“ Kapital erhofft, aber gewiss nicht mehr der Waren produzierende und billige Arbeitskräfte suchende Landwirt eines kapitalistisch entwickelten Landes. Nicht doktrinäre Vorurteile, nicht Mängel unserer Landagitation, sondern reale Interessengegensätze beschränken die Werbekraft des proletarischen Sozialismus auf die proletarischen Elemente im Dorfe. Die zu gewinnen, ist unsere Agrarfrage! Wer aber der Sozialdemokratie empfiehlt, reale Interessen der Arbeiterschaft nicht zu vertreten, weil sonst nichtproletarische Bevölkerungsschichten von uns abgestossen würden, rät ihr, so redlich auch seine Absicht sein mag, zum Verrat an der Arbeiterklasse.
Schützens Arbeit trägt zur Diskussion der Agrarfrage kein wertvolles Element bei. Wohl aber zeigt sie, was für unproletarische und unsozialistische Ansichten sich an die Rockschösse des deutschen Revisionismus hängen und in dessen Gefolge in die Partei einzudringen versuchen. Zu dem grosskapitalistisch-imperialistischen Sozialismus der Schippel, Calwer und Leuthner ist der spiessbürgerlich-agrarische Sozialismus des Genossen Schulz das rechte Gegenbild.
Leztztes Update: 6. April 2024