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Der Kampf, Jg. 2 Heft 8, 1. Mai 1909, S. 337–344.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
In anderer Stimmung als in den letzten Jahren feiern wir heuer den 1. Mai.
Tage der Siegesfreude waren in den letzten Jahren die Maitage. In der Periode der Hochkonjunktur sind unsere Gewerkschaften erstarkt. In zahllosen erfolgreichen Kämpfen haben sie die Unternehmerklasse besiegt. Wie in der Fabrik ist auch im Staate die organisierte Arbeiterschaft zur gefürchteten Macht geworden. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht wurde errungen. Der Sozialdemokratische Verband im Abgeordnetenhause hat sich im Kampfe gegen die bürgerliche Koalition als eine starke Wehr der Arbeiterklasse bewährt. Stolz der errungenen Macht feierten wir den Festtag der Arbeit.
Nun aber sind im Gefolge der Wirtschaftskrise Elend und Arbeitslosigkeit wiedergekehrt. Die Gewerkschaften müssen sich auf die Verteidigung des Errungenen beschränken. Der nationale Hader verhindert im Parlament die soziale Reformarbeit. Der drohenden Kriegsgefahr konnten wir nichts als Worte des Protests entgegensetzen. Die Grenzen der Macht, die wir uns errungen haben, hat das letzte Jahr uns erkennen gelehrt. An neue Machtkämpfe denken wir heuer am 1. Mai. Die grosse Frage nach dem Weg zur Macht trifft heute die Arbeiterklasse in empfänglicher Stimmung.
Die letzte Geschichtsepoche, die mit der französischen Revolution im Februar 1848 begonnen und mit der russischen Revolution im Oktober 1905 geendet hat, zerfällt in zwei deutlich geschiedene Abschnitte.
Vom Jahre 1848 bis zum Jahre 1871 dauerte das Zeitalter der grossen sozialen, politischen und nationalen Umwälzungen. In diese Zeit fällt die europäische Revolution vom Jahre 1848, der preussische Militärkonflikt und der Agitationsfeldzug Lassalles 1863, der polnische Aufstand und die Gründung der Internationale 1864, die Erhebung des Pariser Proletariats im Jahre 1871. In diese Zeit fallen die italienischen Kriege 1848, 1859 und 1866, der Krimkrieg 1853, der dänische Krieg 1864, der preussisch-österreichische Krieg 1866, der deutsch-französische Krieg 1870. Es war eine Zeit der grössten sozialen Umwälzungen: die bürgerliche Revolution hat die Grundherrschaft beseitigt, die Gewerbefreiheit geschaffen, die Grundlagen des internationalen Handelsvertragssystems gelegt. Es war eine Zeit nationaler Staatsbildungen: das Deutsche Reich, das Königreich Italien, der ungarische Nationalstaat sind in diesen Kämpfen entstanden. Fast alle Staaten haben in dieser Periode die gewaltigsten Umwälzungen ihrer Verfassung erlebt. So fällt in Oesterreich in diese Zeit die provisorische Verfassung vom März und Mai 1848, der Kremsierer Verfassungsentwurf und die oktroyierte Märzverfassung von 1849, das Silvesterpatent von 1851, das Oktoberdiplom von 1860, das Februarpatent 1861, die Sistierung der Verfassung 1865, die Dezembergesetze 1867, die Eroberung des Koalitionsrechts 1870, Hohenwarts Glück und Ende 1871 – welche Reihe von Umwälzungen!
Auf diese Periode der Umwälzungen folgte dann aber eine Epoche des ruhigen Aufbaues, der langsamen und allmählichen Entwicklung, die von 1871 bis 1905 dauerte. In dieser Zeit hat Mitteleuropa keinen Krieg, keine Revolution, keine Staatsbildung mehr erlebt. Langsame Umgestaltungen des Verfassungslebens, allmählicher Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Gesetzgebung charakterisieren diese Epoche. Obwohl gerade in diesem Menschenalter der Kapitalismus in Europa ungeheuer erstarkt ist, obwohl er gerade in dieser Zeit sein Reich über den ganzen Erdkreis ausgedehnt hat, blieb doch das staatliche Leben in Europa selbst von allen grossen Erschütterungen verschont.
Karl Kautsky sucht nun in seinem neuen Schrift eben Der Weg zur Macht wahrscheinlich zu machen, dass wir einer Periode entgegengehen, die der revolutionären Epoche 1848 bis 1871 ähnlicher sein wird als der Zeit der Ruhe, die wir von 1871 bis 1905 erlebt haben. Diese Vermutung stützt er auf folgende Gedankenreihen:
Das Proletariat bildet in allen kapitalistisch entwickelten Staaten den grössten und am schnellsten wachsenden Teil, im Deutschen Reich schon fast drei Viertel der Bevölkerung. In starken politischen und gewerkschaftlichen Organisationen sind die reifsten Schichten des Proletariats vereinigt. Bei langsamer Entwicklung der Gesellschaft kann es diesen Organisationen freilich nicht gelingen, die ganze Arbeiterklasse in einer grossen einheitlichen und schlagfertigen Armee zu vereinigen. Je schneller das Proletariat wächst, desto zahlreicher sind ja innerhalb der Arbeiterklasse die Elemente, die sich von der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Gedankenwelt noch nicht zu befreien vermochten. Nur in einem Zeitalter grosser politischer Umwälzungen, die die Volksmassen aufrütteln, lernen Hunderttausende in wenigen Jahren, wozu sie sonst Menschenalter brauchen würden. Einem solchen Zeitalter gehen wir entgegen.
Die Arbeiterklasse leidet heute unter den hohen Preisen aller Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände. Die Verwandlung der Vereinigten Staaten in einen Industriestaat und der Bankerott der russischen Landwirtschaft erschweren die Versorgung Europas mit billigen Lebensmitteln. Kartelle und Trusts verteuern die Industrieprodukte. Durch die Schutzzölle und die indirekten Abgaben wird diese Tendenz noch gestärkt. Sie zwingt die Arbeiter zum Kampfe um höhere Löhne. Aber dem gewerkschaftlichen Kampfe türmen sich gewaltige Hindernisse entgegen: der Ausbau der Unternehmerverbände und der Zuzug ausländischer Arbeiter. So unentbehrlich die Gewerkschaften sind, dürfen wir doch nicht erwarten, dass sie das Proletariat noch einmal so mächtig vorwärtsbringen werden wie in den letzten zwölf Jahren.
Mit desto grösserer Energie wird die Arbeiterklasse vom Staate Hilfe verlangen. Aber auch hier stehen dem Erfolg grosse Hindernisse entgegen. Die Rüstungen zu Land und zu Wasser, die die Kolonialpolitik und der Imperialismus erfordern, verschlingen die finanziellen Mittel des Staates und verhindern dadurch die Verwendung staatlicher Mittel für sozialpolitische Zwecke. Die Mittelklassen, die dem Klassenkampf der Arbeiterschaft gegen die industrielle Unternehmerklasse früher neutral oder sympathisch gegenübergestanden sind, sind heute der Arbeiterklasse feind: die Handwerksmeister, weil sie sich von den Gewerkschaften, die Kleinhändler, weil sie sich von den Konsumvereinen bedroht fühlen, die Bauern, weil sie im Gegensatz zu den Arbeitern hohe Lebensmittelpreise wünschen, die Intellektuellen, weil sie sich durch den Kampf des Proletariats gegen den Imperialismus abgestossen fühlen. Die Arbeiterklasse ist nicht imstande, grosse soziale Reformgesetze zu erringen. Sie muss daher die Aenderung der Verfassung anstreben, um ihre Macht im Staate zu steigern. Im Deutschen Reich fordert sie die Neueinteilung der Reichstagswahlkreise, die Steigerung der Macht und die Ausdehnung der Kompetenzen des Reichstages, die Demokratisierung des Landtagswahlrechts in Preussen und Sachsen, die Einschränkung der Heeres- und Flottenrüstungen. Die politische Aktion, der Kampf um die politische Macht tritt im Bewusstsein des Proletariats an die erste Stelle.
Diesen politischen Kämpfen stehen freilich noch viele Hunderttausende Arbeiter teilnahmslos gegenüber. Sie werden erst durch grosse weltgeschichtliche Ereignisse aufgerüttelt werden. Der Imperialismus und die militärischen Rüstungen erzeugen eine Kriegsgefahr, die schliesslich nicht mehr zu bannen sein wird. Die Völker Asiens und Nordafrikas beginnen sich gegen die Herrschaft der kapitalistischen Grossmächte zu erheben; ihr Erwachen wird auch in Europa die folgenschwersten Wirkungen herbeiführen. Kriegerische Verwicklungen und blutige Revolutionen der unterworfenen Volker des Orients werden auch in Europa eine Periode gewaltiger Machtverschiebungen einleiten. Diese Periode kann nicht anders enden als mit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Ob das Zeitalter der proletarischen Revolution ebensolange dauern wird wie das der bürgerlichen, die 1789 begann und bis 1871 währte, und in welcher Form sich die grossen politischen Machtverschiebungen vollziehen, welcher Waffen sich die kämpfenden Klassen bedienen werden, ist heute natürlich noch nicht zu erkennen. Gewiss ist aber, dass das Proletariat in dieser Periode der Umwälzungen die selbstlosen
und weitblickenden Elemente aller Klassen in sich aufnehmen, die zurückgebliebenen Elemente in seiner Mitte mit Einsicht und Hoffnungsfreudigkeit erfüllen und auf diese Weise fähig werden wird, die grosse wirtschaftliche Umwälzung, die gesellschaftliche Organisation der Weltwirtschaft einzuleiten.
Kautskys Schlussreihen beruhen auf der Beobachtung einiger unbestreitbarer Tatsachen. Doch scheint es uns, dass einigen der von Kautsky dargestellten Entwicklungstendenzen mächtige Gegentendenzen entgegenwirken.
Genosse Kautsky glaubt, dass das Proletariat im gewerkschaftlichen Kampf und im Kampf um soziale Reformgesetze schon fast alles errungen hat, was es ohne eine grosse Verschiebung der politischen Machtverhältnisse überhaupt erringen kann. Der weitere Fortschritt des Proletariats stosse auf immer mächtigere Hindernisse; ihre Ueberwindung sei nicht ohne grosse politische Umwälzungen möglich.
Gewiss wird die Kaufkraft des Geldlohnes durch die Verteuerung vieler Waren verringert; gewiss werden die Warenpreise auch in Zukunft steigen, soweit ihr Steigen auf die Preispolitik der Kartelle und Trusts, auf die Erhöhung der Zölle und indirekten Abgaben zurückzuführen ist. Dagegen lässt sich noch nicht entscheiden, ob nicht neben Amerika sehr bald neue grosse Produktionsgebiete den europäischen Getreidemarkt versorgen werden. Aegypten wird wohl schon in den nächsten Jahren, Vorderasien vielleicht in nicht zu ferner Zeit ansehnliche Mengen Getreide nach Europa ausführen. Auch scheint es mir keineswegs gewiss, dass Russland seine Getreideausfuhr nicht zu vermehren imstande sein wird. In einigen Gebieten Russlands geht eben jetzt der Fortschritt zu intensiverer Kultur ziemlich schnell vor sich; und dass die Erträgnisse dieser Landwirtschaft auf den Weltmarkt gebracht werden, dafür sorgt schon, durch die schwere Schuldenlast des russischen Staates gezwungen, die russische Steuerpolitik. Ausserdem ist das Steigen der Warenpreise teilweise wohl auch auf das Sinken der Produktionskosten des Goldes zurückzuführen; ob und mit welcher Kraft diese Ursache des Steigens der Warenpreise in Zukunft wirken wird, lässt sich heute noch nicht ermessen.
Gewiss stellt das Erstarken der Unternehmerverbände den Gewerkschaften neue schwere Aufgaben. Wer aber die Zahl der organisierten mit der Masse der organisationsfähigen Arbeiter vergleicht, wer sich erinnert, wie schnell die Gewerkschaften während der letzten Prosperität gewachsen sind und wie wenig sie in den Jahren der Depression verloren haben, wie ihre finanzielle Kraft, wie die Disziplin und Opferwilligkeit ihrer Mitglieder noch viel schneller wächst als ihre Zahl, wer schliesslich erwägt, welch grosses Heer von gelernten, also nicht leicht ersetzbaren Arbeitskräften gerade der moderne Grossbetrieb zur Beaufsichtigung des automatisierten Produktionsprozesses braucht, wird an der Möglichkeit nicht verzweifeln, auch durch Kampfmittel rein gewerkschaftlicher Natur selbst den kapitalkräftigsten Unternehmungen unmittelbare Erfolge abzuringen. Es mag sein, dass in einzelnen Industriezweigen, in denen die Kampfesbedingungen dem Unternehmertum besonders günstig sind, die gewerkschaftlichen Kampfmittel allein versagen; aber jeder Blick auf die Betriebsstatistik beweist, dass diese Produktionszweige nur einen kleinen Teil der gesamten Arbeiterschaft beschäftigen.
Gewiss belastet auch die Einwanderung fremder Arbeiter den Arbeitsmarkt. Aber soweit die fremden Arbeiter aus industriell-kapitalistischen Ländern einwandern, können sie von der gewerkschaftlichen Organisation desto leichter gewonnen werden, je schneller sich die gewerkschaftliche Bewegung auch im Osten und Süden Europas entwickelt; ihre Zahl ist nur dann gross, wenn eine schnell wachsende Industrie unter wirklichem Mangel an Arbeitskräften leidet, also gerade bei günstiger Lage auf dem Arbeitsmarkt; diese Wanderung belastet den Arbeitsmarkt eines Gebietes, entlastet ihn aber dafür in einem anderen Teile der kapitalistischen Welt. Sie erschwert nicht den Aufstieg der ganzen Arbeiterklasse, sondern gleicht nur allzu grosse Unterschiede der Lohnhöhe aus. Weit gefährlicher ist allerdings die Einwanderung aus agrarisch-hauswirtschaftlichen Gebieten. Indessen sind diese Einwanderer in Deutschland und Oesterreich in grösseren Massen nur in jene Produktionszweige eingedrungen, von denen sich ein grosser Teil der heimischen Arbeiterschaft in den Jahren der Prosperität abgewendet hat, in denen daher auch trotz des Zuzuges der Einwanderer die Löhne nicht unbeträchtlich gestiegen sind, so insbesondere in die Landwirtschaft. Allerdings ist es nicht undenkbar, dass auch in Europa der Versuch unternommen werden wird, Kontraktsklaven in grossen Massen zu importieren; die Agrarier, durch die Leutenot geschreckt, stellen ja in Deutschland und Oesterreich, ja selbst in Galizien und Ungarn diese Forderung. Ein solcher Versuch wäre allerdings geeignet, die europäische Arbeiterschaft zu einer revolutionären Erhebung zu treiben.
Heute aber braucht uns um die Möglichkeit, im gewerkschaftlichen Kampfe Erfolge zu erringen, noch lange nicht bange zu sein. Kautsky zieht aus einer amerikanischen Lohnstatistik den Schluss, dass die Reallöhne der Arbeiter in den Vereinigten Staaten selbst in den letzten Jahren der Prosperitätsperiode gesunken seien. Ich halte diese nach einer von vielen Statistikern verworfenen Methode gearbeitete Statistik überhaupt für wenig beweiskräftig; jedenfalls aber beweist sie nichts für die europäische Arbeiterklasse. Die amerikanischen Arbeiter verdanken ihre verhältnismässig hohen Löhne der Tatsache, dass Amerika noch vor kurzer Zeit den ökonomischen Charakter eines Kolonialgebietes trug; heute, da diese Ursache zu wirken aufhört, ist das Lohnniveau der amerikanischen Arbeiter vielleicht gefährdet, jedenfalls seine weitere Erhöhung schwer zu erreichen. In Europa liegt eine solche Veränderung in den Bestimmungsgründen des Arbeitslohnes nicht vor. Schliesslich aber handelt es sich im gewerkschaftlichen Kampfe nicht nur um den Arbeitslohn, sondern auch um die Arbeitszeit, um die hygienischen Verhältnisse und um die soziale Stellung des Arbeiters im Betriebe; dass hier grosse Erfolge errungen worden sind und noch errungen werden können, ist unbestreitbar.
Im letzten Grunde hängt die Kraft der Unternehmerverbände wie die Kraft der Gewerkschaften von dem Verhältnis ab, in welchem die Wachstumsrate des im Inlande verwendeten Lohnkapitals zu der Wachstumsrate der im Inlande verfügbaren Arbeiterbevölkerung steht. Dieses Verhältnis wird durch den schnellen Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals und durch den Kapitalsexport auf der einen, durch die schnelle Vermehrung der Volkszahl des Proletariats auf der anderen Seite in ungünstigem Sinne, aber andererseits durch das ungeheure Wachstum der akkumulierbaren Mehrwertmassen, durch das Steigen der Akkumulationsrate und durch die jetzt überaus schnell vollzogene Verwandlung aller verfügbaren Vermögenssplitter in Kapital in dem der Arbeiterschaft günstigen Sinne beeinflusst. Unter solchen Umständen scheint mir Kautskys pessimistische Annahme unbegründet.
Auch den Kampf um soziale Reformgesetze halte ich für weniger aussichtslos als Kautsky. Gewiss erstarkt der Widerstand der besitzenden Klassen gegen jede soziale Reform; die Zeit, in der auch ein grosser Teil der Besitzenden sich für Arbeiterschutzgesetze begeisterte, ist vorüber. Aber so ungern die bürgerlichen Parteien der Arbeiterschaft ein Zugeständnis gewähren, zwingt sie der Wettbewerb um die Arbeiterstimmen, die Furcht vor der Werbekraft der Sozialdemokratie doch, von Zeit zu Zeit auch der Arbeiterschaft eine Schüssel von ihrem reichbesetzten Tische zu reichen. Je mehr die bürgerlichen Parteien die Revolutionierung der heute noch in bürgerlicher Denkweise befangenen Teile der Arbeiterschaft fürchten müssen, desto weniger können sie sich diesem Gebot politischer Selbsterhaltung verschliessen.
Ich glaube daher, dass der Arbeiterklasse auch unter den heutigen Machtverhältnissen unmittelbare Errungenschaften im politischen wie im gewerkschaftlichen Kampfe nicht versagt bleiben werden. So gewiss es ist, dass das Gesamteinkommen der Arbeiterklasse langsamer steigt als das von ihr geschaffene Gesamteinkommen der Gesellschaft, so unbegründet erscheint mir die Behauptung, dass die Arbeiterklasse die absolute Grösse ihres Realeinkommens unter bürgerlicher Herrschaft nicht mehr zu erhöhen vermöge.
Gerade weil wir das Ergebnis von Kautskys Suche nach dem Weg zur Macht für richtig halten, erscheint es uns gefährlich, den Beweis auf unrichtige oder doch sehr unsichere Voraussetzungen zu stützen. Wir glauben nicht, dass das Proletariat zum Entscheidungskampf um die politische Macht erst reif werden wird, wenn es unter bürgerlicher Herrschaft keinen Teilerfolg mehr zu erringen vermag. Im Gegenteil! Eine Arbeiterklasse, die Jahre lang im Kampfe ihr Bestes leistet und dennoch keinen Erfolg erzielt, wird schwer der Versuchung widerstehen, den Erfolg auf Wegen zu suchen, die sie weit von den Bahnen des revolutionären Klassenkampfes entfernen können. Eine Arbeiterschaft, die wir lehren, dass sie keinen Erfolg mehr erreichen kann, ehe ihr nicht von aussen, aus weiter Ferne weltgeschichtliche Ereignisse zu Hilfe kommen, wird Hoffnung und Tatkraft, Leidenschaft und Mut verlieren. Dagegen stählt jeder Sieg im täglichen Kampfe das Selbstbewusstsein, die Siegesgewissheit der Arbeiterklasse. Eine sozialistisch erzogene Arbeiterschaft wird gerade aus einer Reihe kühn erkämpfter Teilerfolge den Mut zum Kampfe um das Ganze schöpfen. Und dass wir uns einem Zeitalter solcher Kämpfe nähern, ist auch unsere Meinung.
Wir leben in einem Zeitalter ungeheuren wirtschaftlichen Wachstums. In schnellerem Tempo als jemals vorher wurde das Reich des Kapitalismus in den Jahren 1895 bis 1907 ausgedehnt. Der Kohlenbergbau, die Eisen- und Stahlproduktion, die Maschinenindustrie – also diejenigen Industriezweige, die der ganzen Volkswirtschaft ihren Nährstoff schaffen, ihre Rüstung liefern, haben ihre Erzeugung niemals so gewaltig vermehrt wie in diesen Jahren. Dieses äussere Wachstum ist von bedeutungsvollen inneren Veränderungen im Wesen der kapitalistischen Unternehmung begleitet.
In der Entstehungszeit der klassischen Literatur des wissenschaftlichen Sozialismus standen einander in jedem Produktionszweige viele einzelne Unternehmungen gegenüber, jede von ihnen im Besitz eines einzelnen Kapitalisten, alle im heftigsten Konkurrenzkampf gegeneinander. Durch die schnelle Entwicklung der Aktiengesellschaften und durch die enge Verflechtung der Industrie mit dem Bankwesen wurde dieses Verhältnis völlig verändert. An jedem grossen Unternehmen sind nun – als Aktienbesitzer, als Gläubiger, als Besitzer von Bankaktien oder Bankeinlagen – viele Kapitalisten interessiert, jeder grosse Kapitalist gleichzeitig an vielen Unternehmungen. Die ökonomische Verknüpfung der Unternehmungen durch den Kapitalsbesitz findet ihren organisatorischen Ausdruck in ihrer Vereinigung in Kartellen und Trusts, die zu immer mächtigeren und dauerhafteren Gebilden werden, die sich nicht mehr auf die Preisfestsetzung beschränken, sondern auch den Umfang der Produktion bestimmen, die Arbeitsteilung regeln, den Vertrieb der Waren besorgen, den Händler in ihren Agenten verwandeln. Der einzelne Unternehmer ist nicht mehr Herr in seinem Hause: den Kapitalsmarkt beherrscht die Grossbank, den Warenmarkt das Kartell, den Arbeitsmarkt der Unternehmerverband. Die wirtschaftlichen Entschliessungen über Art und Umfang der Produktion, Preis und Vertrieb der Ware scheinen nicht mehr durch die blind waltenden Gesetze der Konkurrenz diktiert zu werden, sie werden von wohlgegliederten Organisationen beraten und beschlossen.
Um sich der Uebermacht des grösseren Kapitals zu erwehren, gründen auch die kleinen Unternehmer im Gewerbe, im Handel und in der Landwirtschaft gemeinsame kapitalistische Unternehmungen. Der Genossenschaftskapitalismus löst aus dem landwirtschaftlichen Betrieb die Funktionen der Kreditversorgung, des Verkaufes und der Verarbeitung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse heraus und überträgt sie einem Unternehmen, das alle Merkmale kapitalistischer Unternehmungen trägt, mag auch nicht ein einzelner grosser Kapitalist, sondern eine Genossenschaft kleiner Unternehmer sein Besitzer sein. Aehnliche Tendenzen setzen, wenn auch mit geringerer Kraft, im Gewerbe und im Kleinhandel ein. Wie die grosse Industrie, so treten auch die niedrigeren Sphären der Volkswirtschaft in das Zeitalter der Kapitalsassoziation, der bewussten Organisation des Wirtschaftslebens auf kapitalistischer Basis ein.
Die Gesellschaft besteht nicht mehr aus vereinzelten, unverbundenen kapitalistischen Unternehmungen, die im Konkurrenzkampf miteinander liegen, sondern aus grossen, auf Kapitalsassoziation beruhenden kapitalistischen Organisationen, die im Machtkampf gegeneinander stehen.
In der älteren individualkapitalistischen Periode war jeder Unternehmer Gesetzen des Konkurrenzkampfes unterworfen, die ihm wie Naturmächte gegenüberstanden, von keinem einzelnen, von keiner Organisation, selbst vom Staate nicht beherrschbar; es waren Gesetze, die sich, nach dem Worte des jungen Engels, „ohne das Bewusstsein der Beteiligten“ vollzogen. Heute wirken diese Gesetze wohl auch; jeder Umschwung der Konjunktur zeigt den kapitalistischen Organisationen die für sie unübersteigbaren Schranken ihrer Macht. Aber was die Gesetze des kapitalistischen Wirtschaftslebens diktieren, muss nun doch „durch den Kopf der Menschen hindurchgehen“, von ihren Organisationen beraten und beschlossen werden. Alles wirtschaftliches Geschehen wird zur bewussten Tat der Organisationen.
Auch der Staat wird nun zu einer solchen Organisation. Der Manchesterliberalismus ist tot. Alle wirtschaftlichen Organisationen suchen den Staat in ihren Dienst zu stellen. Sie fordern von ihm nicht mehr bloss den Schutz ihres Eigentums, sondern unmittelbares Eingreifen in das Wirtschaftsleben. Das System der Zölle und Einfuhrverbote, der Eisenbahn- und Schifffahrtstarife, der Subventionen, Prämien und Liebesgaben, die ganze Gestaltung des Steuerwesens mit seinen komplizierten Mitteln der Kontingentierung, der Repartition, der Steuernachlässe und Restitutionen, die Ausnützung der Staatsbetriebe, Monopole und Regalien für wirtschaftliche Zwecke, die Regelung der öffentlichen Arbeiten und Lieferungen – alle diese und viele andere mittelstaatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben zwingen alle Organisationen zur Beeinflussung der Staatsgewalt, zum Kampfe um die politische Macht. Das ganze politische Leben löst sich in die Machtkämpfe der Interessentengruppen auf.
In diesen Kämpfen verzichten die Interessentengruppen bald auf die ideologische Verhüllung ihres Strebens. Jede Frage der Gesetzgebung und Verwaltung wird von jeder Organisation mit schamloser Offenheit von dem Gesichtspunkt aus geprüft, was das wirtschaftliche Interesse ihrer Mitglieder und was ihr Bedürfnis nach Macht erfordert. Jede Organisation bekennt offen, dass sie nichts als Gewinn und Macht, Behauptung im Daseinskampf, einen Platz an der Sonne erstrebt. Die ganze Oeffentlichkeit berauscht sich an dem Wörtchen Macht. Das Bürgertum hat alle seine Grundsätze, Freiheit und Gleichheit, Humanität und Christentum, Nation und Vaterland vergessen. Jede Schandtat erscheint ihm erlaubt, wenn sie wirtschaftlichen Vorteil bringt, jeder. Verrat geheiligt, wenn er zur Macht führt.
In dieser Atmosphäre des Egoismus der Interessentengruppen, des unverhüllten Machtkampfes lebt auch das Proletariat. Auch sein Bewusstsein beherrscht der Wille zur Macht. Revolutionäre und Opportunisten mögen über den Weg zur Macht streiten, über das Ziel sind sie einig. Je mehr sich alles politische Leben in die Machtkämpfe wirtschaftlicher Organisationen auflöst, desto stärker wird das Drängen des Proletariats nach der Eroberung der politischen Macht.
Die Gedanken- und Stimmungswelt des nacktesten Egoismus, des unverhüllten Kampfes um die Macht, die den Profit bringen soll, beherrscht auch die internationalen Beziehungen. Das Bürgertum hat jeden Widerstand gegen den Militarismus aufgegeben. Es wünscht seinem Staate, der machtvollsten und umfassendsten seiner wirtschaftlichen Organisationen, eine Furcht gebietende Rüstung. Die Riesenopfer der gewaltigen Rüstungen, die Unterdrückung fremder Völker, die erbarmungslose Ausnützung jeder Schwäche des Gegners, das Paktieren mit der Revolution hier und mit der Gegenrevolution dort, die Aufregungen und Opfer der Kriegsgefahr, ja selbst Massenmord und Massenelend – all das rechtfertigt der Wille der Nationen und Staaten zur Macht! So findet die Verschärfung der wirtschaftlichen Kämpfe im Innern ihr Gegenbild in der Erbitterung der Nationen und Staaten gegeneinander, die die Gefahr eines europäischen Krieges von Jahr zu Jahr näher rückt.
Gleichzeitig aber entstehen neue Probleme im ganzen Osten Europas. Wirtschaftliche, soziale und politische Umwälzungen führen hier die bäuerlichen Volksmassen und die aus ihnen bestehenden Nationen auf die Bühne der Geschichte. Monatelang hat uns das serbische Problem in Atem gehalten. Das bulgarisch-serbische Problem in Mazedonien ist eine alte Sorge Europas. Die nationalen Probleme Ungarns bedrohen den magyarischen Nationalstaat und mit ihm die ganze Verfassung des Donaureiches. Aber noch steht uns die Aufrollung der grössten nationalen Probleme, der Nationalitätenfrage Russlands bevor. Wie immer die Phantasie sich die Zukunft des russischen Reiches gestalten mag, in jedem Falle wird der ruthenische, der weissrussische, der lettische Bauer, der Bauer Lithauens im zwanzigsten Jahrhundert zu neuem Dasein erwachen. Ob die russische Bourgeoisie die Scheinverfassung Russlands allmählich mit wirklichem Leben erfüllen, ob sie im Bunde mit dem revolutionären Proletariat oder ob das Proletariat allein die Neugestaltung des staatlichen Lebens erkämpfen oder ob die Arbeiterklasse im Bunde mit der Bauernschaft in einer revolutionären Erhebung die Fronfesten des Zarismus brechen wird, wissen wir nicht; aber welche immer von diesen in den Kreisen der russischen Intelligenz so lebhaft erörterten Hypothesen von der Geschichte bestätigt werden wird, gewiss bleibt es in jedem Falle, dass die Entwicklung des russischen Reiches die Umwälzung des landwirtschaftlichen Betriebes, das Erwachen der bäuerlichen Massen, daher auch das Emporsteigen der geschichtslosen Nationen zur Folge haben wird. Die Polen waren allein wehrlos, solange sie der kompakten Masse des russischen Bauernreiches gegenüberstanden; auch ihr nationales Problem wird wieder lebendig, sobald sich von der Ostseeküste bis zum Kaukasus die geschichtslosen Nationen erheben. Werden die nationalen Kämpfe der geschichtslosen Nationen des Ostens in der revolutionären Epoche der Zukunft dieselbe Rolle spielen, die die nationalen Kämpfe der historischen Nationen, der Deutschen, Italiener, Polen und Magyaren, in der revolutionären Epoche der Vergangenheit gespielt haben?
Aber noch grössere nationale Probleme tauchen in Asien, im Norden Afrikas auf. Seitdem im russisch-japanischen Kriege der gelbe Mann den weissen besiegt hat, gärt es im nahen und fernen Osten. Wir haben das grosse Schauspiel der türkischen Revolution erlebt. Russland und England haben sich verbündet, das revolutionierte Persien zu unterwerfen, dessen Erhebung den asiatischen Unterworfenen beider Staaten zum Beispiel hätte werden können. Wir hören von revolutionären Bewegungen in Aegypten und in Indien. Alle diese Bewegungen können auf die Beziehungen der europäischen Grossmächte zueinander, daher auch auf die Machtkämpfe innerhalb der europäischen Staaten nicht ohne Einfluss bleiben.
Gewiss fehlt es auch den Mächten der Beharrung nicht an Kraft. Das lebende Geschlecht hat in West- und Mitteleuropa keine Revolution mehr erlebt; noch fehlt ihm der Glaube an die Revolution, der ihres Ausbruches und ihres Erfolges erste Voraussetzung ist. Die Demokratie kleidet die Machtkämpfe der Interessentengruppe in parlamentarische Formen, sie mildert dadurch die Schärfe der Gegensätze, sie löst jedes grosse Problem in eine Reihe kleiner Teilfragen auf. Die Furcht der Herrschenden vor den bewaffneten Volksmassen und die Aengstlichkeit mächtiger Kapitalistengruppen, denen jede politische Umwälzung grosse Verluste bringen kann, wirken der Kriegsgefahr entgegen. Die Grundherren und Kapitalisten in Russland und Polen haben aus Furcht vor der proletarischen Revolution mit dem Zarismus Frieden geschlossen. Das Erwachen der geschichtslosen Nationen im Osten Europas geht langsamer vor sich, als noch vor wenigen Jahren viele angenommen haben. Die revolutionäre Bewegung in Asien und Nordafrika ist heute noch auf eine verhältnismässig dünne Schicht der Bevölkerung und auf wenige Gebiete beschränkt. Aber so hoch wir auch die Kraft aller Hemmungen und Gegentendenzen einschätzen, bleiben doch alle Elemente grosser politischer Umwälzungen bestehen. Hat die Periode der Revolution mit dem Jahre 1905, dem glorreichen Jahre des russisch-japanischen Krieges und der russischen Revolution, des ungarischen Militärkonflikts und des österreichischen Wahlrechtskampfes bereits begonnen? Sind der Bund von Reval, die Flottenrüstungen Englands und Deutschlands, die Ereignisse auf der Balkanhalbinsel und in Persien schon die Einleitung zu weltgeschichtlichen Ereignissen, die auch in die Strassen der europäischen Hauptstädte den Aufruhr tragen können? Oder wird es noch einmal gelingen, den Beginn der entscheidenden Kämpfe zu verschieben? In jedem Falle müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass wir einer Periode der Kriege, der nationalen Aufstände und staatlichen Neubildungen, der politischen und sozialen Umwälzungen entgegengehen.
Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters, dem im Westen die Kämpfe der Klassen um die Staatsgewalt, im Osten die Kämpfe der Nationen um staatliches Dasein das Gepräge geben werden. Zwischen Westen und Osten steht Oesterreich in der Mitte. Wir werden im Bunde mit den Proletariern des Westens die Kämpfe um die Eroberung der politischen Macht führen, im Bunde mit den Völkern des Ostens die Schlachten für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen schlagen müssen. Für die Erziehung der Arbeitermassen Oesterreichs ist die Verbreitung und Vertiefung dieser Erkenntnis unentbehrlich.
Vor kurzem erst ist die österreichische Sozialdemokratie eine parlamentarische Partei geworden. Das Schwergewicht unserer politischen Aktion ist in die Wahlkämpfe und die parlamentarischen Kämpfe verlegt. Der Parlamentarier, der seine ganze Aufmerksamkeit pflichtgemäss auf die Vorgänge im Parlament konzentrieren, seine ganze Kraft und Geschicklichkeit den parlamentarischen Kämpfen widmen muss, sieht in der Weltgeschichte nur allzu leicht eine Reihe von Wahlkämpfen, Reden, Anträgen und Abstimmungen, parlamentarischen Kniffen und Intrigen; es ist seine Berufskrankheit, nur allzu leicht zu übersehen, dass die wirtschaftlichen Umwälzungen, die Veränderungen in der sozialen Gliederung der Nationen und im Selbstbewusstsein der Klassen, die Wandlungen im Machtverhältnis und Machtbewusstsein der Staaten über das Geschick der Klassen und Völker entscheiden, dass diese wahren Bestimmungsgründe des Geschehens stets jeder parlamentarischen Macht eine Grenze, ihrem Streben das Ziel setzen. Von dieser Berufskrankheit des Parlamentariers, die Marx den parlamentarischen Kretinismus genannt hat, konnten wir alle nicht ganz frei bleiben, seitdem die parlamentarischen Kämpfe zu einem unentbehrlichen Bestandteil unserer Aktion geworden sind. Wir sind ihr um so leichter erlegen, da das allgemeine und gleiche Stimmrecht für uns eine neue und in hartem Kampfe eroberte Waffe war, die Ueberschätzung ihrer Leistungsfähigkeit also schwer vermieden werden konnte. Aber der parlamentarische Kretinismus ist kaum irgendwo so gefährlich wie in Oesterreich. Wo der Streit um Studentenkappen und bunte Bänder, um Strassentafeln und Amtssiegel mehr als jede ernste Angelegenheit den parlamentarischen Kampf des Alltags beherrscht, erzeugt das parlamentarische Leben die Gefahr, dass auch wir angesteckt werden von dem Geist der Kleinlichkeit, dass das Gezänk um nichtige Albernheiten, von denen das Schicksal der Klassen und Völker wahrhaftig nicht abhängt, die proletarische Armee spaltet, dass wir unsere Einheit, die sicherste Bürgschaft unserer Kraft, preisgeben, um Mandate zu gewinnen. Darum ist es hier doppelt notwendig, die Aufmerksamkeit der Arbeitermassen aller Nationen auf das grosse Weltgeschehen zu lenken, in dessen Entwicklung wir eine grosse gemeinsame Aufgabe zu erfüllen haben werden.
Die sozialen Kämpfe sind in Oesterreich eng mit den nationalen verflochten. Aus ihrer Verknüpfung entstehen verschiedene Gefahren. Einerseits rücken wir als internationale Partei in die kompromittierende Nachbarschaft des nationslosen Staates, wir erscheinen als seine Bundesgenossen im Kampfe gegen den Chauvinismus. Andererseits wird jeder Teil der Internationale zu einem Teil seiner Nation, zur Gefolgschaft ihrer besitzenden Klassen, wir fühlen uns berufen, mitzustreiten um Universitäten und Gymnasien, Richterernennungen und Gerichtsprotokolle. Einerseits gefährdet hier die internationale Einheit der Arbeiterklasse ihren revolutionären Charakter, andererseits wird ihre nationale Gliederung ihrer Einheit und ihrem Klassenbewusstsein zur Gefahr. Diese Gefahren sind in den Bedingungen unseres Kampfes begründet, sie können nicht völlig beseitigt werden. Aber nichts vermag ihnen so kräftig entgegenzuwirken wie die Erkenntnis, dass die Nationen ihre Souveränität nur erringen werden in dem nahenden Zeitalter der Revolutionen, der Staatsbildungen und Verfassungsumwälzungen, dass die Einheit und Freiheit unserer Nation mit der Einheit und Freiheit der anderen Nationen begründet werden wird durch den internationalen revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gegen und um die Staatsgewalt, dass nicht das Gezänk um die winzigen Probleme, die der Tag bringt, sondern die Vorbereitung der grossen Entscheidungen der Zukunft im nationalen wie im sozialen Kampfe unsere wichtigste Aufgabe ist.
Leztztes Update: 6. April 2024