Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VI. Wandlungen des Nationalitätsprinzips


§ 30. Der Sozialismus und das Nationalitätsprinzip


Auf den deutsch-französischen Krieg antwortete das französische Proletariat mit der Kommune. Auf den russisch-japanischen Krieg antwortete das Proletariat Russlands mit der Revolution. Auch der imperialistische Weltkrieg der Zukunft wird zweifellos eine revolutionäre Bewegung auslösen. Wenn das Kapital im Kampfe um Absatzmärkte und Anlagesphären die modernen Riesenarmeen von Millionen Streitern in Bewegung setzt, hat es den höchsten Gipfel seiner Macht erstiegen; ein Schritt weiter und es stürzt in den Abgrund. Gerade die imperialistische Welterschütterung wird die sozialistische Weltumwälzung einleiten. So wird der Imperialismus sein nationalistisches Prinzip niemals rein verwirklichen können: von dem Tage an, an dem das Proletariat zuerst in einem der großen kapitalistischen Staaten des europäischen Kulturkreises die politische Macht erobert, werden neue Kräfte wirksam, die die Gesetze des Zusammenlebens der Nationen völlig umgestalten werden. Diese neuen Gesetze werden zunächst mit den alten Gesetzen der stürzenden kapitalistischen Welt in Kampf geraten. Aber wie die kapitalistische Warenproduktion schließlich über die feudale Grundherrschaft gesiegt hat, wie ihre Grundsätze der Staatsbildung und Staatsabgrenzung schließlich – wenn auch erst nach jahrhundertelangem Kampfe – sich rein durchgesetzt und die feudalen Staatengebilde zertrümmert haben, so wird auch die sozialistische Gesellschaft schließlich ihre Prinzipien der Bildung und Abgrenzung der Gemeinwesen auf den Trümmern der alten kapitalistischen Staaten verwirklichen.

Formal-juristisch betrachtet, ist der moderne Staat die souveräne Gebietskörperschaft. Daran ändert sich nichts, wenn die Arbeiterklasse die Macht im Staate erobert und die Arbeitsmittel in das Eigentum des Staates und der vom Staate beherrschten und geleiteten engeren örtlichen Verbände innerhalb des Staates überführt. Auch das Gemeinwesen der Zukunft wird das Attribut der Souveränität nicht missen können; es wird dann bedeuten, dass das Gemeinwesen oberster Leiter aller Produktion und aller Verteilung ist. Das Proletariat ändert zunächst nicht die Rechtsnormen, sondern die Rechtssubjekte und die Wirksamkeit der Rechtsnormen; aber dadurch wird doch aus dem Staate ein ganz neues soziales Gebilde. Der moderne Staat ist erst erstanden mit der Geldwirtschaft, die selbst eine Erscheinungsform der Warenproduktion ist. Das sozialistische Gemeinwesen dagegen beruht nicht mehr auf der Steuer, sondern auf der Tatsache, dass es selbst die Produktion leitet und den Arbeitsertrag verteilt; nun sichert sich nicht mehr der Staat durch die Steuer einen Anteil am Wertprodukt der Warenproduzenten, vielmehr entscheidet er als Eigentümer selbst darüber, welchen Teil des gesellschaftlichen Arbeitsertrages er seinen Zwecken widmen, welchen er den einzelnen Gliedern des Gemeinwesens zuteilen will. Der moderne Staat ist überall ein Werkzeug der Klassenherrschaft der Bourgeoisie; denn nur als kapitalistische Warenproduktion konnte die Warenproduktion allgemeine Form gesellschaftlicher Produktion werden, die Geldwirtschaft, die Grundlage des modernen Staates, sich also verbreitern. Das sozialistische Gemeinwesen der Zukunft dagegen hebt die Klassengegensätze und dadurch auch die Klassenherrschaft der Kapitalisten auf; nun erst ist wahrhaft die Gesamtheit der Staatsbürger zur Bildung des Gesamtwillens berufen. Indem die Arbeiterklasse sich des modernen Staates bemächtigt, hebt sie den modernen Staat auf, verwandelt sie ihn in ein ganz neues soziales Gebilde.

Aber indem der von der Arbeiterklasse beherrschte Staat sein eigenes Wesen verwandelt, setzt er sich nicht nur zum modernen Staate, sondern zum Staate überhaupt in Gegensatz. Der Staat ist entstanden als Gebietskörperschaft, indem die territoriale Gliederung die alte Sippschaftsverfassung zersetzte und schließlich beseitigte. [1] Formal-juristisch wird sich auch daran nichts ändern. Denn auch das Gemeinwesen der Zukunft wird eine Gebietskörperschaft sein; der Boden, das wichtigste Produktionsmittel und die Grundlage aller Produktion, ist die natürliche Basis seiner Wirksamkeit. Aber das Wesen der Gebietskörperschaft wird sich nun völlig verändern. Denn in der Macht des Staates über den Boden birgt sich heute die Herrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen. Indem aber das sozialistische Gemeinwesen das Sondereigentum an Arbeitsmitteln beseitigt, hebt es auch alle Klassenherrschaft auf. Die Gebietshoheit des Staates verbirgt nun nicht mehr die Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern ist ein reines Verhältnis zwischen den Menschen und dem Ding. So setzt sich das sozialistische Gemeinwesen nicht nur zum modernen Staate, sondern zu allen historischen Staatsformen in Gegensatz. Ob man dieses Gemeinwesen noch als Staat bezeichnen will, ist eine müßige Frage der Terminologie.

Jede neue Wirtschaftsverfassung schafft neue Formen der Staatsverfassung und neue Regeln der Abgrenzung der politischen Gebilde. Wie werden sich in der sozialistischen Gesellschaft die Gemeinwesen voneinander scheiden: Wird auch dort die Nationalität der Bürger die Grenzen des Gemeinwesens bestimmen?

Wenn wir diese Frage, die Frage nach dem Verhältnis des Sozialismus zum politischen Nationalitätsprinzip beantworten wollen, so müssen wir von der Tatsache ausgehen, dass erst der Sozialismus der Gesamtheit der Volksgenossen Anteil an der nationalen Kultur geben wird. Mit der Entwurzelung der Bevölkerung durch die gesellschaftliche Produktion, mit der Entwicklung der Nation zu einheitlicher Erziehungs-, Arbeits- und Kulturgemeinschaft verlieren die engeren örtlichen Verbände ihre Kraft, während das Band, das alle Nationsgenossen umschlingt, mehr und mehr erstarkt. Der Tiroler Bauer ist heute durch die bäuerliche Sonderkultur des Landes mit seinen Landsleuten eng verknüpft, von den Deutschen außerhalb des Landes scharf unterschieden. Diese Tatsache des nationalen Seins spiegelt sich im nationalen Bewusstsein wieder. Der Tiroler Bauer fühlt sich zuerst als Tiroler, erinnert sich dagegen nur selten seines Deutschtums. Ganz anders schon der Tiroler Arbeiter; er hat an der Sonderart der Tiroler Bauern weniger Teil, er ist durch viel stärkere Bande der deutschen Nation verbunden. Die sozialistische Gesellschaft wird, indem sie jeden Deutschen zum Erzeugnis deutscher Kultur macht und ihm die Möglichkeit gibt, den Fortschritt deutscher Kultur mitzugenießen, den Partikularismus innerhalb der Nation erst beseitigen. Kein Zweifel, dass diese Entwicklung die Kraft des politischen Nationalitätsprinzips stärken wird.

Nach derselben Richtung treibt eine andere Reihe von Erscheinungen. Die bäuerlichen Massen sind an alle Überlieferung gefesselt, der Hausrat ihrer Ahnen ist ihnen teuer, alles Neue ist ihnen verhasst. Ihre Liebe zu den Werten vergangener Zeiten ist auch politisch wirksam: sie ist die Wurzel ihrer klerikalen Gesinnung, ihres Lokalpatriotismus, ihrer Anhänglichkeit an die Dynastie. Wie bedeutsam dies ist, haben wir gesehen, als wir den Kräften nachforschten, die den Bestand Österreichs sichern: die Bauern, die sich aus den Fesseln jahrhundertealter Überlieferung nicht loszulösen vermögen, sind eine der Stützen dieses Staates, Wenn die sozialistische Produktionsweise einerseits die Massen erst der nationalen Kulturgemeinschaft eingliedert und dadurch auch ihr Nationalbewusstsein stärkt, so vernichtet sie andererseits die Liebe zu den Ideologien vergangener Jahrhunderte, die die reine Durchführung des Nationalitätsprinzips hemmt. So stärkt sie nicht nur die treibende Kraft des Nationalitätsprinzips, sondern räumt auch die Hindernisse aus seiner Bahn.

Indessen wird durch all dies der Sieg des Nationalitätsprinzips nur vorbereitet. Verwirklicht wird er erst werden durch jene Flutwelle des Rationalismus, die über alle überlieferten Ideologien hinüberfluten wird, sobald der Damm des Kapitalismus gebrochen ist. In der großen Übergangsepoche von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft, in der alles Alte vernichtet, alle alten Autoritäten gestürzt, schließlich selbst die alten Eigentumsverhältnisse beseitigt werden, verliert das Alte, Überlieferte seinen Heiligenschein. Nun erst werden die Massen es lernen, das Alte zu stürzen, um auf seinen Trümmern neue Bauten für ihre Zwecke zu schaffen. Diese Revolution des Bewusstseins der Massen wird gesichert werden durch die tägliche Praxis in der sozialistischen Gesellschaft, die den Massen erst die Macht gibt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, durch freie Beratung und freien Beschluss über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, die die Entwicklung menschlicher Kultur zur beratenen, beschlossenen, bewussten Tat der Menschen macht. Sie wird möglich werden durch die sozialistische Erziehung, die jedem einzehien die Kulturgüter der ganzen Nation, ja ein gutes Stück der Kulturgüter der ganzen Menschheit zuführt, ihn dadurch erst von der Überlieferung enger örtlicher Kreise völlig befreit, seinen Blick weitet, ihn erst fähig macht, sich selbst Zwecke zu setzen und klug die Mittel für seine Zwecke zu wählen. So wird den Menschen der sozialistischen Gesellschaft keine Staatsgrenze heilig sein, die längst vergangene Zeiten für ihre Zwecke gezogen. Nun erst werden die Massen aller Völker reif für die Frage, die im 19. Jahrhundert doch nur die Frage der Gebildeten war, für die Frage nach dem Verhältnis innerer Gemeinschaft und äußerer Macht, die im Widerstreit der Nation zum Staat in Erscheinung tritt. Indem die engeren örtlichen Verbände innerhalb der Nation an Kraft verlieren, die nationale Kulturgemeinschaft aber alle Volksgenossen eng umschließt, wird die nationale Gemeinschaft ihnen zur sicheren, unveränderlichen Tatsache; die äußere Macht aber begreifen sie nun als Mittel, das menschlichen Zwecken dienen, menschlichen Zwecken sich anpassen muss. So wird in ihnen der Grundsatz der Anpassung äußerer Macht an innere Gemeinschaft, der Grundgedanke des Nationalitätsprinzips, lebendig.

Seinem Inhalte nach bedeutet das Nationalitätsprinzip die Regel, dass die äußere Macht die innere Gemeinschaft zusammenschließen und ihr dienen soll. Ursächlich, als Motiv wird aber dieser Grundsatz nur wirksam, wenn die Umwälzung der Arbeitsverfahren und Arbeitsverhältnisse die überlieferten Staatengebilde, die diesem Grundsatze nicht entsprechen, unerträglich macht. So war es schon einmal, als die überlieferten Kleinstaaten dem Bedürfnis der Bourgeoisie nicht mehr entsprachen und das Bürgertum darum das Nationalitätsprinzip auf seine Fahne schrieb. So wird es wiederum sein, sobald die Wandlung der gesellschaftlichen Produktion aus ihrer kapitalistischen in die sozialistische Form den Geist der Menschen wandelt, ihre alten Kulturwerte vernichtet, sie zur Frage nach den „natürlichen“ Grenzen des Staates befähigt.

Wenn aber die Massen erst im freien nationalen Gemeinwesen ihr Ziel sehen, so erschließt ihnen der Sozialismus auch den Weg zu diesem Ziele; denn der Sozialismus ruht notwendig auf der Demokratie. Auch ein solches demokratisches Gemeinwesen wird die Minderheiten zwingen, sich dem Gesamtwillen zu beugen: gleichgültig, ob es dies durch unmittelbaren Zwang tun wird oder mittelbar dadurch, dass es sie vom Anteil am Arbeitsprozess und Arbeitsertrag ausschließt. Aber nie und nimmer wird ein solches Gemeinwesen ganze Nationen einschließen können, die nicht zu ihm gehören wollen. Die Massen der Nationen im vollen Besitz der nationalen Kultur, ausgestattet mit den Rechten der Teilnahme an der Gesetzgebung und der Selbstverwaltung und diese Massen bewaffnet – wie könnten solche Nationen gezwungen werden, sich dem Joch eines Gemeinwesens zu beugen, zu dem sie nicht gehören wollen? Alle staatliche Macht ruht auf der Macht der Waffen. Aber das heutige Volksheer ist, dank einem kunstvollen Mechanismus, immer noch ein Machtwerkzeug einer Person, einer Familie, einer Klasse, so gut wie die Ritterheere und Söldnerheere vergangener Zeiten. Das Heer der demokratischen Gemeinwesen einer sozialistischen Gesellschaft, das aus hoch kultivierten Menschen besteht, die in der Werkstätte nicht mehr dem Kommando einer fremden Macht gehorchen und im Staate zur vollen Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung berufen sind, ist aber keine selbständige Macht mehr, sondern nichts anderes als das bewaffnete Volk selbst. Damit schwindet alle Möglichkeit nationaler Fremdherrschaft.

Indessen beruhen die Nationalitätenstaaten in unserer Gesellschaft nicht nur darauf, dass ganze Nationen nicht die Macht haben, den erstrebten Nationalstaat zu verwirklichen, auch nicht nur darauf, dass große Teile vieler Nationen unter dem Eindruck der Ideologien vergangener Zeiten, von der Kulturgemeinschaft der Nation nicht erfasst, die Idee der nationalen Einheit und Freiheit bekämpfen; vielmehr wird die reine. Durchführung des Nationalitätsprinzips auch durch die Tatsache gehemmt, dass der moderne Staat auch Wirtschaftsgebiet ist; muss er also nicht ein solches Gebiet zu umfassen streben, das fähig ist, ein wenigstens einigermaßen selbständiges Wirtschaftsgebiet zu sein? Würde nicht die Ergiebigkeit der Arbeit sinken, wenn ein sozialistisches Gemeinwesen, um das Prinzip nationaler Abgrenzung rein durchzuführen, nur ein kleines, ohne jede Rücksicht auf die Produktion abgegrenztes Wirtschaftsgebiet einhegen wollte?

Hier müssen wir uns zunächst der Tatsache erinnern, dass erst der Sozialismus die internationale Arbeitsteilung wird folgerichtig durchführen können. Die einfache Warenproduktion hat die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit gewaltig gesteigert, indem sie, zunächst innerhalb eines engen Kreises – in einer Stadt und dem zugehörigen Verkehrsgebiete – die Arbeitsteilung durchgeführt hat. Der Kapitalismus hat die Arbeitsteilung dann innerhalb großer Wirtschaftsgebiete durchgesetzt und dadurch die Produktivität der Arbeit wiederum gewaltig vermehrt. Er hat aber auch schon den Grund zu einer internationalen Arbeitsteilung gelegt. Die klassische Nationalökonomie hat dann den Satz theoretisch begründet, dass die Ergiebigkeit der Arbeit in jedem Wirtschaftsgebiete und der Reichtum jedes Wirtschaftsgebietes wächst, wenn die Bewohner jedes Gebietes nur jene Güter produzieren, für deren Erzeugung in ihrem Gebiete günstige Bedingungen gegeben sind, die anderen Güter aber, deren sie bedürfen, gegen ihre Produkte eintauschen. Theoretisch ist dieser Gedanke nicht zu bestreiten. Trotzdem hat die kapitalistische Gesellschaft den freien Warenaustausch, die internationale Arbeitsteilung nicht verwirklicht und wird sie nicht mehr verwirklichen. Denn der Zweck kapitalistischer Wirtschaftspolitik ist nicht die möglichste Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit, sondern die möglichste Vermehrung der Profite; sie sucht diesen Zweck nicht durch jene Verteilung des produktiven Kapitals auf die einzelnen Produktionszweige, die die Arbeit möglichst ergiebig macht, sondern durch die Beschleunigung des Abflusses des totgelegten Kapitals in die Produktionssphäre, durch die fortwährende Ausdehnung der Absatzgebiete und Anlagesphären zu erreichen. Nur dort, wo zufällig die Forderungen der internationalen Arbeitsteilung mit den Forderungen der kapitalistischen Wirtschaftspolitik zusammenfallen – wie dies in England bis vor kurzem der Fall war – wird die Handelsfreiheit in der kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht. In der sozialistischen Gesellschaft dagegen, in der die Produktionsmittel nicht mehr Kapital sind, verliert die kapitalistische Wirtschaftspolitik allen Sinn. Die sozialistische Gesellschaft wird daher jene internationale Arbeitsteilung und die ihr entsprechende Verteilung der Arbeit innerhalb der einzelnen Wirtschaftsgebiete erst verwirklichen können. Freilich wird dies nicht mit einem Schlage geschehen. Wenn ein Staat hinter dem Schutze seiner Zolllinie eine Eisenindustrie gezüchtet hat, statt durch freien Güteraustausch die reicheren Eisenerze anderer Länder zu nutzen, so wird auch die sozialistische Gesellschaft die schon bestehenden Hochöfen und Stahlwerke nicht plötzlich stilllegen können. Aber in jedem Jahre wächst die Zahl der arbeitenden Menschen und wächst der Produktionsapparat der Gesellschaft: die neuen Arbeiter, die neuen Produktionsmittel wird die Gesellschaft stets jenen Produktionszweigen zuwenden, in denen in ihrem Lande günstige Produktionsbedingungen bestehen, und für ihre Erzeugnisse wird sie die Produkte anderer Länder eintauschen. So werden die sozialistischen Gemeinwesen in wenigen Jahrzehnten die von der klassischen Ökonomie geforderte zwischenstaatliche Arbeitsteilung durchführen können.

Dadurch wird erst das größte Hindernis der Durchführung des Nationalitätsprinzips aus dem Wege geräumt. Denn nun wird auch die kleinste Nation eine selbständig organisierte Volkswirtschaft bilden können; während die großen Nationen verschiedenartige Güter produzieren, wird die kleine Nation ihre ganze Arbeitskraft an die Erzeugung einer oder weniger Güterarten wenden und alle anderen Güter im Austausch von den anderen Nationen erwerben; so nutzt sie trotz ihrer Kleinheit alle Vorteile des Großbetriebes. Nun werden auch diejenigen Völker, deren Gebiet die Natur am kargsten mit Bodenschätzen bedacht hat, eine selbständige wirtschaftliche Einheit bilden können; hat doch Ricardo unwiderleglich bewiesen, dass auch das von der Natur mindest begünstigte Wirtschaftsgebiet durch die internationale Arbeitsteilung seine Aufgabe empfängt: es wird jene Güter produzieren, in deren Herstellung die Überlegenheit aller anderen Länder verhältnismäßig am geringsten ist und diese Güter gegen die Erzeugnisse aller anderen Wirtschaftsgebiete eintauschen müssen. So wird durch die internationale Arbeitsteilung die ganze Kulturmenschheit ein großer Organismus; gerade dadurch wird die politische Freiheit und Einheit aller Nationen möglich. In einer Gesellschaft, in der jedes Gemeinwesen autark sein, seine Bedürfnisse selbst decken soll, ist die reine Durchführung des Nationalitätsprinzips unmöglich; den kleinen Nationen, den Nationen, deren Siedlungsgebiet der Produktion minder günstige Bedingungen bietet, bleibt die nationale Freiheit notwendig versagt. Sobald die internationale Arbeitsteilung alle Völker umfasst, fällt dagegen die wichtigste Schranke, die die Anpassung der politischen Einteilung der Menschheit an ihre Gliederung in die historischen Kulturgemeinschaften hemmt.

Auch die Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Arbeit erlangen in der sozialistischen Gesellschaft ganz neuen Charakter. Denn jene Wanderungen der einzelnen, die, von den blind waltenden Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz beherrscht, der Wirksamkeit bewusster Satzung fast völlig entzogen sind, hören dann auf. An ihre Stelle tritt die bewusste Regelung der Wanderungen durch die sozialistischen Gemeinwesen. Sie werden Einwanderer heranziehen, wo die größere Zahl der Arbeitenden die Ergiebigkeit der Arbeit vermehrt; sie werden einen Teil der Bevölkerung zur Auswanderung veranlassen, wo der Boden wachsender Menschenzahl sinkende Erträge spendet. Indem so die Aus- und Einwanderung von der Gesellschaft bewusst geregelt wird, fällt erst in die Hände jeder Nation die Macht über ihre Sprachgrenzen. So werden dann nicht mehr soziale Wanderungen gegen den Willen der Nation das Nationalitätsprinzip immer wieder durchbrechen können.

Es ist kein Zufall, dass an den Sieg des Sozialismus die Verwirklichung des Nationalitätsprinzips geknüpft ist. Im Zeitalter des Sippschaftskommunismus waren die Gemeinwesen – wenigstens ursprünglich – national einheitlich. Selbst dort, wo eine Völkerschaft von einem fremden Volk unterworfen wurde, verlor sie zunächst nicht ihre politische Organisation, sondern wurde nur als Gemeinwesen von dem Gemeinwesen der Sieger abhängig, ihm tributpflichtig. Erst mit der Zersetzung der alten kommunistischen Nation in die engen örtlichen Verbände setzt auch die politische Zerklüftung der Nation ein. Und erst mit der Klassenscheidung, mit der Spaltung in Nationsgenossen und Hintersassen der Nation wird auch die nationale Fremdherrschaft möglich: der Gegensatz der herrschenden und beherrschten, ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen nimmt die Gestalt der Herrschaft der historischen über die geschichtslosen Nationen an. Seit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion in der Gestalt der kapitalistischen Warenproduktion wird der politische Partikularismus zurückgedrängt: das Bedürfnis nach Arbeitsteilung innerhalb großer Wirtschaftsgebiete errichtet auf den Trümmern unzähliger kleiner Staaten den großen Nationalstaat. Durch dieselbe Entwicklung wird aber auch die nationale Fremdherrschaft unerträglich: die geschichtslosen Nationen erwachen zu historischem Leben und streben gleichfalls nach Verwirklichung des Nationalstaates. Endlich streift die gesellschaftliche Produktion ihre kapitalistische Hülle ab: nun erst wird die nationale Kulturgemeinschaft verwirklicht, nun erst schwindet aller Partikularismus innerhalb der Nation und wird alle Herrschaft einer Nation über andere Völker unmöglich; nun erst umfasst die Arbeitsteilung die ganze Menschheit, es steht daher der politischen Gliederung der Menschheit in freie Nationen kein Hindernis mehr entgegen. Die politische Gliederung der Menschheit spiegelt ihr national-kulturelles Sein wieder, das seinerseits durch die Entwicklung der Arbeitsverfahren und Arbeitsverhältnisse bestimmt ist: politischer Partikularismus und Fremdherrschaft sind die politischen Erscheinungsformen eines Zeitalters, das national durch die Spaltung der Nation in Nationsgenossen und Hintersassen der Nation und durch den Zerfall der Nation in enge örtliche Verbände, wirtschaftlich durch den sesshaften Ackerbau, das Sondereigentum an Arbeitsmitteln, die Grundherrschaft gekennzeichnet ist; das Nationalitätsprinzip ist das Staatsbildungsprinzip der einheitlichen und autonomen Nation in einem Zeitalter gesellschaftlicher Produktion. Der Aufbau der großen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert ist nur der Vorbote eines Zeitalters reiner Verwirklichung des Nationalitätsprinzips, wie die Verbreiterung der Kulturgemeinschaft durch den modernen Kapitalismus der Vorbote der Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus, wie die gesellschaftliche Produktion in kapitalistischer Gestalt der Vorbote der genossenschaftlichen Produktion durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft.

So verheißt der Sozialismus allen Nationen die Verwirklichung ihres Verlangens nach politischer Einheit und Freiheit. Das gilt auch von der deutschen Nation. Darum haben die deutschen Arbeiter keinen Teil an dem kindischen Spiel der Alldeutschen, keinen Teil an dem arbeiterfeindlichen Treiben des deutschen Imperialismus. Sie wissen, dass in ihrem Klassenkampfe mit der Kapitalistenklasse auch um die politische Einheit ihres Volkes gekämpft wird. Darum rufen die deutschen Arbeiter, weit entfernt von dem frivolen Treiben alldeutscher Abenteurer, mit der Ruhe voller Siegesgewissheit dem deutschen Volke das Wort des Dichters zu:

Geduld! Es kommt der Tag, da wird gespannt
Ein einig Zelt ob allem deutschen Land!

Aber indem das Nationalitätsprinzip gerade aus dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktion und der internationalen Arbeitsteilung hervorgeht, findet es bald in sich selbst seine Schranke.

Schon in der kapitalistischen Gesellschaft verknüpfen immer engere Verkehrsbeziehungen die verschiedenen Staaten; immer notwendiger wird eine allgemein geltende Regelung dieser Verkehrsbeziehungen, ein Rechtssystem, das über die Grenzen des einzelnen Staates hinaus gilt. Seit die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, die Entstehung der großen modernen Staaten, die Ausdehnung der Macht der europäischen Nationen über die überseeischen Kolonialgebiete die zwischenstaatlichen Verkehrsbeziehungen verdichtet hat, entstand das Völkerrecht. Die Staaten regeln ihre Beziehungen zunächst durch Verträge. Zu den alten Bündnis- und Friedensverträgen kommen Verträge über die Gesetze des Land- und Seekrieges. Allmählich werden auch die wirtschaftlichen Beziehungen durch zwischenstaatliche Verträge geregelt. So entsteht jenes vielfältige System von Verträgen, das die Grundlage des modernen Völkerrechtes ist: Verträge über Binnen- und Seeschifffahrt, über Handelsverkehr und Zölle, über Eisenbahnverkehr, Post- und Telegrafenwesen, über Masse, Münzen und Gewichte. Aber bald greift das Völkerrecht auch über den Kreis unmittelbarer wirtschaftlicher Interessen hinaus. So regeln heute zwischenstaatliche Verträge die Sanitätspolizei, insbesondere den Kampf gegen die Seuchen, den Kampf gegen Mädchenhandel und Sklavenhandel; so sucht man durch Verträge die gleichartige Regelung des Privatrechtes und Prozessrechtes anzubahnen. Aus allen diesen Verträgen hebt sich aber nun eine Reihe heraus, die ein ganz neues Gebilde schafft, das internationale Amt. Wo nämlich durch Verträge die Grundlage gemeinsamer Verwaltungstätigkeit gelegt werden soll, schaffen die Staaten auch ein gemeinsames Organ, ein Amt, das, kraft internationalen Auftrages, die ihm durch die Staatsverträge zugewiesenen Aufgaben dauernd erfüllen soll. Solchen Charakter tragen die internationalen Sanitätskommissionen, die internationalen Kommissionen zur Überwachung der Finanzverwaltung einzelner Staaten, die internationalen Flusskommissionen, denen Rechte eingeräumt wurden, die sonst nur souveränen Staaten zustehen und die daher auch die Staatstheorie als besondere staatliche Gebilde, als „Fluss-Staaten“ zu konstruieren suchte. Weitaus am wichtigsten sind aber unter den internationalen Ämtern die der sogenannten Verwaltungsgemeinschaften. Sie sind seit den Sechzigerjahren entstanden und beruhen auf Verträgen, zu denen der Beitritt grundsätzlich jedem Staate offen steht. Hierher gehören zum Beispiel die Büros des Weltpostvereines, des internationalen Telegrafenvereines, der Staatengemeinschaft zum Schutze des gewerblichen Eigentums, des Staatenverbandes zum Schutze der Werke der Literatur und Kunst, der Staatenvereinigung zur Bekämpfung des Sklavenraubes, das Zentralamt der internationalen Transporte, das Büro der ständigen Zuckerkommission u.s.w. Manchen von diesen Ämtern ist bereits auch richterliche Gewalt eingeräumt, so den Sanitäts- und Flusskommissionen, den Ämtern des Weltpostvereines und der Eisenbahngemeinschaft; daneben besteht seit 1899 der ständige Schiedsgerichtshof im Haag.

So unvollkommen diese einzelnen Gebilde auch sind, es liegt in ihnen doch ein kräftiger Keim neuer sozialer Organismen. Die Verkehrsbeziehungen zwischen den verschiedenen Staaten sind bereits so eng geworden, dass das staatliche Recht und die staatlichen Organe nicht mehr genügen. Die Entwicklung treibt zu einem Rechtssystem, das über den staatlichen Rechten steht und die Staaten selbst bindet, sie schafft Organe, deren Tätigkeit durch keine Staatsgrenze mehr gehemmt wird. Staatsverträge und internationale Ämter befriedigen heute dieses Bedürfnis. Aber sie tragen in sich einen inneren Widerspruch. Die Völkerrechtsgemeinschaft hat Satzungen und Organe, aber sie selbst ist noch nicht als juristische Person konstituiert. Wir haben Satzungen und kennen den Gesamtwillen nicht, der sie setzt und dessen Macht sie sichert; wir haben internationale Organe und kennen die Körperschaft nicht, deren Organ sie sein sollen.

In der sozialistischen Gesellschaft werden die Verträge zwischen den Gemeinwesen und die internationalen Organe zweifellos schnell an Zahl zunehmen. Dazu werden zunächst die wachsenden Verkehrsbeziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinwesen infolge der Durchführung der internationalen Arbeitsteilung zwingen. Die internationale Regelung wird aber auch erst in viel weiterem Umfang möglich und notwendig, sobald die sozialen Vorgänge, die sich heute aus unzähligen Entschließungen und Handlungen einzelner zusammensetzen, von den verschiedenen Gemeinwesen bewusst geregelt werden; so werden zum Beispiel größere Wanderbewegungen nicht anders möglich sein als auf Grund internationaler Verträge. Endlich wird in der sozialistischen Gesellschaft die planmässige Regelung der internationalen Verkehrsbeziehungen auch darum notwendig werden, weil jede getäuschte Erwartung, jede verfehlte Berechnung, die heute den einzelnen Kaufmann, den einzelnen Auswanderer trifft, dann ganz unmittelbar die ganze Gesellschaft treffen würde. Man male sich zum Beispiel die Folgen aus, wenn ein sozialistisches Gemeinwesen sich auf die Produktion eines Gutes einrichtet, das gegen die Erzeugnisse der anderen Nationen eingetauscht werden soll, und sich dann in dieser Erwartung enttäuscht sieht! Die internationale Arbeitsteilung ist unmöglich, wenn Güteraustausch und Verkehr nicht international geleitet und geregelt werden.

So werden schließlich Staatsverträge und Verwaltungsgemeinschaften der Gesellschaft der Zukunft nicht mehr genügen. Es werden ihr die Satzungen nicht genügen, die kein organisierter Gesamtwille sichert, die Organe nicht, die als keiner Person Organ gelten können. Sie wird die Völkerrechtsgemeinschaft schließlich als juristische Person konstituieren, sie mit ständigen Vertretern außtatten müssen. Dies wird wohl an dem Tage geschehen, an dem die nationalen Gemeinwesen ein internationales Amt einsetzen, dem sie die oberste Leitung des Güteraustausches zwischen den Gemeinwesen und dadurch mittelbar auch die oberste Leitung der Produktion jedes Gemeinwesens anvertrauen. Wie die Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion die im Mittelalter vereinzelten Grundherrschaften und Städte verknüpft hat zum modernen Staate, so wird die internationale Arbeitsteilung in der sozialistischen Gesellschaft über den nationalen Gemeinwesen ein neuartiges soziales Gebilde schaffen, einen „Staatenstaat“, dem sich die einzelnen nationalen Gemeinwesen eingliedern. So sind die „Vereinigten Staaten von Europa“ kein Traumgebilde mehr, sondern das unvermeidliche Endziel einer Bewegung, die die Nationen längst angetreten haben und die durch Kräfte, die bereits sichtbar werden, gewaltig beschleunigt werden wird.

Wir haben gesehen, dass der Sozialismus notwendig zur Verwirklichung des Nationalitätsprinzips führt. Aber indem die sozialistische Gesellschaft über den nationalen Gemeinwesen allmählich einen Bundesstaat aufbaut, dem die Gemeinwesen der einzelnen Nationen wieder eingegliedert werden, schlägt das Nationalitätsprinzip in die nationale Autonomie, das Nationalitätsprinzip als Regel der Staatenbildung in das Nationalitätsprinzip als Regel der Staatsverfassung um. Das sozialistische Nationalitätsprinzip ist die höhere Einheit des Nationalitätsprinzips und der nationalen Autonomie.

So vermag das sozialistische Nationalitätsprinzip alle Vorteile sowohl des bürgerlichen Nationalitätsprinzips als auch der nationalen Autonomie zu vereinigen. Indem es die Nation als Gemeinwesen organisiert, gibt es ihr Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, die Verfügung über ihre Arbeitsmittel und über ihren Arbeitsertrag, die Macht der Warten. Indem es aber die Nation einer als Körperschaft konstituierten Völkerrechtsgemeinschaft eingliedert, sichert er es der Nation Macht auch über ihre Gebietsgrenzen hinaus. Nehmen wir beispielsweise an, die sozialistische Gesellschaft könne die Ergiebigkeit der Arbeit in Deutschland steigern, wenn sie die Zahl der Arbeitenden auf dem deutschen Boden vermindert, dagegen die Ergiebigkeit der Arbeit in Südrussland durch Vermehrung der Zahl der Arbeitenden erhöhen. Sie wird dann einen Teil der deutschen Bevölkerung nach Südrussland zu überführen suchen. Aber Deutschland wird seine Söhne und Töchter nicht nach dem Osten schicken, ohne ihnen ihre kulturelle Selbstständigkeit zu sichern. So werden die deutschen Kolonisten nicht vereinzelt, sondern als öffentlich-rechtliche Körperschaft in das Gemeinwesen der Ukraina eintreten. Vereinigen sich erst die nationalen Gebietskörperschaften zu einem internationalen Gemeinwesen, so entstehen durch die planmäßige Kolonisation nun fremdsprachige Personenverbände innerhalb der nationalen Gemeinwesen, Verbände, die in mancher Hinsicht mit der Gebietskörperschaft ihrer Nation, in anderer mit dem Gemeinwesen der fremden Nation, auf deren Boden sie wohnen, rechtlich verbunden sind. So wird die sozialistische Gesellschaft zweifellos ein buntes Bild von nationalen Personenverbänden und Gebietskörperschaften bieten; sie wird von der zentralistisch-atomistischen Verfassung unserer Staaten gleich verschieden sein wie die gleichfalls so mannigfaltig gegliederte Gesellschaft des Mittelalters.

Wir wollen hier kein Phantasiebild der kommenden Gesellschaft entwerfen. Was wir von ihr hier aussagen, folgert nüchterne Beurteilung aus ihrem Wesen. Die Veränderung der Menschen durch die sozialistische Produktionsweise führt notwendig zur Gliederung der Menschheit in nationale Gemeinwesen. Die internationale Arbeitsteilung führt notwendig zur Vereinigung der nationalen Gemeinwesen in einem sozialen Gebilde höherer Ordnung. Alle Nationen zu gemeinsamer Beherrschung der Natur vereinigt, die Gesamtheit aber in nationale Gemeinwesen gegliedert, die zu selbständiger Entwicklung und freiem Genuss ihrer nationalen Kultur berufen sind – das ist das Nationalitätsprinzip des Sozialismus.


Fußnote

1. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Stuttgart 1900, S.105ff., 149ff., 177ff.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008