Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


IV. Die nationale Autonomie


§ 22. Das Personalitätsprinzip


Das reine Personalitätsprinzip will die Nation nicht als Gebietskörperschaft, sondern als reinen Personenverband konstituieren. Gebietskörperschaften wären die öffentlich-rechtlich geregelten nationalen Körperschaften nur insofern, als sie ihre Wirksamkeit natürlich nicht über die Grenzen des Reiches hinaus erstrecken könnten. Innerhalb des Staates aber soll nicht den Deutschen in diesem, den Tschechen in jenem Gebiet die Macht zugeteilt werden, sondern es sollen die Nationen, wo immer sie leben, zu einer Körperschaft zusammengeschlossen werden, die selbständig ihre nationalen Angelegenheiten verwaltet. In derselben Stadt würden sehr oft zwei und mehr Nationen nebeneinander, voneinander ungestört, ihre nationale Selbstverwaltung autbauen, nationale Bildungsanstalten errichten – gerade so wie in einer Stadt Katholiken. Evangelische, .luden nebeneinander selbstständig ihre religiösen Angelegenheiten besorgen.

Das Personalitätsprinzip setzt voraus, dass die Bevölkerung nach Nationalitäten geschieden werde. Nun kann nicht etwa der Staat entscheiden, wer als Deutscher, wer als Tscheche zu gelten habe, vielmehr soll dem mündigen Staatsbürger das Recht gewährt werden, selbst zu bestimmen, zu welcher Nationalität er gehören will. Auf Grund der freien Nationalitätserklärung der mündigen Staatsbürger sollen Nationalkataster angelegt werden, die ein möglichst vollständiges Verzeichnis der mündigen Staatsbürger jeder Nationalität enthalten sollen. Natürlich steht es mit dem Rechte der freien Nationalitätserklärung nicht in Widerspruch, dass durch ein System von Rechtsvermutungen die Nationalitätserklärung jener Staatsbürger ersetzt wird, die die Nationalitätserklärung nicht abgeben können oder wollen.

Im Jahre iqo5 ist der von Synopticus (Dr. Karl Renner) zuerst geforderte Nationalkataster in einem österreichischen Kronland wirklich eingeführt worden. Die neue I.andesordnung und Landtagswahlordnung für Mähren [1] führt nationale Wahlkörper für die Wähler der Städtekurie, der Landgemeindenkurie und der allgemeinen Wählerklasse ein. Die Abgeordneten dieser Kurien werden, wie das Gesetz sich ausdrückt, „in national getrennten Wahlkörpern böhmischer und deutscher Nationalität, für welche je besondere Wahlbezirke gebildet werden, gewählt“. (§ 3 b der Landesordnung.) Indessen beruht dieser Wahlkataster nicht auf der freien Nationalitätserklärung. Die Wählerlisten werden vom Gemeindevorsteher angelegt. Wohl kann jeder Wähler „durch die Erklärung, dass er der anderen Nationalität, als in welcher er in der Liste eingetragen wurde, angehöre, herbeiführen, dass sein Name aus der einen Liste gestrichen und in die von ihm gewünschte andere Liste aufgenommen werde“. (§ 71 Z.7. der Landtagswahlordnung) Aber es kann auch „die Eintragung eines Wählers in eine nationale Liste von einem in derselben Liste eingetragenen Wähler bezüglich der nationalen Zugehörigkeit bestritten werden“. In diesem Falle „liegt dem Gemeindevorsteher ob, das Begehren zu prüfen und für den Fall, als ihm dasselbe begründet erscheint, selbst die Richtigstellung vorzunehmen“. (§ 71. Z.9 und 10, der Landtagswahlordnung) Hier soll also der Gemeindevorsteher nach irgendwelchen objektiven Kriterien über die nationale Zugehörigkeit der Wähler entscheiden!

Der mährische Wahlkataster kann auch darum kein Vorbild sein, weil keine Vorsorge getroffen wurde, dass die Freiheit der Nationalitätserklärung wirklich gewahrt werde. Soll der Nationalkataster Grundlage der nationalen Selbstbestimmung werden, so ist es unvermeidlich, die freie Nationalitätserklärung durch ein System von Strafandrohungen gegen den Einfluss der politisch und wirtschaftlich Mächtigen zu schützen.

Der mährische Nationalkataster kann ferner wegen seines Zweckes mit dem Nationalkataster als Grundlage der nationalen Autonomie nicht verglichen werden. Denn die Nationalitätserklärung hat heute in Mähren keine andere Rechtswirkung als das Wahlrecht in dem betreffenden Wahlkörper; an der zentralistisch-atomistischen Nationalitätenverfassung wird hierdurch nichts geändert. Hier besteht daher die Gefahr, dass die Nation einen Teil ihrer Wähler in die Liste der anderen Nation eintragen lässt, um die Wahl im Wahlkörper der anderen Nation zu beeinflussen; wäre der Nationalkataster Grundlage der nationalen Autonomie, so wäre dies unmöglich; denn die Nationalitätserklärung hätte dann empfindliche Rechtswirkungen: wer in den deutschen Kataster eingetragen ist, ist der deutschen Nation steuerpflichtig und kann nur von der deutschen Nation die Aufnahme seiner Kinder in die öffentlichen Schulen, nur von der deutschen Nation Rechtshilfe bei Ämtern und Gerichten, die sich der tschechischen Sprache bedienen, verlangen. Die Teilung der Wähler in nationale Wahlkörper bei Fortdauer der zentralistisch-atomistischen Regelung der nationalen Verhältnisse ist aber, selbst abgesehen von der Gefahr des Missbrauches, eine gänzlich verfehlte Anwendung des Personalitätsprinzips: sie beseitigt nicht den Machtkampf der Nationen, sondern verteilt nur die Stellungen in diesem Kampfe ungleich. Die Zahl der Abgeordneten jeder Nation wird ein für allemal bestimmt; jede Veränderung im Zahlenverhältnis der Nationen muss den Wunsch nach neuer Verteilung der Mandate erwecken und dadurch den Kampf um die Macht im Lande immer von neuem herbeiführen. Wir fordern den Nationalkataster als Grundlage der nationalen Selbstverwaltung, nicht als Wählerliste für Reichsrats- und Landtagswahlen. Nicht nationale Wahlkörper, sondern das Proportionalwahlrecht erscheint uns als zweckmäßiges Mittel, um bei den Wahlen für die Vertretungskörper der internationalen Gebietskörperschaften, (Reich. Land. Bezirk. Gemeinde) zu verhindern, dass die Minderheit ohne Vertretung bleibe. Bei alledem war noch gar nicht davon die Rede, dass das Personalitätsprinzip hier schon darum verzerrt erscheint, weil es auf das Privilegienwahlrecht künstlich aufgepfropft wurde; zählt doch der mährische Landtag nur 20 Abgeordnete der allgemeinen Wählerklasse neben 129 Vertretern der privilegierten Kurien! Trotz alledem ist dieser erste Versuch der Gesetzgebung, die neue Regelung des öffentlichen Rechtes der Nationen auf das Personalitätsprinzip zu stützen, zweifellos ein verheißungsvoller Anfang, ein deutliches Zeichen, dass die Überzeugung sich durchringt, dass die nationalen Verhältnisse in Österreich auf Grund des rein territorialen Prinzips nicht geregelt werden können – der erste Sieg eines Prinzips.

Haben wir erst den Nationalkataster, so ist die Grundlage der nationalen Autonomie geschaffen. Wir brauchen dann nur die Zugehörigen einer Nation in der Gemeinde, im Bezirk oder Kreis, im Kronland, schließlich im ganzen Reiche zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu machen, die die Aufgabe hat, für die Kulturbedürfnisse der Nation zu sorgen, für sie Schulen, Büchereien, Theater, Museen, Volksbildungsanstalten zu errichten, den Nationsgenossen bei den Behörden Rechtshilfe zu gewähren, soweit sie dieser bedürfen, weil sie der Amts- und Gerichtssprache nicht mächtig sind, und der dafür das Recht eingeräumt wird, sich die Mittel, deren sie bedarf, durch Besteuerung der Nationsgenossen zu verschaffen. Auf diese Weise wäre die nationale Autonomie auf Grund des reinen Personalitätsprinzips gegründet, jede Nation hätte die Macht, aus eigenen Mitteln für die nationale Kulturentwicklung zu sora;en; keine Nation müsste darum mehr den Kampf um die Macht im Staate führen. Das Personalitätsprinzip wäre das vollkommenste Mittel nationaler Verteidigung: soweit die nationalen Minderheiten überhaupt durch Rechtseinrichtungen gesichert werden können, wären sie gesichert. Dagegen schließt das Personalitätsprinzip jede nationale Unterdrückung von Rechts wegen aus. Wohl würden auch unter seiner Herrschaft die Nationen ihre Anziehungskraft auf die Zugehörigen der anderen Völker üben. Die Nationen, deren Kulturentwicklung reicher ist, würden auch weiter den minder entwickelten Völkern manchen Aufwärtsstrebenden abgewinnen. Die nationalen Mehrheiten der einzelnen Gebiete würden einen Teil der nationalen Minderheiten immer aufsaugen, durch Wechselheiraten, durch das enge Band des wirtschaftlichen und geselligen Verkehrs immer wieder einen beträchtlichen Teil der nationalen Minderheit ihrer Kulturgemeinschaft gewinnen. Aber alle diese nationalen Eroberungen würden nur durch die soziale Macht der einzelnen Nationen, durch die Anziehungskraft ihrer Kultur und das natürliche Gewicht des größeren Körpers bewirkt werden, aber nicht durch ein gesetzliches Vorrecht. An die Stelle gewaltsamer Eroberung würde friedlicher Wettbewerb treten.

Denken wir uns aber das Personalitätsprinzip rein durchgeführt, die Nationen als Personenverbände gänzlich außerhalb der staatlichen Verwaltung organisiert, wie das bei den Religionsgemeinschaften der Fall ist („Die freie Nation im freien Staat“) so löst doch auch dieses Prinzip seine Aufgabe nur unvollkommen. Darauf gründet sich wohl das mehr instinktive als seiner Gründe klar bewusste Misstrauen, das auch viele grundsätzliche Anhänger der nationalen Selbstbestimmung dem Personalitätsprinzip entgegenbringen. Man ahnt: der Staat sichert den Nationen die Macht, deren sie bedürfen, durch seinen Rechtssatz; aber was sichert die Nationen gegen den Staat?

Die Nationen sollen ihr Recht auf die Macht des Staates stützen; aber wer leistet ihnen Gewähr, dass der Staat ihnen seinen starken Arm auch wirklich immer borgt? Dass er nicht eines Tages, auf seine Machtmittel gestützt, das Stück Papier, das den Nationen ihre Rechte verbrieft, zerreißen wird? Muss die Nation nicht selbst im Besitz staatlicher Machtmittel sein, muss sie, wenn sie nicht selbständiger Staat werden kann, nicht wenigstens Teilstaat im Bundesstaate sein, um die Macht, deren sie bedarf, sich dauernd zu sichern?

Es gibt, wie mir scheint, noch einen Ausweg, der die Vorteile des reinen Personalitätsprinzips mit vollster Sicherheit der nationalen Rechte vereint. Diesen Ausweg hat Rudolf Springers Schrift über den Kampf der österreichischen Nationen um den Staat – das weitaus Wertvollste, was über die österreichische Nationalitätenfrage überhaupt ersonnen worden ist – den Völkern Österreichs gewiesen. Wir können die Nationen sichern, ohne die Vorteile des Personalitätsprinzips preiszugeben, wenn wir in ihre Hand die öffentliche Verwaltung legen.

Die Verwaltung ist die lebendige Wirklichkeit des Staates. Ohne die Verwaltung kann der moderne Staat nicht bestehen, kann er seine Soldaten nicht ausheben, seine Steuern nicht eintreiben. Die organische Regelung der nationalen Verhältnisse macht die Nationen abhängig von den Machtmitteln des Staates, auf dessen Macht ihre rechtliche Selbstständigkeit ruht. Legt aber der Staat die Verwaltung in die Hand der Nationen, so wird auch er von den Nationen abhängig. Der Staat sichert den Nationen ihre nationalen Rechte; und diese Rechte blieben ihnen dauernd gewährleistet, können nicht mehr zurückgenommen werden, denn wenn der Staat die nationale Selbstverwaltung zerstört, zerstört er seine eigene Verwaltung, vernichtet er sich selbst. Die bürokratische Verwaltung kann die Frage, wie die Macht der Nation gegen den Staat gesichert werden soll, wenn sie auf der Macht des Staates beruht, nicht lösen; die demokratische Selbstverwaltung löst sie von selbst.

Das System Springers ist nicht die reine Durchführung des Personalitätsprinzips. Dieses ist ohne weiteres durchführbar bei der rechtlichen Regelung der Religionsgemeinschaften; aber die nationale Kulturgemeinschaft erfasst den modernen Menschen ganz unvergleichlich stärker als das Band der Religion. Die Religionsgemeinschaften erschienen darum den Staatsbürgern hinreichend gesichert, wenn ihnen ganz abseits von der öffentlichen Verwaltung die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten gewährt wurde. Diese Gewähr genügt für die nationalen Verbände nicht. Sie bedürfen der Selbstverwaltung; aber nur wenn auf dieser Selbstverwaltung zugleich die öffentliche Verwaltung ruht, sind die Nationen gegen den Staat gesichert, stützt sich die staatliche Macht gerade so fest auf die Macht der Nationen wie die Macht der Nationen auf die Machtmittel des Staates.

Springer entwirft von einer solchen Regelung der nationalen Verhältnisse folgendes Bild. Die Grundlage der öffentlichen Verwaltung wird die Selbstverwaltung im Kreise. Diese Kreise sind, soweit.es die Bedürfnisse der öffentlichen Verwaltung und die Interessen der Bevölkerung gestatten, national abzugrenzen. Die Selbstverwaltung im Kreise wird die wichtigsten Aufgaben, die heute teils der bürokratischen Verwaltung – Statthalterei, Bezirkshauptmannschaft – teils der autonomen Verwaltung – Gemeinde, Bezirksvertretung, Landesausschuss – obliegen, übernehmen können. Dieser Selbstverwaltungskörper, dessen Organ der Kreisrat ist, wird aber zugleich die nationalen Bedürfnisse seiner Bewohner erfüllen: wird für die Volks- und Mittelschulen, Waisenhäuser und humanitäre Anstalten, Theater und Volksbildungsanstalten sorgen. Innerhalb des Kreises bilden Bezirk und Gemeinde engere Verbände, die, gleichfalls autonom, durch die Gemeinde- und Bezirksräte verwaltet werden.

In vielen Fällen werden freilich die Kreise nicht national einheitlich sein können. In diesen Fällen bildet die Bevölkerung im Kreise einen Selbstverwaltungskörper für die öffentliche Verwaltung, dessen Organ der Kreisrat ist. Gleichzeitig aber wird die Bevölkerung auf Grund des nationalen Katasters, also nach dem Personalitätsprinzip, in zwei nationale Selbstverwaltungskörper geteilt, die für die nationalen Kulturaufgaben im Kreise selbstständig sorgen und zu diesem Zwecke ihre Nationsgenossen besteuern. Das Organ dieser nationalen Selbstverwaltungskörper sind die Kreisvertretungen.

Im einsprachigen Kreise Eger würde also der Kreisrat alle Aufgaben der ötfentlichen Verwaltung wie der nationalen Verwaltung besorgen. Im Doppelkreise Budweis dagegen würde der Kreisrat nur die national indifferenten Verwaltungsaufgaben besorgen, während die nationalen Kulturaufgaben von einer deutschen und von einer tschechischen Kreisvertretung besorgt würden. Die Bevölkerung würde durch den Nationalkataster im ganzen Kreise in einen deutschen und in einen tschechischen Personenverband geteilt. Der deutsche Personenverband würde durch die aus seiner Mitte gewählte Kreisvertretung seine Angelegenheiten selbst verwalten, sein Schulwesen selbständig ausbauen, die Mittel durch Besteuerung seiner Volksgenossen aufbringen. Dasselbe Recht hätte natürlich der tschechische Personenverband im Kreise.

In den national einheitlichen Kreisen werden freilich immer noch nationale Minderheiten bestehen, deren Zahl aber’ nicht zureicht, eine selbständige nationale Kreisverwaltung zu begründen. Auch diese können, sobald sie es wollen, autonome Körperschaften auf Grund des nationalen Katasters bilden, die Springer mit einem dem österreichischen Verwaltungsrechte geläufigen Ausdruck als Konkurrenzen bezeichnet. Im Kreise Eger würde also zwar die Verwaltung einheitlich durch den deutschen Kreisrat besorgt werden. Aber die tschechischen Minderheiten können, wenn sie wollen, nationale Verbände bilden: Gemeinde-, Bezirks- und Kreiskonkurrenzen. Diese Konkurrenzen hätten nur zwei Aufgaben. Sie würden zunächst ihren Volksgenossen unentgeltliche Rechtshilfe gewähren, deren sie, sofern sie der deutschen Sprache nicht mächtig sind, vor den deutschen Behörden bedürfen. Sie würden zweitens aus eigenen Mitteln Volksschulen für ihre Volksgenossen erhalten und hätten zu diesem Zwecke das Recht, von allen, die sich in den tschechischen Kataster haben eintragen lassen, Steuern einzuheben. Der Staat setzt für die Bildung solcher Konkurrenzen keine Grenze. Sobald eine Minderheit willens ist, aus eigener Kraft für Rechtsschutz und eigene Volksschulen zu sorgen, hat sie das Recht hierzu. Die Kreiskonkurrenz wird zur Kreisvertretung, der einheitliche Kreis daher zum Doppelkreis, sobald die nationale Minderheit nicht nur für Rechtsschutz und Volksschulen zu sorgen, sondern auch wenigstens eine Mittelschule und die notwendigen humanitären Anstalten (Waisenhäuser und dergleichen) aus eigener Kraft zu erhalten vermag.

Die Kreise würden nun in doppelter Weise zueinander in Beziehung treten. Zunächst würden die Kreise für die Besorgung gewisser, national indifferenter Angelegenheiten territoriale Verbände bilden, zum Beispiel würden alle Kreise Böhmens ohne Unterschied der Nationalität ihrer Bewohner das Land Böhmen bilden und gewisse territoriale Angelegenheiten gemeinsam besorgen. Andererseits aber würden alle national einheitlichen Kreise sowie die nationalen Selbstverwaltungskörper in den Doppelkreisen die rechtliche Gesamtnation bilden. Alle Deutschen in den national einheitlichen Kreisen, ferner alle im nationalen Kataster eingetragenen Deutschen in den Doppelkreisen bilden die deutsche Nation und wählen den Nationalrat. Dieser Nationalrat verwaltet selbständig die nationalen Angelegenheiten der Deutschen, gründet Hochschulen, Museen u.s.w. und hat auch das Recht, den Deutschen in den national einheitlichen und in den Doppelkreisen Steuern aufzuerlegen. In den national einheitlichen Kreisen hat der Nationalrat das Recht, solche nationale Anstalten zu gründen, ohne dass darauf irgend eine andere Nation Einfluss hätte: in den Doppelkreisen dagegen nicht ohne Zustimmung des Nationalrates der anderen Nation.

Die nationalen Fragen, die die großen Massen und nicht nur ein paar Beamte angehen, sind damit gelöst. Vor allem die Seh ulfrage. Im einsprachigen Kreise sorgen Gemeinderat, Bezirksrat. Kreisrat für Volks- und Mittelschulen. Im Doppelkreise baut sich jede Nation, deren Organe die Gemeinde-, Bezirks- und Kreisvertretung sind, ihr Schulwesen selbständig aus. während dem das ganze Gebiet verwaltenden Gemeinderat, Bezirksrat, Kreisrat der Einfluss auf das Schulwesen entzogen ist. Für die Hochschulen der Nation sorgt der Nationalrat. Die Minderheiten in den fremden Siedlungsgebieten bilden nationale Konkurrenzen und erhalten sich ihr Schulwesen aus eigenen Mitteln. [2] Ebenso ist die Sprachenfrage damit gelöst. Die Amtssprache ist in den einheitlichen Kreisen die Sprache der Mehrheit. Die Minderheiten sind dadurch nicht benachteiligt, da ihnen die nationale Gemeinde-, Bezirks- oder Kreiskonkurrenz Rechtshilfe gewährt, die dafür sorgt, dass den Volksgenossen aus der Unkenntnis der Amtssprache kein Schaden erwachse. In den Doppelkreisen führt jede Nation ihre Verwaltung in eigener Sprache; nur für die Verwaltung der national indifferenten, dem ganzen Gebiete gemeinsamen Angelegenheiten der Doppelkreise gilt der lästige Zwang der Doppelsprachigkeit. Da aber doppelsprachige Kreise nur dort gebildet werden, wo die Verkehrsbeziehungen der Nationen die nationale Abgrenzung unmöglich machen, wird die rechtliche Doppelsprachigkeit stets nur dort eintreten, wo der soziale Verkehr auch ohne sie tatsächliche Doppelsprachigkeit erzwingt.

Diese von Springer entworfene Verfassung macht dem Machtkampf der Nationen erst völlig ein Ende, da sie auch den nationalen Minderheiten die rechtliche Macht gibt, ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen. Den Aufmarsch der Klassen hemmt nun kein nationaler Streit mehr. Im Kreisrate des einheitlichen Kreises, in den Kreisvertretungen des Doppelkreises stehen sich nur die Klassen einer Nation gegenüber. Hier kämpft nicht eine Nation gegen die andere, sondern hier wird die Arbeiterklasse ihre Ansprüche gegen die eigene Nation geltend machen, von der eigenen Nation wachsenden Anteil an der nationalen Kultur verlangen. Im Kreisrate des Doppelkreises und in der Volksvertretung des Gesamtstaates treffen sich wohl die verschiedenen Nationen; aber diesen Körperschaften ist die Entscheidung nationaler Angelegenheiten entzogen, sie können den Nationen nichts geben und nichts nehmen, auch hier wird sich die Bevölkerung nach Klassen, nicht nach Nationen gliedern. Auch hier ist für den Kampf der Klassen freies Feld.

Das Recht der Nationen gegen den Staat wird auf die demokratische Verwaltung, die Selbstverwaltung im Kreise gestützt. Die demokratische Verwaltung ist eine der wichtigsten Forderungen der Arbeiterklasse. Was die Arbeiterklasse um ihrer Interessen willen fordert, wird so zum Bedürfnis der Nationen. Heute gefährdet der Streit der Nationen jede demokratische Reform, da die Nationen die Verschiebung der Machtverhältnisse fürchten; in der Verfassung, die Springer entwirft, wird gerade die Demokratie die sichere Grundlage der Macht aller Nationen. So wird die Wucht des nationalen Wollens, die heute die demokratische Entwicklung hemmt, in der neuen Verfassung der Demokratie dienstbar werden.

Die Doppelverwaltung in den gemischten Kreisen und die Konkurrenzen der Minderheiten im geschlossenen Sprachgebiet sichern auch den Minderheiten ihr Recht vor den öffentlichen Ämtern und die nationale Schule. So genügt diese Verfassung den Bedürfnissen der Arbeiter, die ihr Recht und eine Schule für ihre Kinder finden wollen, wohin immer die Not der Arbeitsuche sie jagt. Wenn der Kapitalismus den Arbeitern die Heimat geraubt hat, so kann er ihnen doch nimmermehr ihre Sprache und Gesittung nehmen. Aber auch den Arbeitern, die auf dem Boden ihrer Nation ihre Arbeitsstelle finden, ist damit genug getan; wenn dem fremden Einwanderer das Recht nicht Schule und Hilfe versagt, wenn es seine Würde nicht ertötet und ihn nicht zu roher Unwissenheit verdammt, so brauchen die Arbeiter den einwandernden Klassengenossen nicht mehr als Lohndrücker und Streikbrecher zu fürchten, so werden die einwandernden Arbeiter widerstandsfähig sein gegen das Gift des nationalen Hasses, das die gemeinsamen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zersetzt und die Arbeiter unfähig macht, Schulter an Schulter den gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Gegner zu führen. Endlich genügt diese Verfassung auch dem ideologischen Bedürfnis der Arbeiterklasse, der es unerträglich ist, dass der Arbeiter mit seiner Arbeitskraft auch seine Seele verkaufen, seine kulturelle Sonderart dem Unternehmer preisgeben soll, die fordert, dass jeder, der durch seine Arbeit die Bedingungen für alle Kultur schafft, auch ein Recht auf die Güter der Kultur, ein Recht auf seine Kultur, auf die Gesittung seiner nationalen Gemeinschaft hat.

So ist Springers Idee der Verfassung eines Nationalitätenstaates, die die nationale Selbstverwaltung auf die demokratische Staatsverwaltung gründet und den nationalen Minderheiten mittels des Personalitätsprinzips ihre nationalen Rechte sichert, die vollkommenste Gestalt der nationalen Autonomie, die allein die kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse völlig zu befriedigen vermag. Indem diese Verfassung die rechtlichen und psychologischen Bedingungen für den gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiter aller Nationen schafft, dient sie der evolutionistisch-nationalen Politik der Arbeiterklasse, ist sie ein Mittel zu dem großen Zwecke, die nationale Kultur zum Besitztum des ganzen Volkes, das ganze Volk zur Nation zu machen.


Man hat, soviel mir bekannt ist. nur einen Einwand gegen die nationale Autonomie vorgebracht, der auch diese Verfassung treffen würde. In seinen Anmerkungen zur böhmischen Politik beschäftigt sich nämlich Kramár [3] mit dem Vorschlag, den einzelnen Nationen die Steuerhoheit und die Verfügung über die Steuern ihrer Nationsgenossen zu gewähren. Kramár, der noch immer Anhänger des Kronländerföderalismus. also einer bestimmten Form der atomistisch-zentralistischen Regelung der nationalen Verhältnisse ist, hält die nationale Teilung der Steuereinkünfte für unnötig. Wenn man sie aber trotzdem vornehmen wollte, so dürfe dies nur nach dem Territorialprinzip, nicht nach dem Personalitätsprinzip geschehen. Denn die Teilung der Steuergelder nicht nach der Nationalität des Gebietes, sondern nach der Nationalität des Steuerzahlers würde zu bedenklichen Folgen führen. Was soll zum Beispiel, so fragt er, mit den Steuern einer Eisenbahn geschehen, die ein tschechisches Gebiet durchquert, aber deutschen Kapitalisten gehört und von Deutschen verwaltet wird? Sollen diese Steuergelder wirklich der deutschen Nation zufallen, obwohl doch die Gesellschaft, die diese Steuern entrichtet, nur der Zahler, nicht der wirkliche Träger dieser Steuern ist? Noch mehr. Ist es billig, dass der deutsche Fabrikant im tschechischen Sprachgebiete, der tschechische Arbeiter ausbeutet, von seinem Mehrwert nur der deutschen Nation Steuer zahlt? Wird dann dort, wo die tschechische Nation fast ausschließlich aus Arbeitern besteht, während der Mehrwert in deutsche Hände fällt, für die kulturellen Bedürfnisse der Tschechen überhaupt gesorgt werden können? Und welche Wirkung für den Haushalt der betroffenen tschechischen Gemeinden wird es haben, wenn zufällig eine Fabrik aus dem Besitz eines tschechischen in den eines deutschen Kapitalisten übergeht und für die tschechischen Gemeinden daher plötzlich die Steuereinkünfte aus dem Unternehmen entfallen, mögen seine Arbeiter auch durchwegs Tschechen sein?

Diesen Erwägungen ist zunächst entgegenzuhalten, dass Kramár offenbar eine sehr unvollkommene und in der Tat unannehmbare Gestalt der nationalen Autonomie im Auge hat. Er denkt offenbar daran, dass unser Steuersystem unverändert beibehalten wird und unsere Ertragsteuern oder doch Zuschläge zu diesen den nationalen Selbstverwaltungskörpern zugewiesen werden. Eine solche Regelung ist es aber nicht, die wir im Auge haben. Im Nationalkataster finden wir keine Unternehmungen, keine Grundstücke und keine Fabriken, keine Eisenbahnen und keine Banken, sondern nur Personen. Die organisierten Nationen werden daher nicht die Unternehmungen, sondern die Personen besteuern, die nationalen Steuern werden nicht Ertragsteuern, nicht Grundsteuern und Erwerbsteuern, sondern Einkommensteuern sein. Die Eisenbahn, die Bank als solche, die Aktiengesellschaft oder die Handelsgesellschaft wird keine Steuern an die Nationen zahlen; sondern die Kapitalisten, welchen schließlich der Ertrag der Unternehmungen als persönliches Einkommen zufließt, werden diese Einkommen versteuern. Indessen bleibt die Hauptschwierigkeit noch immer bestehen. Die Tatsache der Ausbeutung hat eben auch nationale Bedeutung: wo tschechische Arbeiter einem deutschen Unternehmer Mehrwert schaffen, würde die tschechische Nation diesen Mehrwert nicht besteuern können und auf die unbeträchtliche Steuerleistung der Arbeiter angewiesen sein.

Diese Gefahr muss die Arbeiterklasse wohl berücksichtigen. Sie muss es nicht nur darum, weil sie, jeder Ausbeutung feind, auch diese nationale Ausbeutung bekämpfen muss, sondern auch deshalb, weil eine solche Regelung unzweifelhaft zur Folge hätte, dass der Steuerdruck für die Arbeiter wachsen müsste und ihre kulturellen Bedürfnisse trotzdem nur ungenügend befriedigt werden könnten. Wenn die deutschen Textilfabrikanten in Königinhof, Nachod, Eipel, Hofic u.s.w. an die deutschen Kreiskonkurrenzen Steuern zahlen würden, dagegen der tschechische Kreisrat kein Recht hätte, sie zu besteuern, so würden die tschechischen Arbeiterkinder dieser Städte kaum genügenden Schulunterricht empfangen können. Indessen lässt sich diese Schwierigkeit unschwer überwinden. Man könnte dies in verschiedener Weise versuchen. So wäre es beispielsweise möglich, dass die nationalen Selbstverwaltungskörper neben dem Rechte, Einkommensteuern von ihren Volksgenossen zu erheben, auch einen Anspruch auf einen Teil der Ertragsteuern erhielten, die von den im Gebiete des Selbstverwaltungskörpers liegenden Grundstücken und Unternehmungen gezahlt werden. Die Zuschläge zur staatlichen Ertragssteuer würden von den Organen des Kreisrates eingehoben (oder von den staatlichen Steuerorganen den Kreisräten zugewiesen) und auf die einzelnen Nationen im Kreise (die Kreisvertretungen im Doppelkreise, Kreisrat und Kreiskonkurrenz im geschlossenen Sprachgebiet) nach einem bestimmten Schlüssel verteilt werden. Als geeigneter Schlüssel erscheint mir – nach dem Hauptzwecke dieser Steuern – die Anzahl der Schulkinder in den Schulen jeder Nation in dem betreffenden Verwaltungssprengel. Der der österreichischen Gesetzgebung nicht neue Gedanke, dass der Fabrikant Schulen für seine Arbeiter erhalten muss (Fabrikschulen!) wäre so auf moderner Grundlage erneuert.

Freilich bleibt auch hier noch eine Schwierigkeit bestehen, wenn man die Höhe dieser Zuschläge der Bestimmung des Kreisrates überlässt. So hätte beispielsweise im tschechischen Gebiete der Kreisrat. in dem ja die Tschechen die Mehrheit bilden werden, ein Interesse daran, diese Ertragsteuern möglichst hoch festzustellen: denn der größte Teil dieser Ertragsteuern wird der tschechischen Nation zufallen, je höher die Ertragsteuern sind, desto niedriger werden die Einkommensteuern, mit denen die tschechischen Nationsgenossen belastet werden, sein können. Umgekehrt könnte ein deutscher Kreisrat im deutschen Sprachgebiet, das eine tschechische Minderheit einschließt, die Steuern möglichst niedrig festsetzen: denn die Steuerkraft der deutschen Kapitalisten ginge der Nation dadurch nicht verloren, da sie ihr ja auch Einkommensteuern bezahlen müssen, dagegen wird, wenn die Zuschläge zu den Ertragsteuern niedrig sind, auch der Anteil der tschechischen Kreiskonkurrenz nur klein sein, und sie wird daher, wo sie aus wenig steuerkräftigen Arbeitern besteht, dann nur geringe Mittel für die tschechischen Schulen zur Verfügung haben. So könnte die Steuerpolitik der Kreisräte zum Gegenstand nationalen Streites werden. Auch würde dies starke Verschiedenheit der Produktionskosten bewirken – als Produktionskosten erscheinen der kapitalistischen Unternehmung die Ertragsteuern, nicht die Einkommensteuern – und nicht unbedenkliche wirtschaftliche Verschiebungen zur Folge haben. Aber auch gegen solche Missbräuche sind Mittel unschwer zu finden. Am einfachsten wäre es wohl, wenn ein bestimmtes Verhältnis der Höhe der Ertragsteuerzuschläge zur Höhe der nationalen Einkommensteuern reichsgesetzlich festgestellt würde. Mit jeder Veränderung des perzentuellen Zuschlages zu den staatlichen Ertragsteuern würden auch die nationalen Einkommensteuern im Kreise automatisch steigen oder sinken.

Freilich bleibt darum die Überlegenheit der Nationen, denen die besitzenden Klassen überwiegend angehören, noch immer erhalten. Wenn auch die Ertragsteuern der Unternehmungen auf die Nationen je nach der Zahl ihrer Schulkinder verteilt werden, so verbleiben den Nationen, denen die großen Grundbesitzer und die Kapitalisten zugehören, doch die höheren Einkommensteuern dieser Klassen. So werden die Deutschen mehr Mittel zur Verfügung haben – und daher entweder ihr Schulwesen besser ausbauen oder die Steuerkraft ihrer Volksgenossen mehr schonen können – als die Tschechen und Slovenen, die Italiener mehr als die Südslaven, die Polen mehr als die Ruthenen. Kein Zweifel, dass auch unter der Herrschaft der nationalen Autonomie in ihrer vollendetsten Gestalt die alten historischen Nationen eine gewisse Überlegenheit sich noch bewahren werden; kein Zweifel, dass sie durch den glänzenden Ausbau ihrer kulturellen Anstalten, durch die geringere Steuerlast ihrer Volksgenossen auch unter dieser Verfassung eine starke Anziehungskraft auf die Zugehörigen der anderen Völker ausüben werden, und daher auf friedlichem Wege nationale Eroberungen machen können. In dieser letzten Gestalt wird die alte geschichtliche Tatsache, dass in diesem Lande dienende und ausgebeutete geschichtslose Nationen unter herrschenden und ausbeutenden historischen Nationen saßen, immer noch wirksam bleiben. Aber diese Tatsache ist keine Eigentümlichkeit der nationalen Autonomie, sondern sie kann in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt nicht aufgehoben werden, sie kann nicht beseitigt werden, solange noch ein tschechischer Arbeiter für einen deutschen Fabrikanten, ein slovenischer Arbeiter für einen deutschen Grundbesitzer, ein ruthenischer Bauer für einen polnischen Gutsherrn Mehrwert schafft. Die nationale Ausbeutung kann erst fallen, wenn alle Ausbeutung fällt, wenn die Arbeitsmittel in das Eigentum der Gesellschaft überführt werden; dann erst werden die Nationen über den vollen Arbeitsertrag ihrer Volksgenossen verfügen.


Fußnoten

1. Gesetz vom 27. November 1905, Nr.1 und Nr.2, L.-G.-B. ex 1906.

2. Die Einrichtung der Minoritätsschulen ist ein besonderes Problem. Die Minderheiten werden zweifellos selbst verlangen, dass ihre Kinder in den Schulen auch die Sprache der Mehrheit vollkommen beherrschen lernen.

3. Kramář, Anmerkungen zur böhmischen Politik, Wien 1906. S.122f.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008