Otto Bauer

Die Einheit des deutschen Sozialismus

(1. März 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 6, 1. März 1909, S. 246–251.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wer die umwälzende Kraft wirtschaftlichen Geschehens, dessen Ablauf das Bewusstsein der Menschen bis in seine zartesten Verästelungen umgestaltet, an einem grossen Beispiel anschaulich erweisen will, kann kein besseres finden als die Geschichte der deutschen Intelligenz im neunzehnten Jahrhundert. Eingeschlossen in Staatsgebilde, die wie Trümmer aus längst vergangenen Gesellschaftsepochen hineinragten in ein völlig neues Zeitalter, ausgeschlossen von aller unmittelbar praktischen Wirksamkeit im Staatsleben, hat die gebildete Klasse Deutschlands im Zeitalter der französischen Revolution eine innere Umwälzung erfahren, die alle kommenden Geschlechter als die höchste Ruhmestat deutschen Geistes feiern werden. Die fruchtbare Gedankenarbeit unserer klassischen Philosophie, die heute noch fortwirkt in den Gedankenbauten der Denker aller Nationen und in den Arbeitsmethoden aller Zweige der Wissenschaft, mochte nur eines engen Kreises Errungenschaft sein. Aber des deutschen Idealismus echtester Kern, jener Rationalismus, der auch das Kleinste und Unscheinbarste nur rechtfertigen zu können glaubt, indem er es einem wohlgegliederten System von Zwecken einordnet, das schliesslich in die Idee eines letzten Zweckes, einer höchsten Aufgabe der Menschheit mündet, ist damals zum Gemeinbesitz aller geworden, die teil hatten an deutscher Kultur. Keine Denkweise, die eine Nation unter den besonderen Daseinsbedingungen einer ihrer Entwicklungsstufen sich erarbeitet hat, kann auf späteren Stufen der Entwicklung völlig verschwinden; immer vermählt sich die Gedankenwelt, in der sich die Psyche einer Gesellschaftsepoche gestaltet, mit den Ideologien, die uns ältere Geschlechter als Erbgut hinterlassen haben. So wirken die Reste jenes Idealismus, der einst des deutschen Volkes kostbarste Errungenschaft war, auch im Bewusstsein der gebildeten Deutschen in unserem Zeitalter fort. Aber der Ausbau und die innere Wandlung der kapitalistischen Wirtschaft, die Zersetzung der Gesellschaft in Klassen, die einander todfeind gegenüberstehen, der klägliche Zusammenbruch der bürgerlichen Revolution, die Umgestaltung des staatlichen Lebens durch eine starke Militärmonarchie, die die nationale Sehnsucht gegen den Willen der Nation auf dem Schlachtfelde verwirklicht hat, das heisse Verlangen nach der Unterwerfung fremder Völker und ferner Länder, das aller kapitalistischen Wirtschaft eigentümlich ist und im neuen Deutschen Reiche ebenso mächtig wirkt, wie es in den italienischen Stadtrepubliken der Renaissance gewirkt hat – alle diese grossen Erlebnisse haben das Denken und Fühlen der deutschen Intellektuellen so stark beeinflusst, dass ihnen nun als töricht und lächerlich gilt, was ihrer eigenen Jugend als heilig gegolten. Ein gedankenloser Historismus, der auf die Wertung alles Ueberlieferten verzichtet, hat den deutschen Idealismus abgelöst; den blinden Anbetern der Macht und des Erfolges gilt die Unterordnung der täglichen Praxis unter ein grosses System grosser Zwecke als unwürdig des reifen Mannes; Rassenphantasien und unverhüllte nationale Selbstsucht spotten des grossen Gedankens Fichtes, der eigenen Nation Recht zum Dasein aus ihrer Bestimmung in dem grossen Bauplan der Menschheit zu erweisen. Diese Umwälzung zeigt sich ebenso in der täglichen Praxis des deutschen Liberalismus, der alles, was die Geschichte ihm zu eigen gegeben, preis-gibt, um sich nur im Schatten der Macht behaglich niederlassen zu dürfen, wie etwa in der Umbiegung des Kantschen Lehrgebäudes durch die jüngsten seiner Jünger, die die Rechtfertigung des Individuellen durch seine Unterwerfung unter das allgemein menschliche Gesetz umgelogen haben zu dem allgemeinen Gesetz der Rechtfertigung alles Individuellen, wie immer es beschaffen sein mag. Man vergleiche der Hegelschen Linken Herrn Professor v. Schulze-Gävernitz, der auf den kategorischen Imperativ des grössten deutschen Denkers das Recht der preussischen Polenpolitik gründet – und man sieht anschaulich vor sich den schmachvollen Niedergang des deutschen Geistes, der unter den verheerenden Wirkungen des deutschen Kapitalismus und der von ihm getragenen staatlichen Entwicklung wahrhaftig nicht die am wenigsten zu beklagende ist.

Und dennoch lebt der deutsche Idealismus noch in einem grossen Teile der deutschen Nation. Was von ihm lebensfähig war, hat Marx’ Gedankenwelt zu der deutschen Arbeiterklasse getragen. Die Arbeiterbewegung trägt überall jene Merkmale, die aus der Stellung des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft folgen; aber was der ganzen Klasse gemein, vermählt sich innerhalb jedes Volkes mit der Gedankenwelt, die der Nation Erbe ist. Wie jede andere, so trägt auch die deutsche Arbeiterbewegung neben den internationalen Merkmalen, die aus der Klassengesamtheit fliessen, auch die auszeichnende Sonderart, die die nationale Gemeinschaft erzeugt; und unter allen Merkmalen, die die deutsche Arbeiterklasse von ihren Klassengenossen anderer Zungen unterscheiden, ist keines so wertvoll wie jenes, das unser Erbe aus der Geschichte des deutschen Geisteslebens ist. „Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, dass wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.“ Was die entartete deutsche Intelligenz uns als dogmatische Bindung an überlieferte Prinzipien verweist, die den Kampf um die Macht, des Kämpfers einzige Aufgabe, nur erschwere, ist doch das Erbe des idealistischen Rationalismus, der nicht das Kleinste anders zu rechtfertigen vermag als durch die regulierende Idee des letzten Zweckes. Was die deutschtümelnden Undeutschen „blassesten Kosmopolitismus“ schelten, ist das unvergängliche Vermächtnis Lessings, des Befreiers von geistiger Fremdherrschaft, Herders, des Entdeckers des nationalen Sonderlebens, Fichtes, des Redners an die deutsche Nation. Die Wirksamkeit dieser psychischen Disposition der deutschen Arbeiterklasse zeigt sich in dem Aufbau ihrer machtvollen Organisation und in der fruchtbaren Erziehungsarbeit der deutschen Sozialdemokratie, die den deutschen Arbeiter zum denkenden Mitschöpfer seines Geschickes gemacht hat. So ist die deutsche Sozialdemokratie, dank der unlöslichen Verknüpfung der proletarischen Klassenbewegung mit den Errungenschaften deutschen Geisteslebens, zum höchsten, nirgends erreichten, überall nachgeahmten Muster sozialistischer Arbeiterbewegung geworden. Ohne törichte Ueberhebung darf an ihrer Geschichte der nationale Stolz der Deutschen erstarken.

Die deutsche Sozialdemokratie in Oesterreich war stets und ist ein Glied der grossen Partei des deutschen Proletariats: Bismarcks Reichsgrenze kann nicht trennen, was die doppelte Kraft der Klassengesamtheit und der nationalen Gemeinschaft vereint. Aber einem anderen Staate unterworfen, zum Kampfe unter anderen Bedingungen und mit anderen Gegnern gezwungen, haben wir uns oft und nicht ohne Bangen gefragt, ob die Wege, die wir eingeschlagen, uns nicht allzuweit entfernen von den grossen Massen des deutschen Proletariats. Der Vergleich unserer Arbeitsmethoden mit denen unserer reichsdeutschen Brüder hat sich uns in den letzten Jahren oft aufgedrängt. Und als nun jene grosse Umwälzung in dem geistigen Leben der deutschen Intelligenz auch auf viele deutsche Genossen einzuwirken begann und der Streit um die schwierigen Einzelprobleme, die das Erstarken des Proletariats überall unvermeidlich hervorbringt, in dem Kampfe zwischen der überlieferten Denkweise und ihren Gegnern seinen ideellen Ausdruck gefunden hatte, ward unsere Stellung zu den Kämpfen innerhalb der reichsdeutschen Arbeiterklasse durch den Vergleich zwischen der Kampfesweise der deutschen Sozialdemokratie und der Strategie, die die Notwendigkeiten unseres eigenen Kampfes uns aufgezwungen, beeinflusst. Da die Politik der deutschen Sozialdemokratie als das Muster marxistischer Politik gilt und wir doch hier zu einer Politik gezwungen sind, deren äusseres Bild von dem, das die reichsdeutsche Partei geschaffen, in manchen Zügen abweicht, haben sich viele schlichte Arbeiter ängstlich die Frage vorgelegt, ob wir uns nicht von den Richtlinien revolutionärer proletarischer Politik entfernen, während andere Genossen, von der Notwendigkeit unserer Arbeitsmethoden überzeugt, in ihren Erfolgen eine Rechtfertigung jener Kritik zu finden glaubten, die im Reiche die Minderheit der Partei an der Politik der Mehrheit übt.

Diese Stimmungen haben einsichtige Genossen mit dem Argument bekämpft, dass die besonderen Verhältnisse, unter denen die Arbeiterklasse Oesterreichs ihren Kampf zu führen gezwungen ist, hier Methoden des politischen Kampfes erfordern, die in das Reich nicht übertragen werden können. Wohl ist die Arbeiterklasse in jedem Lande den besitzenden Klassen und ihrer staatlichen Herrschaftsorganisation feind: Aus dieser Tatsache folgen gewisse Regeln proletarischer Politik, die für alle Länder, für Oesterreich ebenso wie für das Deutsche Reich, gelten. Aber die Politik jeder sozialdemokratischen Partei ist nicht nur durch die Stellung des Proletariats aller Länder zu der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch durch die konkreten Kampfesbedingungen ihres Landes bestimmt. Die Politik der deutschen Sozialdemokratie ist nicht nur den allgemeinen Daseinsbedingungen des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch den besonderen Kampfesbedingungen der deutschen Arbeiterklasse in dem preussisch-deutschen Staate angepasst. Uns vereinigt mit der deutschen Arbeiterklasse die internationale Gemeinschaft des Klasseninteresses und die nationale Gemeinschaft des spezifisch deutschen Sozialismus; aber uns scheidet von ihr die Notwendigkeit, unter ganz anderen Bedingungen unseren Kampf zu führen. Da wir in einer Gesellschaft leben, die in der kapitalistischen Stufenleiter auf niedrigerer Stufe steht, da wir unseren Kampf in einem Staate führen, der das Streitobjekt von acht Nationen ist, da wir schliesslich innerhalb einer Bevölkerung kämpfen und wirken, deren Erlebnisse von denen der reichsdeutschen ganz verschieden waren, deren Art, zu denken und zu fühlen, daher auch von der der reichsdeutschen so verschieden ist, folgt unser Kampf anderen Regeln als der der reichsdeutschen Bruderpartei. Dieses Argument ist in Oesterreich wie im Deutschen Reiche wohl verstanden worden; und wir konnten uns darum die unfruchtbare Mühe ersparen, immer wieder zu erweisen, was doch jeden in Oesterreich wirkenden Marxisten die tägliche Erfahrung lehrt, dass nur die Verschiedenheit der objektiven Kampfesbedingungen dieselben Grundsätze hier und dort in verschiedenen Kampfesweisen sich zu verkörpern zwingt. Und wenn auch einzelne reichsdeutsche Genossen, die Oesterreich nur ungenau kennen, unsere Erfahrungen als Argumente in den inneren Kämpfen ihrer Partei gebrauchen zu können glaubten, durften wir schweigen, da keinem Kundigen die besonderen Bedingungen der proletarischen Politik in Oesterreich verborgen zu sein schienen. Es scheint aber, dass man es uns nicht ersparen will, uns in den reichsdeutschen Parteistreit hineinzuzerren; und da nun auch ein Genosse, der die eigenartigen Probleme unserer Politik sehr genau kennt, Oesterreich als das Musterland des Revisionismus hinstellt, ist wohl ein Wort der Abwehr geboten.

Im letzten Hefte der Sozialistischen Monatshefte sucht Genosse Karl Leuthner aus den Erfahrungen der österreichischen Sozialdemokratie Argumente wider die Politik unserer Bruderpartei im Reiche zu schöpfen. Die höhnischen Bemerkungen und verletzenden Schmähworte, die Leuthner im Kampfe gegen Parteigenossen gebraucht, erfordern keine Erwiderung; wir wollen den Fehler vermeiden, die ebenso unfruchtbare als verbitternde Methode der reichsdeutschen Parteipolemik nach Oesterreich zu importieren. Aber hinter all dem Beiwerk liegt doch ein Gedanke geborgen, der sich auch vielen österreichischen Genossen in jüngster Zeit oft aufgedrängt hat. Ihn wollen wir ruhig und ernst erörtern.

Wir leben in einem Staate, der acht Nationssplitter umschliesst. Von einem gewaltigen sozialen Entwicklungsprozess emporgetragen, sind alle diese Nationen erwacht, aller Siedlungsgrenzen wurden verrückt, alle ringen sie nun um die Grenzen ihrer Macht. Keines dieser Völker fühlt sich mit dem Staate eins: die alten Herrennationen zeihen ihn der Schmälerung ihrer Rechte, die seit dem Erwachen und Erstarken der einst geschichtslosen Nationen Schritt für Schritt eingeschränkt worden sind; die alten Untertanenvölker sehen in ihm den Bedrücker, der immer noch die letzten Reste der nationalen Fremdherrschaft fortbestehen lässt, der sie einst unterworfen waren. So ist der nationale Kampf von aller Rücksicht auf das Staatsganze frei; und da im sechzigjährigen Kampfe auch das Nichtige und Wertlose zum Symbol der nationalen Macht und Würde geworden ist, sind die Nationen stets bereit, bei dem kleinsten und kleinlichsten Anlass mit dem rücksichtslosesten Machtkämpfe einzusetzen. Seit zwölf Jahren haben sie in der parlamentarischen Obstruktion die Waffe gefunden, die nun Tag für Tag das Dasein des Reichsrates und der Landtage gefährdet.

Wir rechnen mit dieser Tatsache; wir verschmähen es, die Obstruktion, die jeder Nation letzte Zuflucht ist, mit den Mitteln mechanischer Gewalt ausrotten zu wollen; wir wissen auch, dass diese Schwäche des Staates und seines Parlaments, die eine schrankenlose Mehrheitsherrschaft unmöglich macht, eine der Quellen unserer Macht war und ist. Und dennoch haben uns die zwölf stürmischen Jahre, die wir seit Badenis Sprachenverordnungen erlebt haben, gelehrt, dass die ewige Wiederkehr der nationalen Obstruktion eine ernste Gefahr für das Proletariat ist.

Die nationale Obstruktion schaltet das Parlament aus, sie befreit die Bureaukratie von der Kontrolle der Volksvertretung, sie rückt, je länger sie dauert, die Gefahr eines Staatsstreiches näher. Als demokratische Partei wünschen wir darum die Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Die nationale Obstruktion macht alle gesetzgeberische Arbeit unmöglich. Sie schützt die besitzenden Klassen wirksamer, als jede bürgerliche Koalition dies vermöchte, gegen die Verwirklichung unserer Forderungen nach Arbeiterschutzgesetzen, nach dem Ausbau der Arbeiterversicherung und der sozialen Verwaltung. Als Sachwalter der proletarischen Interessen können wir es nicht ertragen, dass das Gezänk um den Prager Bummel oder der Hader um die Dienstsprache der Postbeamten die Beratung des Gesetzentwurfes über die Invalidenversicherung unmöglich macht. Wird das Parlament ausgeschaltet, so verlieren wir jenes wichtige Mittel zur Enthüllung des Klassencharakters der bürgerlichen Parteien, zur Erweckung des proletarischen Klassenbewusstseins, zu dem gerade die deutsche Sozialdemokratie die parlamentarischen Kämpfe so geschickt zu gestalten wusste. Wird der Kampf um die Erfüllung der proletarischen Forderungen unmöglich, dann bemächtigt sich der eben erst durch den Wahlrechtskampf aufgerüttelten Massen die Stimmung der Hoffnungslosigkeit, die den Rückfall breiter Arbeiterschichten in politische Indifferenz, die Verirrung einzelner zu anarchistischen Kindereien zur Folge haben muss. So erschwert die nationale Obstruktion die Erfüllung unserer wichtigsten Aufgabe: die Konstituierung des Proletariats als Klasse. Dagegen tragen die nationalen Kämpfe im Parlament den borniertesten Chauvinismus in die breiten Volksmassen; die nationale Spaltung des Proletariats ist oft ihr Zweck, immer ihre Wirkung. Wir würden darum unsere Pflicht als internationale Partei übel erfüllen, würden wir nicht der nationalen Obstruktion entgegentreten.

Aus allen diesen Erwägungen folgern wir die Pflicht, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gegen die Obstruktionsgelüste der Nationalisten aller Nationen zu schützen. Wir wollen jeder Nation die Waffe der Obstruktion als letztes Mittel gegen nationale Vergewaltigung lassen, uns selbst die Möglichkeit der Obstruktion als der letzten Waffe gegen soziale Vergewaltigung sichern. Aber die Zerstörung der gesetzgebenden Körperschaft durch die nationalistische Obstruktion des Alltags müssen wir als die internationale demokratische Klassenpartei des Proletariats bekämpfen. Darum verhindern wir nicht durch Dringlichkeitsanträge, nicht durch die Abstimmung gegen die Dringlichkeit, dass die bürgerliche Mehrheit dem bürgerlichen Staat das Budget bewilligt. Auch die deutsche Sozialdemokratie hat den Reichsetat noch nie obstruiert. Dass wir selbst uns obstruktionistischer Kampfmittel enthalten und dass wir den Obstruktionsversuchen der Nationalisten entgegentreten, ist freilich auch der Regierung sehr angenehm; aber so notwendig es uns scheint, dem schädlichen Einfluss dieser unerwünschten Nachbarschaft auf das Bewusstsein der Arbeitermassen entgegenzuwirken, so können wir doch nicht auf den Kampf gegen die nationale Obstruktion verzichten, um den falschen Schein einer Bundesgenossenschaft mit der Regierung zu vermeiden. Man kann natürlich verschiedener Meinung darüber sein, ob es nicht nützlich gewesen wäre, in irgend einem Augenblicke einen Dringlichkeitsantrag einzubringen, den der Sozialdemokratische Verband nicht eingebracht hat, oder irgend eine Redewendung nicht zu gebrauchen, die ein Redner des Verbandes gebraucht hat; aber das Urteil über die Gesamtpolitik der Partei berühren solche Erwägungen nicht. All das aber, was zum Beweis der opportunistischen Tendenzen unserer Politik angeführt wird – der Verzicht auf die Anwendung obstruktionistischer Kampfmittel gegen Regierungsvorlagen, der Kampf gegen die Obstruktionsmittel der bürgerlichen Nationalisten, die Abstimmung für die sofortige Verhandlung des Ausgleiches mit Ungarn und des Budgetprovisoriums, das Bemühen um den ungestörten Fortgang der parlamentarischen Arbeiten – findet seine Rechtfertigung in der Notwendigkeit des Kampf es gegen die immer wiederkehrende Gefahr einer nationalen Obstruktion, eines Kampfes, den freilich noch keine sozialdemokratische Fraktion zu führen hatte. Das sind in der Tat „andere Verhältnisse“.

Gewiss gibt es auch in der österreichischen Partei revisionistische Tendenzen. Es gibt vielleicht auch in Oesterreich Genossen, die es für unsere Aufgabe halten, im Bunde mit einer Koalition bürgerlicher Parteien eine Mehrheit zu bilden und gemeinsam mit ihnen die Regierung zu übernehmen. Hätte der Verband dieses Ziel angestrebt, er hätte hier wirklich leichter als in jedem anderen Lande eine Situation herbeiführen können, in der die bürgerlichen Parteien gezwungen gewesen wären, uns Ministerposten anzubieten. Seit den letzten Reichsratswahlen sind wir immer wieder von verschiedenen bürgerlichen Zeitungen und Parlamentariern zu einer solchen Politik aufgefordert worden. Aber unser Verband hat diese Anerbietungen immer ruhig und entschieden abgelehnt. Im Kampfe gegen die Obstruktion ist er doch immer die prinzipielle Opposition des Parlaments geblieben. Und wenn wir als Opposition der Regierung Beck mehr abzuringen vermochten, als die deutsche Reichstagsfraktion der Regierung Bülow abzuringen vermag, so hat dies seinen Grund nur in der Tatsache, dass hier die bürgerliche Mehrheit, durch die nationalen Interessen gebunden, jeder Minderheit wirksame parlamentarische Machtmittel zugestehen muss.

Der Kampf gegen die nationale Obstruktion ist gewiss eine Pflicht der Österreichischen Sozialdemokratie und auf die Methoden dieses Kampfes ist das Schema vom Radikalismus und Revisionismus überhaupt nicht anwendbar. Millerandistischer Neigungen aber kann der Verband nicht ernsthaft verdächtigt werden. So bleibt also nur die Frage, ob unsere Fraktion etwa irgend etwas getan oder unterlassen hat, wodurch sie, ohne unmittelbar die Beteiligung an der Staatsgewalt zu erstreben, doch den Herrschenden ein Entgegenkommen bewiesen hat, das nicht durch die Sorge um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments geboten war. Solcher Handlungen wüssten wir aber nur zwei anzuführen : die Anwesenheit einiger Parteigenossen bei der feierlichen Eröffnung des Reichsrates durch den Kaiser und die Audienz des sozialdemokratischen Vizepräsidenten. Hier ist aber die Fraktion auf starken Widerstand innerhalb der Partei gestossen: die Mehrheit der österreichischen Parteiblätter hat den Beschluss des Verbandes, dass Pernerstorfer sich dem Kaiser vorstellen solle, ausdrücklich missbilligt – dieselben Blätter, die die Gesamtpolitik des Verbandes in allen anderen Fragen stets mit verständnisvoller Zustimmung unterstützten. Dass Pernerstorfers Audienz eine notwendige Konsequenz unserer Gesamtpolitik war, glaubt auch Leuthner nicht; er selbst behauptet das Gegenteil. Zum Beweise des opportunistischen Charakters unserer Politik eignen sich daher diese Vorkommnisse, die mit unserer Gesamtpolitik in keinem notwendigen Zusammenhänge stehen, keineswegs.

In der Tat scheinen uns die Gefahren eines schädlichen Opportunismus in unserer heutigen Situation in Oesterreich auf einem anderen Boden zu liegen: nicht in unserem Verhältnisse zum Staat, sondern in unserer Stellung zu den Nationen. Hier liegen ernste Probleme, von deren richtiger Lösung nicht weniger abhängt als die Einheit der Partei. Aber gerade hier hat der Verband der Partei durch die Ueberwindung opportunistischer Neigungen die allergrössten Dienste erwiesen. Er konnte es zwar nicht verhindern, dass bei zwei recht unbeträchtlichen Gelegenheiten deutsche und tschechische Sozialdemokraten gegeneinander gestimmt haben, aber er hat es trotzdem verstanden, in dieser von den Stürmen des Chauvinismus gepeitschten Zeit die Vertreter des Proletariats aller Nationen fest aneinanderzuketten und die gesamte Kraft der Österreichischen Arbeiterklasse den Bourgeoisien aller Nationen gegenüberzustellen – eine Leistung, deren fruchtbare Wirkung nicht hoch genug gewertet werden kann. Diese Ueberwindung der Spaltungstendenzen, die der nationale Opportunismus erzeugt, schliesst freilich nicht aus, dass die internationale Sozialdemokratie in Oesterreich, wo jede soziale Erscheinung auch vom nationalen Gesichtspunkte aus betrachtet und gewertet wird, sich des nationalen Gehaltes ihres Klassenkampfes, ihrer Funktion im nationalen Entwicklungsprozess wohl bewusst ist; vielmehr schöpft sie gerade aus dieser Erkenntnis die Festigkeit, die sie vor allen Verlockungen des nationalen Opportunismus bewahrt. Wenn aber Leuthner das Verhältnis österreichischer Sozialdemokraten zu ihrer Nation den reichsdeutschen Genossen als Muster empfiehlt, nach dem sie ihr Verhältnis zum Reiche umgestalten sollen, so beruht dies auf einer Verwechslung des Staates mit der Nation, einer Verwechslung, die recht sonderbar ist im Munde eines Sozialdemokraten, dem der kapitalistische Klassenstaat nicht als das nationale Gemeinwesen gelten kann, doppelt sonderbar im Munde eines Deutschösterreichers, der am allerwenigsten vergessen sollte, dass Bismarcks Reich nicht die Verwirklichung der nationalen Einheit und Freiheit des deutschen Volkes ist.

So zerfallen Leuthners Argumente in nichts, wenn man aus all dem Spott und Hohn ihren sachlichen Gehalt nüchtern prüfend herauszuschälen versucht. Die Taktik der österreichischen Sozialdemokratie wurzelt in denselben Grundsätzen demokratischer, proletarischer und sozialistischer Politik, die sich unter anderen Verhältnissen in der Taktik der reichsdeutschen Bruderpartei verkörpern. Wir dürfen uns dieser Erkenntnis freuen, nicht nur als internationale Sozialdemokraten, die die prinzipielle Folgerichtigkeit und internationale Einheit der proletarischen Politik in diesem Lande in schweren Mühen erstreben, sondern vor allem auch als deutsche Sozialisten, die, frei von kleinlichem österreichischen Partikularismus, der allein der Neigung zu hochmütiger Selbstbespiegelung fruchtbaren Nährboden schaffen könnte, sich nicht in Gegensatz setzen wollen zu der grossen Gemeinschaft des gesamten deutschen Proletariats, deren Teil wir sind und bleiben wollen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024