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Der Kampf, Jg. 2 Heft 4, 1 Jänner 1909, S. 169–175.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vor fünfzig Jahren, im Jänner 1859, hat Karl Marx das berühmte Vorwort zur Kritik der politischen Oekonomie geschrieben, das in wenigen knappen Sätzen den Grundgedanken seiner Geschichtsauffassung in heute noch unübertroffener Weise zusammenfasst; Marx hat es seiner Analyse der Ware und des Geldes vorausgeschickt, auf die er später das grosse ökonomische System des Kapitals aufgebaut hat.
Im November desselben Jahres ist Darwins Entstehung der Arten erschienen. Auf eine Fülle von Einzeltatsachen gestützt, hat Darwin durch die Kühnheit und Folgerichtigkeit seiner Schlüsse alle Vorgänger in den Schatten gestellt und der Biologie für Jahrzehnte ihre Bahn vorgezeichnet.
Schon einzelne Zeitgenossen erkannten die Verwandtschaft von Darwins und Marxens Werk. Heute können wir ein halbes Jahrhundert ihres Wirkens überschauen; was beiden gemein ist, tritt nun deutlich hervor.
Das Jahrzehnt, in dem die Grundgedanken beider Werke gereift sind, war eine Zeit überaus schneller Entwicklung des Kapitalismus. In diese Zeit fällt die schnelle Ausdehnung der Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt, die Entdeckung reicher Goldlager in Californien, Australien und Neuseeland, die Gründung des Credit mobilier und Credit foncier, die Massenauswanderung nach Amerika; es war dies jene Zeit der Hochkonjunktur, die in der verheerenden Krise des Jahres 1857 ihr Ende fand. Der Staat stellte sich überall in den Dienst dieser Entwicklung. In England liess W. E. Gladstone von dem ganzen Zolltarif nur 48 Zollsätze bestehen; die britischen Truppen sicherten dem Kapital durch die Niederwerfung des indischen Aufstandes und durch ihre Siege in China ungeheure Absatzmärkte. In Frankreich förderte Napoleon III. die kapitalistische Entwicklung durch grosse öffentliche Arbeiten. Cavour bereitete Italiens Einigung vor. In Deutschland und Oesterreich wurde die Entwicklung des Wirtschaftslebens durch die Bauernbefreiung, durch die Verwaltungsreformen, durch grosse Eisenbahnbauten, durch die Zollverträge gefördert. So strebte das Bürgertum mächtig empor. Die bürgerliche Denkweise beherrschte das Geistesleben; aber das Bürgertum war seit den Tagen des Chartismus, der Junischlacht, der Oktoberrevolution ein anderes geworden. Der idealistische Rationalismus, dem alles Historische nichtig war, der den Staat und die Gesellschaft nach seinen Begriffen umschaffen wollte, schwand dahin; von den historischen Staatsgewalten besiegt und doch gefördert, des Aufstieges seiner Wirtschaft froh, stellte sich das Bürgertum mit beiden Füssen auf den Boden der Tatsachen. In diesem Jahrzehnt entstanden in Deutschland die Elemente nationalliberaler Realpolitik. Der Realismus herrschte in der Literatur und in den Künsten. Die Naturwissenschaft bestimmte das Denken der Gebildeten. Die klassische Philosophie wurde vom naturwissenschaftlichen Materialismus abgelöst. In diese Zeit der Triumphe des naturwissenschaftlichen Denkens fällt die Entstehung von Marx’ Kritik der politischen Oekonomie und Darwins Entstehung der Arten. Die Methode der modernen Wissenschaft, im Ausbau der Naturwissenschaften ausgebildet, erobert sich in diesen Werken zwei neue fruchtbare Provinzen.
Die moderne Naturwissenschaft ist von dem Streben geleitet, alle qualitative Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Welt unserer Erfahrung auf die von einheitlichen Gesetzen beherrschte, mathematisch erfassbare Bewegung eines elementaren Substrats zu beziehen. Diese Gesetze aufzusuchen, aus ihrem Zusammenwirken jede konkrete Erscheinung zu erklären, ist die Aufgabe des Naturforschers.
Die Mechanik hat alle qualitative Mannigfaltigkeit der Körperwelt aufgehoben in ihrem einzigen Dingbegriff, dem Begriff der Masse, und sie versucht es, alle die verschiedenen Gesetze, denen die Bewegung der Masse folgt, einem obersten Grundgesetz unterzuordnen.
Demselben Ziel sucht sich die Physik zu nähern. Sie begreift das Licht und den Schall als Bewegungen von Massen. Und im Bewusstsein kühner Forscher entsteht der Gedanke, es seien alle physikalischen Erscheinungen auf Bewegungen des Aethers zurückzuführen, deren Gesetze zu entdecken des Forschens letztes Ziel sei.
Die Chemie löst die unendliche Mannigfaltigkeit der Stoffe in eine begrenzte Zahl von Elementen auf. Sie entdeckt, dass die Eigenart der Elemente eine Funktion ihrer Atomgewichte ist. So bringt sie die Elemente in eine geordnete Reihe; sie ordnet die Elemente einem höheren Begriff unter als dessen durch das Atomgewicht bestimmte Arten.
Dieses Streben der Wissenschaft ist dem menschlichen Bewusstsein angeboren. Sein Keim ist in dem primitivsten Kausalurteil enthalten. Aber zur Entfaltung konnte es erst kommen, als eine ungeheure Umwälzung der menschlichen Daseinsweise das überlieferte Weltbild zerstört und die im menschlichen Bewusstsein schlummernde Neigung durch den tosenden Lärm, der den Umbau des ganzen Gesellschaftsgebäudes begleitet, aus Jahrhunderte währendem Schlaf erweckt hat. Mit den gewaltigen Umwälzungen im Zeitalter des Frühkapitalismus hebt die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft an. Sie hat sich ein Gebiet nach dem anderen erobert, bis sie an der Schwelle des modernen Kapitalismus das Leben selbst, das Leben der Arten und das Gesellschaftsleben der Menschen sich unterworfen hat. Das Streben nach der Schöpfung des Naturmechanismus erobert sich in der Arbeit Darwins und Marxens zwei neue Reiche. Darwin führt die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Arten zurück auf das elementare Substrat des organischen Lebens, das nach wenigen einfachen Gesetzen im Kampfe ums Dasein aus sich heraus die vielen verschiedenen Arten der Tier- und Pflanzenwelt hervorbringt. Marx führt die unendlich vielen Gestalten der sozialen Beziehungen, des Staats- und Rechtslebens, der wissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen, der Urteile über das Gute und Schöne zurück auf das elementare Substrat der Seele des vergesellschafteten Menschen, die nach bestimmten Gesetzen mit der Wandlung der Produktivkräfte aus sich heraus jene mannigfachen Formen unseres Kulturlebens erzeugt. Beide haben es nicht mit dem Substrat zu tun, das ihnen als das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen erscheint. Darwin fragt nicht nach dem Geheimnis des organischen Lebens; Marx überlässt die Erforschung der allgemeinen und im Laufe der Geschichte unveränderten Gesetze des menschlichen Seelenlebens den Psychologen. Beide forschen vielmehr nach den Gesetzen der Bewegung, der Entwicklung ihres Substrats. Darwin zeigt, wie die natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl, die Wirkungen des stärkeren oder schwächeren Gebrauches der Organe und die unmittelbare Anpassung an äussere Lebensbedingungen aus dem Urstoff des organischen Lebens immer neue Gestalten erzeugen. Marx zeigt, wie die Wandlungen im Daseinskampf der Menschheit in der Natur, die Wandlungen der Produktivkräfte in dem Urstoff des sozialen Lebens, in der Seele der gesellschaftlich lebenden Menschen, immer neue Erscheinungen auslösen, die sich in Veränderungen der Sitte, des Rechtes, des Staates, in neuen Gestaltungen der Religion, der Kunst, der Wissenschaft, in neuen sittlichen Werturteilen objektivieren. So erscheint beider Werk als eine neue Eroberung in dem siegreichen Feldzug des Menschengeistes, nicht nur in ihrer Tragweite vergleichbar, sondern auch in ihrer Methode nahe verwandt jenen anderen Errungenschaften, die die Mechanik durch die Schöpfung des Begriffs der Masse, die Physik durch die Erklärung des Schalles als einer Luftbewegung und des Lichtes als einer Aetherbewegung, die Chemie durch die Aufstellung der geordneten Reihe der Elemente gewonnen hat.
Marx und Darwin haben das Reich der Wissenschaft ausgedehnt mit denselben Waffen, die vor ihnen die Begründer der modernen Mechanik, Physik, Chemie geschaffen und geführt hatten. Und doch erschien es als etwas durchwegs Neues, unerhört Kühnes, was sie getan.
Die Mechanik, die Physik, die Chemie handeln von einer seienden, dauernden Welt; ihre Gesetze scheinen zeitlos zu gelten. Darwin und Marx erforschen das Reich der fortwährenden Umbildung, Umgestaltung, Erneuerung. Das ist nun freilich kein Unterschied für den Logiker: denn die Gesetze der Mechanik und Physik haben nicht in anderer Weise zeitlose Geltung als die der Lebens- und der Gesellschaftswissenschaft: beide gelten, solange ihr Substrat besteht. Die Gesetze der Optik gelten, wo immer und solange die Erscheinungen des Lichtes erfahren werden; und Marx’ Gesetze des Kapitalismus gelten, wo immer und solange es eine kapitalistische Produktionsweise gibt. Dennoch musste die Kühnheit des Versuches die Zeitgenossen verblüffen. Denn die Gesetzeswissenschaft musste ihre Herrschaft auf das offensichtlich Zeitliche, Historische ausdehnen, ehe die Menschen sich dessen bewusst werden konnten, dass auch die „ewigen ehernen Gesetze“ des Naturgeschehens an ein schlechthin gegebenes, also historisches, wenn auch für uns immer und überall gegebenes Substrat gebunden sind, ein historisches Element einschliessen.
Die Entwicklungsgesetze erschienen zunächst – und erscheinen den meisten noch heute – als Gesetze besonderer Art. Die Wissenschaft musste erst Gesetze von dem ewig sich wandelnden Leben entdecken, ehe sie erkennen konnte, dass die Einsicht, dass ein Lebewesen sich unter bestimmten Bedingungen nach einer bestimmten Richtung hin entwickelt, oder die Erkenntnis, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen psychische Kräfte ausgelöst werden, die neue gesellschaftliche Beziehungen erzeugen, nicht anderer Art ist, als das ihr längst vertraute Gesetz, dass das Fortwirken einer Kraft eine Bewegung mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine Bewegung mit grösserer Geschwindigkeit übergehen lässt, – mag auch die Bedingung, an die das Gesetz die Wirkung knüpft, dort nur einmal im Laufe des Weltgeschehens, hier immer wieder und überall eintreten.
Es konnte dem Zeitalter nicht leicht werden, auch das Beseelte, Bewusste unter Gesetzen zu begreifen. Wohl ist der Keim des Grundsatzes, dass alles, was geschieht, etwas voraussetze, worauf es nach einer Regel folgt – die „zweite Analogie der Erfahrung“ in Kants System – in allem menschlichen Bewusstsein enthalten und längst hatte er sich an der Erfahrung entfaltet, längst zu Versuchen geführt, auch das Fühlen, Denken, Wollen der Menschen der unendlichen Kausalreihe einzuordnen. Aber dem naiven Empirismus des gesunden Menschenverstandes wurde es nicht leicht, seine eigene Seele als das Erzeugnis der gestaltenden Arbeit der Umwelt zu betrachten, die sie aus dem Bewusstsein älterer Lebewesen in vielen, vielen Jahrtausenden hervorgebracht hat; und nicht leichter hat er begriffen, dass die Verhältnisse, die die Menschen im Kampfe um ihren Lebensunterhalt untereinander eingehen, zu einer äusseren Macht werden, die in dem Bewusstsein des einzelnen die Kräfte weckt, aus denen die Erscheinungen unseres Kulturlebens hervorgehen.
Marxens und Darwins Werke sind nichts als Betätigungen der Methode der modernen Wissenschaft auf neuen Arbeitsfeldern; aber gerade der Anwendung jener Methode auf den ihr nun unterworfenen Gebieten standen so gewaltige psychische Hindernisse entgegen, dass sie nur einer Zeit gelingen konnte, in der eine unerhörte Umwälzung im Leben der Menschen auch dem kühnsten Gedanken den Eingang in das Bewusstsein der Massen erschlossen hat. Ihre Werke waren erst möglich, nachdem der Mensch die Naturgesetze nicht nur erforscht, sondern auch in der Fabrik in seinen Dienst gestellt hatte, nachdem er auf dem Waren- und Arbeitsmarkt erfahren, wie über den Entschliessungen der einzelnen unerbittliche Gesetze stehen, nachdem die Tendenz der Wissenschaft zur Reduktion aller qualitativen Mannigfaltigkeit auf quantitative Gesetze ihr Gegenbild gefunden hatte in der täglichen Praxis des Wirtschaftslebens, die alle die zahllosen und verschiedenen Waren zu blossen Wertmengen macht, nachdem der Kampf ums Dasein zur anschaulichen Wirklichkeit geworden war in den Klassen- und Konkurrenzkämpfen, die Wandlungen der Produktivkräfte in der Entwicklung des Fabrikssystems, die grosse Tatsache der Entwicklung in der technischen, sozialen und politischen Revolution. Darwin hat selbst sein Werk bezeichnet als „die Lehre von Malthus in ihrer Anwendung auf das ganze Tier- und Pflanzenreich“; Marx ist vom Studium der französischen Revolution und der englischen Oekonomie zur Kritik gekommen. Die Menschen schaffen ihr Welt- und Gesellschaftsbild stets nach dem eigenen Ebenbild. Knechte, denen die Gnade des Herrn ihres Lebens Schicksal war, träumten von dem allgütigen Gott, dem guten Herrn des Himmels und von dem Wunder der Erlösung durch den Sklaventod am Kreuze; Bauern, deren Leben von der Geburt bis zum Tode in der Enge des Hauses, im Kreise der Familie ablief, ward die Geschichte der heiligen Familie zu dem grossen Ereignis des Weltgeschehens; Darwin hat die Konkurrenzkämpfe auf dem Warenmarkt und dem Arbeitsmarkt in die Natur, Marx hat die grandiose Entwicklung der Produktivkräfte, die das Zeitalter des Ueberganges von der Manufaktur zur Fabrik mit seinem ganzen Gefolge der politischen und sozialen Revolution erlebt hatte, in die Vergangenheit und in die Zukunft der Menschheit projiziert. Darwins Werk ist auf dem Markte, Marxens Lehre in der Fabrik entstanden.
So ward nun der Mensch mitten hineingestellt in die Natur. Was seit der allmählichen Zersetzung des alten religiösen Weltbildes die Philosophie vergeblich versucht hatte, was selbst in Hegels kühnem Bauplan misslungen war, ward nun in der Wissenschaft verwirklicht. Darwin hat die Species Mensch als eine Phase in der gesetzmässigen Entwicklung des organischen Lebens begriffen. Marx hat sich und uns die Aufgabe gestellt, zu erforschen, wie aus dem Daseinskampf der Menschheit in der Natur die einzelnen Gestalten des menschlichen Kulturlebens hervorgehen, von der unmittelbaren Arbeit zur Erzeugung unseres Lebensunterhaltes bis zu den zartesten Blüten der Wissenschaft und Kunst, die von allem wirtschaftlichen Interesse losgelöst sind, keinem wirtschaftlichen Interesse dienen und doch immer nur aus jener konkreten Gestalt der Psyche des vergesellschafteten Menschen hervorgehen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Arbeitskräfte und Arbeitsmittel, der Waffen im Daseinskampf der Menschheit in der Natur ausgebildet worden ist. So wurde die Entstehung der Menschheit und die Entwicklung ihres Kulturlebens als ein Teil des gesamten Naturprozesses begriffen. Indem der Mensch zum Gegenstand der Naturwissenschaft wurde, erkannte er sich selbst als einen Teil der Natur. Darin spiegelt sich die daseinsfrohe Stimmung des Zeitalters, in dem die technische Revolution die Herrschaft der Menschheit über die Natur gestärkt, in dem der Staat in die Dienste der bürgerlichen Wirtschaft getreten war, in dem das Bürgertum die alten Tafeln zerbrochen, sich von lebensfremdem Idealismus und lebensfeindlicher Askese abgewendet hat. So erschienen den Zeitgenossen Darwins und Marx’ Lehren als Bausteine zu dem Gebäude einer naturalistischen Weltanschauung, an dessen Aufrichtung ihr Zeitalter schaffensfroh arbeitete.
Aber diese innere Verwandtschaft beider Denkrichtungen hat viele verleitet, sie in allzu enge Beziehung zueinander zu setzen. Bald hat man die materialistische Geschichtsauffassung als eine notwendige Konsequenz der Abstammungslehre, als ihre Anwendung auf das gesellschaftliche Leben angesehen, bald wieder Marx’ Lehren mit Argumenten aus Darwins Rüstkammer widerlegen zu können geglaubt: Freund und Feind haben oft verkannt, dass Darwin und Marx dem Denken Richtlinien gezogen haben, die in verschiedenen Ebenen menschlichen Wissens liegen; sie kreuzen einander in der Schnittlinie beider Ebenen, aber vom Kreuzungspunkt in verschiedenen Ebenen fortlaufend, berühren sie einander nicht mehr.
Den Gesetzen der Mechanik folgen auch die beleuchteten und erwärmten Körper, aber darum löst sich doch die Optik und Wärmelehre nicht in der Mechanik auf. Die Gesetze der Physik gelten auch von den Lebewesen – aber darum kann die Physik doch nicht die Biologie in sich aufnehmen. So sind auch die gesellschaftlich lebenden Menschen den Gesetzen der Biologie unterworfen, ohne dass darum die sozialen Beziehungen der Menschen aufhören, ein selbständiger Gegenstand der Forschung zu sein, dessen Gesetze sich oberhalb der biologischen Gesetze aufbauen, in ihnen aber nicht aufgehen.
Dass der Mensch Güter bestimmter Art zur Reproduktion seines Lebens braucht, ist eine natürliche Tatsache; von der Abhängigkeit des Menschen als eines Naturwesens von dem Besitz und Genuss solcher Güter handelt die Physiologie und Biologie. Der Mensch ist sich dieser Abhängigkeit bewusst und er schätzt die Wichtigkeit der Güter für die Befriedigung seiner Bedürfnisse einerseits nach der Grösse des Vorrates an Gütern, andererseits nach der Rangskala seiner Bedürfnisse; von diesen für Menschen aller Länder, aller Zeiten, aller Produktionsformen unterschiedslos geltenden Gesetzen der Güterschätzung handelt die Psychologie. Solange wir bloss die objektive Bedeutung und die subjektive Schätzung der Güter erforschen, bewegen wir uns auf dem Gebiete der Physiologie und der Psychologie, aber noch nicht auf dem Gebiete der Sozialwissenschaft. Erst wenn wir zeigen, wie sich Güterversorgung und Güterschätzung auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte gestalten, wie sich in ihnen bestimmte Produktionsverhältnisse, gesellschaftliche Beziehungen der Menschen, ausdrücken, treten wir in das Reich der Gesellschaftswissenschaft ein.
Diese Abgrenzung des besonderen Problems der Sozialwissenschaft hat Marx in der Kritik in seiner Analyse der Ware vollzogen. Natürlich gelten auch in der kapitalistischen Warenproduktion die Gesetze der Psychologie; auch hier schätzt der Mensch die Güter nach der Grösse des Vorrats und nach dem Grade ihrer Wichtigkeit für die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Und diese Rangskala der Bedürfnisse bleibt natürlich stets physiologisch bestimmt. Aber in der kapitalistischen Gesellschaft wird die Grösse des Vorrats an allen beliebig reproduzierbaren Waren durch die Zuwendung des Kapitals zu den einzelnen Produktionszweigen geregelt; das Streben der individuellen Kapitalien nach dem höchsten Profit ergibt die gesellschaftliche Tendenz zur Bildung der Durchschnittsprofitrate. So werden Vorrat und Bedarf immer wieder in ein solches Verhältnis zueinander gesetzt, dass das Spiel der individuellen Schätzungen als ihr Ergebnis den Produktionspreis ergibt, dessen Analyse auf den durch die gesellschaftliche Arbeit bestimmten Wert zurückführt. Die Bewertung der Ware, für die Psychologie nur ein individueller Schätzungsakt, ein Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und einem nützlichen Gegenstand, wird von der politischen Oekonomie erfasst als das Endergebnis sozialer Beziehungen der Menschen zueinander, als ein Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse auf einer gegebenen Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Analyse der Ware, wie sie zuerst in der Kritik formuliert, später im Kapital ausgestaltet wurde, ist eine Anwendung der Lehre von den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf das Wirtschaftsleben unserer Zeit; sie bedeutet die Konstituierung der politischen Oekonomie als einer sozialen, von der Psychologie und Biologie losgelösten Wissenschaft.
Wie die politische Oekonomie von der Psychologie und Physiologie losgelöst ward, so scheiden sich auch die Begriffe, die den Produktionsprozess unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen beschreiben, von jenen, die in der Beschreibung der Produktion überhaupt entwickelt werden. Alle Produktion dient der Schaffung der für die Konsumtion bestimmten Güter; aber unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen erscheint die Konsumtion der Volksmehrheit als Reproduktion der Arbeitskraft, als ein Teil des Reproduktionsprozesses des Kapitals. Jede gesellschaftliche Produktion braucht Arbeitsmittel, Produktionsleiter, Arbeitende; nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen werden die Arbeitsmittel Kapital, die Produktionsleiter Kapitalisten, die Arbeitenden Lohnarbeiter. Jede Gesellschaft muss ihren Produktionsapparat immer wieder erneuern; nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen erscheint dies als Reproduktion des konstanten Kapitals. Jede Gesellschaft muss ihren Produktionsapparat erweitern, will sie den Güterbedarf der wachsenden Bevölkerung befriedigen; nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ist die Erweiterung des Produktionsapparates an die Akkumulation des Kapitals gebunden.
Wie die soziale Wertlehre zur psychologischen Theorie der Güterschätzung, wie die „historischen Kategorien“ der politischen Oekonomie zu den „natürlichen Kategorien“ der Produktionstheorie verhält sich Marx’ Geschichtsauffassung zu Darwins Abstammungslehre. Darwin lehrt uns zum Beispiel begreifen, wie der Daseinskampf der Gebirgsbewohner einen ganz anderen Menschentypus erzeugen muss als der Kampf ums Dasein, den die Menschen in der Ebene zu führen haben; diese Erkenntnis trifft für alle Produktionsstufen zu. Marx dagegen lehrt uns verstehen, wie sich der Daseinskampf der Menschen mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse verändert; die Lebensbedingungen der Gebirgsbewohner, die die Bergesmassen durchbohren und Eisenbahnlinien durch die Bergriesen hindurchführen, sind wesentlich verschieden von jenen ihrer Ahnen, die nur auf steilem Saumweg die Berge überschreiten konnten. Darwin zeigt uns das organische Leben, auch die Menschheit, als eine bildsame Masse, die von den äusseren natürlichen Daseinsbedingungen gestaltet wird; Marx zeigt uns die Menschen zwar auch als „Produkte der Umstände“, aber er zeigt auch, „dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden“. Im Mittelpunkt seines Systems steht die „umwälzende Praxis“, die Selbsttätigkeit der menschlichen Gesellschaft in der Entwicklung ihres Daseinskampfes in der Natur. Dadurch erhebt sich seine Auffassung über die biologische, sie hat es nicht mehr nur mit dem Menschen als dem Geschöpf der Natur, sondern zugleich auch mit dem Menschen als Schöpfer seiner eigenen Daseinsbedingungen zu tun, dadurch gewinnt sie erst in den gesellschaftlichen Willensbeziehungen der Menschen das besondere Objekt ihrer Forschung. Da aber alle Willensbeziehungen der Menschen, auch diejenigen, die dem Kampf ums Dasein der Gattung völlig entrückt sind, doch nur als Erzeugnisse, als Ausgestaltungen jener psychischen Kräfte erfasst werden, die die Menschen in jenen Verhältnissen entwickeln, welche sie in der Führung dieses Daseinskampfes, in ihrer gesellschaftlichen Arbeit eingehen, bleibt doch der Mensch ein Naturobjekt, die menschliche Kulturentwicklung ein Teil des Naturprozesses. Indem Marx nicht die Menschheit als bildsamen Stoff, den die Natur gestaltet, sondern die Willensbeziehungen der Menschen zueinander betrachtet, schafft er eine von der Biologie losgelöste Sozialwissenschaft; und indem diese Willensbeziehungen zurückgeführt werden auf Produktionsverhältnisse, also auf die Arbeit der Menschen an der Reproduktion der Gattung, auf den gesellschaftlichen Daseinskampf der Menschheit mit der Natur und in der Natur, wird doch die Sozialwissenschaft ein Teil der Naturwissenschaft. Darum ist der Begriff der Produktion, der Arbeit der zentrale Begriff des Marxschen Systems: er erhebt uns über die Biologie, indem er uns die Geschichte der Menschheit als das Erzeugnis ihrer bewussten Selbsttätigkeit begreifen lässt, er verankert aber diese Geschichte doch wieder im Naturprozess, indem er die ganze Kulturentwicklung hervorgehen lässt aus jenem Zweig der menschlichen Tätigkeit, der der Gewinnung der Güter für' unseren Lebensunterhalt dient, aus der besonderen Form, in der die Menschheit ihren Daseinskampf in der Natur führt. Und auch hierin ist Marx wieder ein Kind seiner Zeit. Aus Darwins Lehre spricht (wie seine Berufung auf Malthus beweist) die furchtbare Erfahrung von dem unerbittlichen Walten der Konkurrenzgesetze, denen die Menschen wehrlos erliegen; in Marx’ Lehre von den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kündigt sich das stolze Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse an: „Die Arbeit, sie erhält, die Arbeit, sie bewegt die Welt.“ Darwin erzählt vom leidenden, Marx von dem zum Bewusstsein seiner Macht und seines Wertes erwachenden Proletariat.
So verlaufen Marxens und Darwins Richtlinien des Denkens in zwei verschiedenen Ebenen des Gebäudes der Wissenschaft. Aber noch bleibt uns die Aufgabe, den Kreuzungspunkt dieser Linien zu bestimmen, der in der Schnittlinie der beiden Ebenen liegt. Wir finden ihn, wenn wir erwägen, dass die Produktionsverhältnisse, die ein Volk auf irgend einer Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte eingeht, nicht nur die psychischen Fähigkeiten entwickeln, aus denen sich das ganze Kulturleben des Volkes auf dieser Entwicklungsstufe gestaltet, sondern auch in derselben Weise wie die natürlichen Daseinsbedingungen die Auslese regeln. So hat Kautsky die ererbten Instinkte, die unseren ethischen Urteilen zugrunde liegen, daraus zu erklären versucht, dass auf bestimmten Stufen der Produktionsentwicklung nur die mit solchen sozialen Instinkten ausgestatteten Menschen den Daseinskampf überleben und sich fortpflanzen konnten. Ebenso hat Kautsky schon in einem älteren Aufsatz gewisse Eigenarten der Juden daraus zu erklären versucht, dass ihnen diese Eigenschaften vor vielen Jahrhunderten durch die Bedingungen ihres Daseinskampfes angezüchtet und durch die natürliche Vererbung auf die Nachkommen übertragen worden sind. Auch der in meiner Theorie der Nation als Naturgemeinschaft unternommene Versuch, ererbte Züge des Nationalcharakters aus der Wirtschaftsverfassung der Ahnen zu erklären, stellt eine Verknüpfung der Methoden Marxens und Darwins dar.
Aber solche Grenzfälle dürfen uns doch nicht die Selbständigkeit der beiden neuen Wissenschaften verkennen lassen. Die Verschiedenheit des Forschungsgebietes und der Arbeitsweise Marxens und Darwins spiegelt sich auch in der Verschiedenheit des Schicksals ihrer Lehren.
Auch Darwins Lehre ist auf den zähen Widerstand uralter Denkgewohnheiten gestossen. Aber im Kampfe gegen eine kaum noch übersehbare, von Jahr zu Jahr wachsende Fülle von Erfahrungstatsachen, in die nur der leitende Gedanke der Abstammungslehre Einheit und Ordnung zu bringen vermag, ist dieser Widerstand schliesslich erlahmt. Die Deszendenztheorie wird nur noch von wenigen ernsthaft bestritten. Desto lebhafter wird der Streit um die Mittel geführt, deren sich die Natur in der Gestaltung und Umgestaltung des organischen Lebens bedient. Die Keime, die in Darwins Werk enthalten waren, wurden entfaltet, jede Seite von Darwins Lehre von je einem Zweige seiner Schule in den Vordergrund gerückt. Im Kampfe der Schulen ringt sich die Wissenschaft allmählich zu gesicherten Erkenntnissen empor.
Vergleicht man mit dieser Entwicklung die Arbeit am Ausbau der Marxschen Lehre, so erscheint sie ärmlich und unzulänglich. Wohl hat noch Marx selbst auf die in der Kritik entwickelten Begriffe das grandiose System des Kapitals aufgebaut. Im Mittelpunkt dieses Systems steht die Entwicklung der Produktivkräfte, die bei kapitalistischer Produktionsweise in der Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals ihren besonderen Ökonomischen, mathematisch erfassbaren Ausdruck findet. Der Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals führt zur Reproduktion der industriellen Reservearmee, durch die sich das Gesetz des Wertes der Arbeitskraft durchsetzt; er führt zum Sinken der Profitrate, das in den Krisen in Erscheinung tritt; er führt schliesslich zur Konzentration des Kapitals, durch die die Bedingungen zur Umwälzung des Gesellschaftsgebäudes geschaffen werden. Wer die Entwicklung der Oekonomie, der Rechtswissenschaft, der Geschichtschreibung, des politischen Denkens in den letzten Jahrzehnten kennt, wird die gewaltige Wirkung ermessen können, die diese Gedankenreihen auf die Wissenschaft und die Politik geübt haben. Marx’ Schüler haben sein Werk fortgeführt und um manche wertvolle Arbeit die Wissenschaft bereichert. Aber vergleicht man, was wir leisten konnten, mit der Riesenarbeit, die noch zu leisten ist, vergleicht man die Fortentwicklung der Marxschen Lehre mit dem grossen Forschungswerk, das von Darwins Entstehung der Arten ausgegangen ist, dann kann man sich wohl eines Gefühles der Beschämung nicht erwehren.
Aber dieses Gefühl verschwindet, wenn wir gerade in der Stärke der Marxschen Lehre die Ursache ihres langsamen Ausbaues entdecken. Die Lehre von der „umwälzenden Praxis“ ist selbst zu einer Triebkraft umwälzender Praxis geworden. Weil sie die Theorie der Revolution ist, hat der bürgerliche Staat seine Universitäten gegen sie mobilisiert; weil sie zu revolutionärer Praxis führt, haben ihre Vorkämpfer zur Fortbildung der Lehre wenig Zeit gefunden. Desto gewaltiger ist der Einfluss der Lehre auf die kämpfenden Arbeitermassen. Wenn das Proletariat sich vom Kapitalismus emporgetragen fühlt, wenn es in jeder neuen Errungenschaft der Technik, in jeder neuen Fabrik eine Mehrung seiner Kraft, eine Bürgschaft seines Sieges sieht, so denkt es, dessen selbst nicht bewusst, die grosse Lehre von den Produktivkräften nach, deren Wandlungen die Umwälzung des ganzen Baues menschlicher Kultur vorbereiten. In der Fabrik ist die Lehre entstanden; in den Massen der Fabriksarbeiter lebt sie fort. Das klare Zielbewusstsein, die unüberwindliche Siegesgewissheit des kämpfenden Proletariats – das sind die grössten Errungenschaften von Marxens Lehre.
Leztztes Update: 6. April 2024