MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die Nationalitätenfrage
Der allerursprünglichste, selbstverständlichste Trieb der Arbeiterklasse ist ihr revolutionärer Instinkt.
Der revolutionären Stimmung des jungen erwachenden Proletariats entspringt auch seine Stellung zur Nation. Darum ist der Arbeiter dort national, wo die Nation sich gegen ihre Unterdrücker wendet, wo die Großen und Mächtigen unserer Gesellschaft die Gegner im nationalen Kampfe sind, wo der Umsturz des Bestehenden das Ziel nationaler Politik ist. Darum steht die Arbeiterschaft an der Spitze des nationalen Kampfes aller vom Zarismus geknechteten Nationen; darum verfechten in Preußen die polnischen Sozialisten auch die Interessen der vom preußischen Klassenstaat unterdrückten polnischen Nation; darum kämpft die Arbeiterschaft in Ungarn für die nationalen Interessen der Deutschen und Slovaken, der Rumänen und Serben. Aus demselben Grunde war auch die Arbeiterschaft der geschichtslosen Nationen in Österreich national: deutsch erschien ihr der Staat, der sie knechtete, deutsch die Gerichte, die die Besitzenden schützen und die Besitzlosen in den Kerker werfen, in deutscher Sprache war jedes Bluturteil verfasst, in deutscher Sprache die Armee kommandiert, die man bei jedem Streik gegen die hungernden wehrlosen Arbeiter schickte. Die deutsche Sprache war, wie Viktor Adler einmal sagte, die „Staats-, Amts- und Unterdrückungssprache“ des alten Österreich. Mehr noch! Die deutsche Sprache war auch die Sprache des unmittelbaren Klassengegners, die Sprache des Fabrikanten und seines Antreibers, des Händlers und des Wucherers. Dagegen erschien die nationale Bewegung der eigenen Nation revolutionär: war doch die Nation ausgeschlossen von der politischen Macht; war doch auch sie unzufrieden mit der geltenden Verfassung; wurden doch auch die Zeitungen der nationalen Parteien konfisziert und ihre Vorkämpfer eingekerkert; stand doch auch das Kleinbürgertum der Nation im Kampfe gegen die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie. Der revolutionäre Instinkt erweckte in der Arbeiterschaft der geschichtslosen Nationen Hass gegen die herrschenden historischen Nationen, Zuneigung zur nationalen Machtpolitik der eigenen Nation. Die nationale Gesinnung der Arbeiterschaft der geschichtslosen Nationen auf der ersten Stufe ihrer Entwicklung war nicht überlegt, reflektiert, sondern aus Zuneigung und Hass geboren, unreflektiert, naiv. Die erste Stellung der Arbeiterschaft dieser Nationen zur nationalen Frage war ein naiver Nationalismus.
Auch bei den historischen Nationen in Österreich, mit Ausnahme der deutschen, trieb der revolutionäre Instinkt zu diesem naiven Nationalismus. Die nationale Bewegung der Polen, der Ungarn, der Italiener war revolutionär, der bestehenden Staatsordnung feindlich. Was wunder, dass sie der revolutionären Arbeiterschaft sympathisch war?
Ganz anders bei den national gesättigten Nationen außerhalb Österreichs und in Österreich selbst bei den Deutschen. Hier stand das Proletariat nicht national fremden Klassengegnern gegenüber, sondern die Klassen, die die Arbeiter ausbeuten und unterdrücken, gehörten seiner eigenen Nation an. Hier bedeutete die nationale Politik zunächst nicht einen Kampf gegen die herrschende Staatsordnung: bis zum Zerfall der alten liberalen Partei bildete das deutsche Bürgertum in Österreich nicht eine nationale Partei wie die anderen auch, sondern die Partei, die die geltende Verfassung verteidigte und auf sie ihr Vorrecht stützte. Die deutsche Nation war nicht unterdrückt, sondern ihre Macht war weit größer, als ihrer Zahl entsprach. Die nationale Politik war hier nicht die Bewegung eines rebellischen Kleinbürgertums, sondern sie war die Politik der Klassen, die das Proletariat als seine Ausbeuter und Unterdrücker hasste, sie war die Politik der Bourgeoisie und Bürokratie. Hier konnte die Arbeiterschaft nicht national sein. Die herrschenden Klassen verteidigten ihr Privileg als die Bedingung der nationalen Macht. Konnte den deutschen Arbeitern die Macht der Nation als etwas anderes erscheinen, denn als ein lügnerischer Vorwand, der die Klassenherrschaft der feindlichen Klassen stützen sollte?
Als die deutsche Arbeiterschaft ihren Klassenkampf gegen die besitzenden und gebildeten Klassen begann, entdeckte sie von neuem den uralten Gedanken, der einst dem Bürgertum selbst im Kampfe gegen die Gutsherrenklasse gedient. Unsere Gegner, denken die Arbeiter, mögen mehr besitzen als wir; mögen mehr wissen als wir; mögen bessere Kleider tragen und gewandter sprechen und richtiger schreiben können als wir. Aber sollen wir darum weniger Recht vor dem Staat haben als sie? Sollen nicht auch wir ein Recht haben auf die Freuden des Lebens, auf die Genüsse der Kultur? Sind wir nicht Menschen so gut wie sie? So lebt in den Arbeitern wieder der Gedanke der Humanität auf, die Forderung nach Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Nun wird die Nation dem deutschen Arbeiter zu einem „bürgerlichen Vorurteil“’. Die nationalen Unterschiede verblassen vor seinem Auge und wie er gegen seine Ausbeutung und Unterdrückung kämpft, so will er die Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt beseitigen, sei sie nun gerichtet gegen eine Klasse, ein Geschlecht, eine Religionsgemeinschaft oder auch gegen eine Nation. Er fühlt sich als Kämpfer für die Befreiung der ganzen Menschheit. Wenn der revolutionäre Instinkt die Arbeiter der unterdrückten Nationen zum naiven Nationalismus führt, so erzeugt er in der Arbeiterschaft der national gesättigten Völker einen naiven Kosmopolitismus.
Übrigens hat daneben auch die deutsche Sozialdemokratie in Österreich einen nationalen Einschlag. Nur entstammt er nicht der Arbeiterschaft, sondern jener kleinen Zahl bürgerlicher Intellektueller, die von der bürgerlichen Demokratie einen Weg zum Sozialismus gefunden. Die bürgerliche Demokratie der Deutschen in Österreich war national: das eine und freie Deutschland von 1848, die große deutsche Republik war ihr Traum. Wie überall, hat auch in Österreich die kapitalistische Entwicklung die alte Demokratie zersetzt. Und wie überall, sind die besten Kräfte dieser Demokratie auch hier schließlich zum kämpfenden Heere der Arbeiterklasse gestoßen: so war auch die bürgerliche Demokratie einer jener Quellflüsse, die ihre Gewässer dem großen Strom der Sozialdemokratie zugeführt. Uns deutschen Sozialdemokraten in Österreich ist die Persönlichkeit Engelbert Pernerstorfers die Verkörperung dieses Stücks der Geschichte unserer Partei. Diese Männer brachten in die Partei auch ihre nationale Sehnsucht. Und wie der Kundige im Strombett wohl noch die Gesteinssplitter zu sondern vermag, die der oder jener Quellfluss aus dem oder jenem Gebirgszug ihm zugeführt, so entdecken wir in der Gedankenwelt des deutschen Sozialismus in Österreich leicht jene Stimmungen und Gedanken, die die besten Männer des Bürgertums ihm als Erbe der bürgerlichen Demokratie gebracht. Aber dieser bürgerlich-nationale Einschlag hat doch niemals den naiv-kosmopolitischen Charakter der deutschen Arbeiterbewegung in Österreich zu trüben vermocht, der aus den Lebensbedingungen der Arbeiterschaft selbst entsprang.
Die deutschnationalen Politiker lieben es, der deutschen Arbeiterschaft in Österreich vorzuwerfen, dass sie weit weniger „Nationalgefühl“ habe als ihre slavischen oder italienischen Genossen. Daran ist soviel richtig, dass die deutsche Arbeiterschaft aus ihrer Jugendzeit, in der das Klassenbewusstsein erst in der Gestalt des revolutionären Instinktes erwachte, ein anderes ideologisches Erbe, eine andere Grundstimmung mitbrachte als das Proletariat der anderen Nationen in Österreich. Diese Tatsache wirkt gelegentlich auch heute noch nach. Aber indessen hat sich der revolutionäre Instinkt der Arbeiterschaft allmählich zu klarem Bewusstsein des Klassengegensatzes und Klasseninteresses entwickelt. Damit veränderte sich auch die Stellung der Arbeiter zur nationalen Frage. Der naive Nationalismus der einen wird allmählich ebenso überwunden, wie der naive Kosmopolitismus der anderen. Aus beiden entwickelt sich langsam, aber stetig die ihrer Sonderart klar bewusste internationale Politik des Proletariats aller Nationen.
Wenn wir es nun versuchen wollen, die in tausend Köpfen wirkenden Triebkräfte dieser Politik aufzuzählen, zu ordnen und in ihre Elemente zu zerlegen, so müssen wir von der Stellung des Arbeiters im gesellschaftlichen Produktionsprozess ausgehen.
Die Arbeiterschaft erzeugt die Werte, aber diese Werte werden nicht ihr eigen, sondern das Eigentum an den Arbeitsmitteln gibt den herrschenden Klassen die Macht, die Arbeiterschaft mit einem Teile des von ihr erzeugten Wertprodukts abzufertigen, den Rest, den Mehrwert, sich anzueignen. Diese Tatsache beherrscht die gesamte Politik der Arbeiterklasse. Die erste Frage, die die Arbeiterschaft aufwirft, ist die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Wertprodukts: welcher Teil des gesellschaftlichen Wertprodukts soll der Arbeiterklasse, welcher den Eigentümern der Arbeitsmittel zufallen? Die Interessen der Klassen sind hier entgegengesetzt: je größer der Teil des gesellschaftlichen Wertprodukts ist, der der Arbeiterklasse zufällt, desto geringer jener, den die besitzenden Klassen sich aneignen können – und umgekehrt. Die Frage nach der Verteilung des Wertprodukts ist keine Rechtsfrage. Die besitzenden Klassen sind mit keiner Verteilung zufrieden als mit der, die den Arbeitern gerade noch das nackte Leben sichert. Die Arbeiterklasse kann sich mit keiner anderen Regelung zufrieden geben als mit jener, die das gesamte Wertprodukt auch der Gesamtheit der Arbeitenden zueignet. Innerhalb dieser beiden äußersten Grenzen gibt es keinen Punkt, der als der richtige, der gerechte erwiesen werden könnte; es gibt keinen gerechten Arbeitslohn: kein Gericht kann die Frage der Verteilung des Wertprodukts auf die Klassen entscheiden. Sie ist keine Rechts-, sondern eine Machtfrage. Daraus ergibt sich notwendig der Kampf der Arbeiterschaft gegen die besitzenden Klassen. Die unmittelbarste Erscheinungsform dieses Klassenkampfes ist der gewerkschaftliche Kampf um die Höhe des Arbeitslohns.
Wir können die Tatsache, dass die Arbeiter immer nur einen Teil des von ihnen erzeugten Wertprodukts erhalten, während der Rest den besitzenden Klassen zufällt, auch so ausdrücken, dass die Arbeiter nur während eines Teiles des Arbeitstages Jene Güter erzeugen, die ihr eigen werden, dagegen während der übrigen Arbeitsstunden die Güter, die das Einkommen der Eigentümer der Arbeitsmittel bilden. Während dieses zweiten Teiles des Arbeitstages leisten die Arbeiter also Mehrarbeit, unbezahlte Arbeit für die besitzenden Klassen. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Frage nach der Länge des Arbeitstages. Die Arbeiter weigern sich, für die besitzenden Klassen zu arbeiten: der Arbeitstag soll so lange währen, dass alle jene Güter hergestellt werden, die das Einkommen der Arbeiterklasse bilden. Die besitzenden Klassen dagegen wollen den Arbeitstag ins Ungemessene ausdehnen: sind sie unklug, so verlangen sie, dass der Arbeiter so lange an der Maschine stehe, solange er noch einen Muskel zu rühren vermag; sind sie klüger geworden, so heischen sie doch wenigstens, dass der Arbeiter sich so lange mühe, als die Verlängerung des Arbeitstages noch ihren Mehrwert zu steigern vermag. Auch hier bleibt zwischen den beiden äußersten Grenzen des Arbeitstages ein breiter Spielraum. Auch hier kann kein Gericht entscheiden, welche Dauer des Arbeitstages innerhalb dieser Grenzen angemessen, gerecht ist. Auch diese Frage ist eine Machtfrage, die im Klassenkampfe entscheiden wird. Dieser Klassenkampf tritt im gewerkschaftlichen Kampfe um die Dauer der Arbeitszeit in Erscheinung.
Die Notwendigkeit des Klassenkampfes spaltet alle Nationen: die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und der besitzenden Klassen sind innerhalb jeder Nation einander entgegengesetzt. Dagegen fallen die Interessen der Arbeiter jeder Nation mit den Interessen der Arbeiter aller anderen Nationen zusammen.
Die Höhe des Arbeitslohns hängt zunächst von der Nachfrage nach Arbeitskräften und vom Angebot von Arbeitskräften ab.
Nehmen wir nun zunächst an, dass in einem Teile des Wirtschaftsgebietes – beispielsweise in Deutschböhmen – das Angebot von Arbeitskräften verhältnismäßig gering ist, in einem anderen Teile desselben Wirtschaftsgebietes dagegen – beispielsweise im tschechischen Teile Böhmens – das Angebot die Nachfrage weit übersteigt. Die nächste Folge wird sein, dass in Deutschböhmen die Arbeitslöhne höher sind als im tschechischen Landesteile. Diese Tatsache wird aber dazu führen, dass aus dem tschechischen Teile des Königreiches Arbeiter in den deutschen Teil auswandern, weil sie dort leichter und zu günstigeren Bedingungen Beschäftigung finden. Die Zuwanderung von tschechischen Arbeitern nach Deutschböhmen bewirkt, dass dort das Angebot von Arbeitern steigt; in Deutschböhmen entsteht also eine Tendenz zum Sinken der Löhne. Andererseits bewirkt die Auswanderung von Arbeitern aus dem tschechischen Landesteile, dass dort sich das Angebot von Arbeitskräften verringert; hier entsteht also eine Tendenz zum Steigen des Arbeitslohns. Ergebnis: die Arbeiter Deutschböhmens leiden darunter, dass die Arbeiter der tschechischen Bezirke niedrigeren Arbeitslohn beziehen; die Arbeiter der tschechischen Bezirke haben davon einen unmittelbaren Vorteil, dass die deutschen Arbeiter sich günstigerer Arbeitsbedingungen erfreuen. Für die Arbeiter der deutschen Bezirke wäre es vorteilhaft, wenn das Angebot von Arbeitskräften in den tschechischen Bezirken geringer, die Löhne dort höher wären. Die Arbeiter der tschechischen Bezirke haben ein Interesse daran, dass die Arbeiter Deutschböhmens gut entlohnt sind. Die tschechischen Arbeiter sind an den hohen Löhnen der deutschen, die deutschen Arbeiter an den hohen Löhnen der tschechischen interessiert.
Wir haben bisher die Wirkung des Angebotes von Arbeitskräften auf die Lohnhöhe untersucht. Zu demselben Ergebnis gelangen wir, wenn wir nach der Wirkung der Nachfrage nach Arbeitskräften fragen. Gesetzt, in Deutschböhmen sei die Nachfrage nach der Ware Arbeitskraft sehr groß, es steigen daher dort die Löhne. In den tschechischen Bezirken dagegen sei die Nachfrage nach Arbeitskräften sehr niedrig. Dort besteht die Gefahr, dass die Löhne sinken. Nun sieht der Kapitalist die Löhne als Produktionskosten an. Unter sonst gleichen Bedingungen sind in dem angenommenen Falle die Produktionskosten in den deutschen Bezirken höher, in den tschechischen geringer. Je niedriger die Produktionskosten sind, desto höher sind die Profite. Im angenommenen Fall wird daher unter sonst gleichen Umständen die Profitrate im tschechischen Landesteile größer sein als im deutschen. Nun wandert das Kapital immer dorthin, wo die Profitrate am höchsten ist. Es wird daher mehr Kapital sich den tschechischen Bezirken zuwenden als den deutschen; in jenen werden mehr neue Betriebe gegründet, die bestehenden schneller erweitert werden. Diese Kapitalswanderung bewirkt, dass die Löhne im tschechischen Gebiete zu steigen beginnen, während im. deutschen Landesteile die Nachfrage nach Arbeitskräften langsamer steigt; da die Arbeiterbevölkerung stetig wächst, steigt hier die Zahl der Arbeitslosen, die Löhne beginnen zu sinken. Wiederum leiden die deutschen Arbeiter darunter, dass die Löhne in den tschechischen Bezirken niedriger sind, und wünschen daher, dass auch dort die Löhne steigen. Wiederum zeigt sich, dass die hohen Löhne der deutschen Arbeiter schließlich auch die Löhne ihrer tschechischen Klassengenossen
Aber die Höhe des Arbeitslohnes hängt nicht nur von Angebot und Nachfrage ab, sondern auch von der Kraft der Gewerkschaft. Die kapitalistische Gesellschaft erhält stets eine Armee von Arbeitslosen. Sie ist während der Depression, der Zeit ungünstigen Geschäftsganges, sehr groß, sie verringert sich während der Prosperität, der Zeit günstiger Konjunktur, sie verschwindet aber niemals gänzlich. Der Arbeitslose hat in der kapitalistischen Gesellschaft die Funktion, den Mehrwert zu sichern, die Löhne niedrig zu erhalten; denn der arbeitslose Proletarier ist ausgeschlossen von allen Gütern der Welt, er ist also stets geneigt, jede Arbeitsstelle anzunehmen, wenn ihm der Lohn auch nur das nackte Leben sichert. Der Kapitalist hat daher stets die Möglichkeit, die Begehrlichkeit der Arbeiter abzuwehren, bei wachsender Arbeitslosigkeit sogar die Möglichkeit, ihre Löhne zu senken, indem er ihnen droht, sie durch die Arbeitslosen, die der Hunger zur Arbeit um jeden Preis zwingt, zu ersetzen. Die Aufgabe der Gewerkschaften ist es nun, diese Funktion des Arbeitslosen zu verändern. Sie erreichen dies zunächst durch zwei Mittel: einmal, indem sie die Psychologie des Arbeitslosen verändern, indem sie die Arbeiter lehren, dass es würdelos, unsittlich ist, ihre Klassengenossen zu unterbieten; zweitens dadurch, dass sie durch die Arbeitslosenunterstützung es dem Arbeitslosen auch wirtschaftlich möglich machen, während der Zeit der Arbeitslosigkeit sein Leben zu fristen, ohne dem Kapitalisten um niedrigen Lohn seine Arbeitskraft anzubieten. Aber die Gewerkschaft vermag noch mehr! Ist die Zahl der Arbeitslosen überhaupt so gering, dass der Kapitahst seine Arbeiter nicht zu ersetzen vermag, oder ist die gewerkschaftliche Schulung der Arbeitslosen so groß und die Unterstützung, die ihnen gewährt wird, hinreichend, so dass die Arbeiter nicht zu fürchten brauchen, dass die arbeitslosen Kollegen ihre Stellen besetzen, so führt die Gewerkschaft den Zustand vorübergehender Arbeitslosigkeit künstlich herbei: durch den Streik wird der Unternehmer dazu gezwungen, günstigere Arbeitsbedingungen zuzugestehen. Die Funktion des Arbeitslosen schlägt hier in ihr Gegenteil um: zeitweilige Arbeitslosigkeit wird aus einem Mittel der Niederhaltung zu einem Mittel der Erhöhung der Löhne.
Nehmen wir nun an, dass die deutschen Arbeiter sich in Gewerkschaften organisieren und gewerkschaftliche Kämpfe führen, so sehen wir sie unmittelbar durch die tschechischen Lohndrücker und tschechischen Streikbrecher bedroht. Die deutschen Arbeiter können ihren gewerkschaftlichen Kampf nur führen, wenn auch die Funktion des tschechischen Arbeitslosen durch die gewerkschaftliche Schulung und gewerkschaftliche Unterstützung verändert wird. Die deutschen Arbeiter haben also zunächst ein eigenes Interesse daran, dass auch der tschechische Arbeiter eine Arbeitslosenunterstützung beziehe. Die deutschen Arbeiter handeln also nur im eigenen Interesse, wenn sie die Organisation der tschechischen Klassengenossen unterstützen. Aber noch mehr! Der gewerkschaftliche Kampf setzt niemals nur die Arbeitslosenunterstützung voraus, sondern immer auch eine Veränderung der Psychologie der Arbeiter: der Arbeiter muss es als unsittlich empfinden, den Kollegen in der Werkstätte zu unterbieten. Wäre dies nicht der Fall, so müsste die Arbeitslosenunterstützung ebenso groß sein wie der Arbeitslohn selbst, um den Lohndruck der Arbeitslosen zu verhindern. Diese psychologische Umstimmung der Bevölkerung ist nun ein Erzeugnis sehr verschiedenartiger Kräfte. Sie setzt zunächst eine gewisse Kulturhöhe des Arbeiters voraus. Darum ist beispielsweise der deutsche Arbeiter daran interessiert, dass der tschechische Arbeiter eine gute Schule besuche. Die veränderte Psychologie des Arbeitslosen setzt ein gesteigertes Bewusstsein persönlicher Würde voraus. Darum hat der deutsche Arbeiter ein Interesse daran, dass der tschechische Klassengenosse vor dem Gesetze, vor Behörden und Gerichten, vor dem Bürgertum nicht als Sklave mit krummem Rücken, sondern als freier Mann erscheine; alles, was den tschechischen Arbeiter zum feigen Mann macht, das Bewusstsein eigener Würde in ihm ertötet, schädigt die wirtschaftlichen Interessen der deutschen Arbeiter, bedroht ihren Arbeitslohn. Die psychologische Veränderung des Arbeiters wird wesentlich gefördert durch die selbständige politische Bewegung der Arbeiterklasse. Darum haben die deutschen Arbeiter am Wachstum der tschechischen Arbeiterpartei ein unmittelbares Interesse.
Wir sehen schon hier, wie der Internationalismus der reifen Arbeiterschaft etwas wesentlich anderes ist als der naive Kosmopolitismus ihrer ersten Jugendzeit. Sie sieht nun nicht mehr von der Erfahrungstatsache der Verschiedenheit der Nationen ab, die Nationalität ist ihr nicht mehr ein „bürgerliches Vorurteil“, von dem man sich nicht beirren lassen dürfe in dem Streben, die ganze Menschheit zu befreien, sondern ihre Politik wurzelt in der klaren Erkenntnis, dass die Interessen der Arbeiterschaft der eigenen Nation nicht anders gefördert werden können, als indem man den Kampf der Arbeiter der anderen Nationen unterstützt. Sie entspringt nicht mehr dem Gedanken der Humanität, sondern der Erkenntnis der internationalen Solidarität der Klasse. Die erste Forderung, die sich hieraus ergibt, ist die, dass die Arbeiter aller Nationen sich im Kampfe gegen den unmittelbaren Klassengegner, die Unternehmer, vereinen, dass die gewerkschaftliche Organisation die Arbeiter aller Nationen umspannt und innerhalb der Gewerkschaften die Arbeiter jeder Nation die Interessen der Arbeiter aller anderen Nationen als ihre eigenen Interessen verfechten.
Der Kampf der x\rbeiterklasse richtet sich aber nicht nur gegen den unmittelbaren Klassengegner, die Unternehmer, sondern auch gegen den Staat. Durch verschiedenartige Mittel beeinflusst der Staat das Wirtschaftsleben. Die Arbeiter verlangen nun eine solche Wirtschaftspolitik, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt, der Kampf der Gewerkschaften erleichtert wird, die Löhne steigen. Da aber das reale Einkommen der Arbeiterklasse nicht nur von der Höhe, sondern immer auch von der Kaufkraft ihres Geldlohnes abhängig ist, so fordern sie weiter wirtschaftspolitische Maßnahmen, die die Kaufkraft des Geldlohnes erhöhen, die Preise niedrig erhalten oder senken. Viel Arbeitsgelegenheit und billiges Brot ist das Ziel proletarischer Wirtschaftspolitik. Die Unternehmer dagegen streben darnach, dass die Produktionskosten ihrer Waren niedrig, ihre Preise dagegen hoch sind. Billige Arbeitskraft, hohe Preise sind das Ziel ihres Strebens. Die Interessen der Arbeiter sind also denen der besitzenden Klassen auch hier entgegengesetzt: gemeinsame Politik beider ist unmöglich. Dagegen fallen die Interessen der Arbeiter der verschiedenen Nationen hier zusammen. So unmöglich es ist, dass die Arbeiter irgend einer Nation sich mit den Unternehmern ihrer Nation über einen Zolltarif einigen, so gewiss ist es, dass der deutsche und tschechische Textilarbeiter, der deutsche und tschechische Metallarbeiter an die Handelspolitik des Staates dieselben Forderungen zu stellen haben. Dieses Zusammenfallen der wirtschaftlichen Interessen zwingt die Arbeiter zunächst, in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen Schulter an Schulter zu kämpfen gegen die besitzenden Klassen aller Nationen.
Aber bald zeigt sich, dass die Interessen der Arbeiter nicht nur im Kampfe um die Bestimmung staatlicher Wirtschaftspolitik, sondern auch in den anderen Fragen der Gesetzgebung identisch sind. Wird zum Beispiel ein Strafgesetz beraten, so werden sich die Arbeiter keiner Nation mit den Besitzenden ihrer Nation darüber einigen können, wie das Recht den Dieb, den Landstreicher, den Bettler, den Streikenden, der einen Arbeitswilligen misshandelt hat. behandeln soll; dagegen werden die Arbeiter aller Nationen an diesen Fragen dasselbe Interesse haben, daher auch dieselben Forderungen stellen. Und dasselbe ergibt sich bei der Beratung jedes neuen Gesetzes.
Das letzte Ziel alles proletarischen Kampfes kann kein anderes sein als die völlige Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung. Dieses Ziel kann aber nicht anders erreicht werden, als durch die Überführung der Arbeitsmittel aus dem Sondereigentum in das Eigentum der Gesellschaft. Wieder stößt hier innerhalb jeder Nation die Arbeiterklasse auf den Widerstand der besitzenden Klassen, die ihr Eigentum, die Quelle ihres Einkommens, ihrer Kultur, ihrer Macht nicht preisgeben wollen. Wiederum decken sich dagegen die Forderungen der Arbeiter jeder Nation mit den Forderungen des Proletariats aller übrigen Völker.
Wie im gewerkschaftlichen Kampfe, so schließt sich notwendig auch im politischen Kampfe die Arbeiterschaft aller Nationen zusammen. Sie tut dies wiederum nicht aus sentimentaler Schwärmerei für die Befreiung der ganzen Menschheit, sondern in der nüchternen Erwägung, dass die Interessen der Arbeiterschaft aller im Staate zusammenlebenden Nationen identisch, dagegen den Interessen der besitzenden Klassen aller Nationen entgegengesetzt sind. Wie die Stellung des Arbeiters im Produktionsprozess die internationale Gewerkschaftsbewegung fordert, so heischt die Stellung des Arbeiters im Klassenstaat den internationalen politischen Klassenkampf.
Dieser Forderung widerspricht nun die Tatsache, dass unter der zentralistisch-atomistischen Regelung der nationalen Verhältnisse alle nationalen Fragen Machtfragen sind und die Bevölkerung daher gezwungen ist, sich in nationale Parteien zu gliedern, die um die Macht im Staate kämpfen. Aus der Tatsache des Klassengegensatzes folgt die Forderung, es mögen sich alle Arbeiter zu einer internationalen Klassenpartei zusammenschließen. Aus der atomistisch-zentralistischen Verfassung folgt die Forderung, es seien alle Deutschen, alle Tschechen u.s.w. zu einer intersozialen Nationalpartei zu vereinen. Man könnte wohl meinen, dass beide Forderungen nicht im Widerspruch stehen: die tschechische Arbeiterschaft müsse sich eben in den sozialen Fragen mit der deutschen, in den nationalen Fragen mit dem tschechischen Bürgertum verbünden. Aber diese Vereinigung beider Forderungen ist schon logisch unmöglich. Sie erweist sich als unmöglich schon beim ersten und grundlegenden politischen Akt, bei der Wahl. Sollen beispielsweise die deutschen Arbeiter in einem Wahlkreise, in dem ein Kandidat des deutschen Bürgertums und ein Mandatswerber der tschechischen Arbeiterschaft einander gegenüberstehen, dem einen öden dem anderen zum Siege verhelfen? Stimmen sie für den deutsch-bürgerlichen Kandidaten, so mindern sie die Macht ihrer Klasse, geben sie dem tschechischen Arbeiter, die Stimme, so mindern sie die Macht ihrer Nation. Aber auch im Kampfe der Parteien in den Vertretungskörpern selbst entsteht dasselbe Problem, denn in dem vielsprachigen Lande gewinnt fast jede soziale Frage auch nationale Bedeutung. Wenn in Ostgalizien der Staat im Dienste polnischer Grundbesitzer die ruthenischen Bauern und Landarbeiter mit Blut und Eisen niederhält, sollen dann die Vertreter der polnischen Arbeiter die Grundbesitzer unterstützen, um die Macht ihrer Nation zu mehren, oder die ruthenischen Arbeiter, um die Kraft ihrer Klasse zu stärken: Aber gesetzt selbst, es wäre logisch möglich. die nationalen und sozialen Fragen streng zu scheiden, so ist es doch psychologisch unmöglich, dass die Arbeiterschaft mit den besitzenden Klassen der eigenen Nation um die nationalen und mit der Arbeiterschaft der anderen Nationen um die sozialen Güter kämpfe. Denn der Machtkampf der Nationen ist längst in seinem ganzen Wesen durch den kleinbürgerlichen Radikalismus bestimmt. Arbeiter, die von dieser Stimmung des nationalen Radikalismus erfasst sind, sind unfähig, im gewerkschaftlichen und im politischen Kampfe mit den Klassengenossen der anderen Nationen Schulter an Schulter zu kämpfen. National erregten Menschen wird jede Frage, die nüchterne Bestimmung des proletarischen Kampfzieles und nüchterne Wahl der Mittel zu diesem Zwecke erheischt, jede Frage der Organisation und der Taktik zu einer nationalen Frage. Nationale Machtpolitik und proletarische Klassenpolitik sind logisch schwer vereinbar; psychologisch schließen sie einander aus; die proletarische Armee wird durch die nationalen Gegensätze in jedem Augenblicke gesprengt, der nationale Streit macht den Klassenkampf unmöglich. Die zentralistisch-atomistische Verfassung, die den nationalen Machtkampf unvermeidlich macht, ist darum für das Proletariat unerträglich. Die erste Forderung proletarischer Verfassungspolitik im Nationalitätenstaate ist das Verlangen nach einer solchen Verfassung, in der die Nationen nicht gezwungen sind, um die Macht im Staate zu kämpfen. Macht, das heißt die Möglichkeit ihren Willen durchzusetzen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, braucht jede Nation. Aber nur die zentralistisch-atomistische Regelung zwingt die Nationen, diese Macht zu erwerben, indem sie um die Staatsgewalt kämpfen, zwingt sie zum Kampf um die Macht. Die Macht der Nationen, ihre Kulturbedürfnisse zu befriedigen, muss rechtlich gesichert sein, damit die Bevölkerung nicht mehr gezwungen sei, sich in nationale Parteien zu gliedern, damit der nationale Streit den Klassenkampf nicht unmöglich mache. Die Politik der Arbeiterklasse ist notwendig demokratisch. Das Proletariat kämpft zunächst darum, dass die Mehrheit des Volkes den Gesamtwillen des Staates bestimme. Der Kapitalismus macht die Arbeiterklasse allmählich zur überwiegenden Mehrheit des Volkes. Ist die Herrschaft der Volksmehrheit gesichert, so ist der Arbeiterklasse die schließliche Eroberung der politischen Gewalt gewährleistet. In Österreich ist aber der Kampf um die Demokratie sehr wesentlich dadurch erschwert, dass die nationale Macht ganzer Völker durch den Sieg der Demokratie verringert werden kann. Im Jahre 1848 waren es die geschichtslosen Nationen – Tschechen und Südslaven – die sich mit der Reaktion verbündeten und die Demokratie verrieten. Seit 1861 sind es umgekehrt die alten historischen Nationen – die Deutschen, Italiener und Polen – deren nationale Macht sich darauf stützt, dass im Staate, in den Ländern und Gemeinden die Minderheit über die Mehrheit herrscht, jeder Fortschritt der Demokratie wird durch diese Verquickung mit den nationalen Machtfragen fast unmöglich. Als beispielsweise im .lahre 1867 das neue Vereins- und Versammlungsrecht geschaffen wurde, lehnte das Abgeordnetenhaus die Bestimmung ab, dass Vereine wegen ihrer „Staatsgefährlichkeit“ aufgelöst werden können. Aber schon am nächsten Tage hat die deutschliberale Mehrheit diese Bestimmung wieder hergestellt, da das Ministerium erklärte, es könne ohne diesen Paragraphen die tschechische Opposition nicht brechen. Die Arbeiterorganisationen, für deren Verfolgung dieser Paragraph jahrzehntelang die bequemste Handhabe bot, werden aus dieser Episode leicht ersehen, welches Hindernis des proletarischen Klassenkampfes der Machtkampf der Nationen ist. Zuletzt hat uns der Kampf um das gleiche Wahlrecht diese Erfahrung wieder bestätigt. Wieviel geringere Kraft hätte der Widerstand der deutschen Bourgeoisie und des polnischen Adels gehabt, hätte er sich nicht mit dem Beweisgrund wappnen können, das gleiche Stimmrecht verschiebe die Machtverhältnisse der Nationen. Und man konnte dieses Argument nicht anders überwinden als indem man der Wahlkreiseinteilung überhaupt keinen allgemeinen Grundsatz zugrunde legte, indem man die Wahlgeometrie zum Prinzip erhob. War aber erst einmal der Grundsatz der Gleichheit der Wahlkreise aufgegeben, hatte man den bürgerlichen nationalen Parteien erst einmal erlaubt, sich Wahlkreise nach Bedürfnis zusammenzukleistern, so war es selbstverständlich, dass zur nationalen Wahlgeometrie noch die soziale trat, dass die Arbeiter bei der Wahlkreiseinteilung benachteiligt wurden. Auf eine Unzahl solcher Erfahrungen stützt sich die Forderung der Arbeiterklasse nach einer solchen Regelung der nationalen Verhältnisse, dass die Macht keiner Nation davon abhängig ist, dass die Minderheit über die Mehrheit herrsche; dass keine Nation durch die Entwicklung zur Demokratie in ihrer nationalen Macht gefährdet werden kann.
Das Bedürfnis der Arbeiterklasse bestimmt also ihr Verfassungsprogramm zunächst negativ: sie verlangt eine solche Regelung der nationalen Verhältnisse, in der die Nationen nicht um die staatliche Gewalt kämpfen müssen und in der die Entwicklung zur Demokratie die Macht keiner Nation bedroht. Aber das Bedürfnis des proletarischen Klassenkampfes gibt dem Nationalitätenprogramm der Arbeiterklasse auch seine positive Bestimmung. Schon aus der Erkenntnis der Bedingungen des gewerkschaftlichen Kampfes haben wir ersehen, dass die Arbeiterschaft jeder Nation an der kulturellen Entwicklung der Arbeiter der anderen Nationen ein eigenes Interesse hat. Dasselbe gilt aber auch für den politischen Kampf. Je besser die Erziehung und Bildung der Arbeiterschaft der anderen Nationen ist. je stärker ihr Selbstbewusstsein, das Bewusstsein ihrer persönlichen Würde, desto leichter wird es sein, sie als Kampfgenossen zu gewinnen, desto wertvollere Kämpfer sind sie im Kampfe gegen den Klassenstaat. Daraus ergibt sich, dass die Arbeiterschaft notwendig der Schul- und Sprachenfrage ganz anders gegenübersteht als die anderen Klassen.
Das deutsche Bürgertum hat kein Interesse an tschechischen oder polnischen Schulen. Dem nationalen Machtkampfe liegt ja gerade die Überzeugung zugrunde, dass die Kulturentwicklung der eigenen Nation dadurch gehemmt wird, dass die staatlichen Einkünfte dem Schulwesen der anderen Nationen gewidmet werden. Der Wunsch, die staatlichen Mittel lieber dem eigenen als dem fremden Schulwesen zu widmen, steigert sich aber bei den besitzenden Klassen allmählich zum Hass gegen das fremde Schulwesen: die deutsche Bourgeoisie und das deutsche Kleinbürgertum fürchten, die tschechische Arbeiterschaft werde desto schneller aus knechtseliger Demut erwachen, im Klassenkampfe desto wirksamer den Profit des Kapitalisten und Handwerkers bedrohen, je höher die Kulturstufe ist, auf die sie die Schulbildung erhebt. Ebenso fürchtet die Intelligenz, der Ausbau des Schulwesens der anderen Nationen werde ihre Konkurrenz vermehren. Ganz anders die deutsche Arbeiterschaft. Was die deutschen besitzenden Klassen fürchten, das wünscht sie um ihrer selbst willen. Sie braucht tschechische Lohndrücker und tschechische Streikbrecher desto weniger zu fürchten, je höhere Kulturstufe die tschechische Arbeiterschaft erreicht hat. Daher hat die deutsche Arbeiterschaft am Ausbau des Schulwesens der anderen Nationen ein eigenes Interesse.
Ganz ähnlich ist auch die Stellung der Arbeiterschaft in der Sprachenfrage bestimmt. Der deutsche Bourgeois, die Cliquen der sesshaften Kleinbürger in den deutschen Gemeinden haben nichts dagegen einzuwenden, wenn dem tschechischen Arbeiter vor den Behörden nicht sein Recht wird. Die deutsche Intelligenz sieht in der tschechischen Amtssprache die Gefahr wachsender Konkurrenz. Dagegen hat der deutsche Arbeiter ein Interesse daran, dass der tschechische Arbeiter nicht hilflos den staatlichen Behörden und Richtern gegenüberstehe. Je selbstbewusster der Arbeiter den Organen der Staatsgewalt gegenüberzutreten vermag, je mutiger er dort sein Recht selbst vertreten kann, desto höher steigt sein Bewusstsein persönlicher Würde, desto mutiger wird er auch im gewerkschaftlichen und politischen Kampfe den Großen und Mächtigen unserer Gesellschaft gegenübertreten, desto willkommener ist er den deutschen Arbeitern als Bundesgenosse im Klassenkampfe.
Daher muss die deutsche Arbeiterschaft, sobald sie ihr Interesse klar erkennt, wünschen, dass die kulturellen und sprachlichen Bedürfnisse aller anderen Nationen befriedigt werden. Und was für die deutschen Arbeiter gilt, gilt auch für die Proletarier der anderen Nationen. Daraus ergibt sich die Forderung der .Arbeiterschaft aller Nationen nach solcher Regelung der nationalen Verhältnisse, dass jeder Nation die Möglichkeit fortschreitender Kulturentwicklung und den Arbeitern aller Nationen Anteil an der nationalen Kultur gesichert werde.
Diese Forderung, die sich zunächst auf die nüchterne Erwägung der Interessen der Arbeiter jeder Nation stützt, findet in der dem Proletariat eigentümlichen, seiner Klassenlage entspringenden Ideologie eine starke Stütze.
Reichtum und Freiheit sind die Voraussetzungen aller Kultur. Die herrschenden und besitzenden Klassen sind darum zunächst auch die Träger aller geistigen Kultur. Aber wenn in Wirklichkeit Besitz und Herrschaft die Stützen der geistigen Kultur sind, so haben alle herrschenden Klassen stets versucht, dieses Verhältnis umzukehren und ihren Anspruch auf Herrschaft und Besitz gerade auf den Besitz höherer Bildung zu stützen. So hat die Gutsherrenklasse einst gegen das Bürgertum sich darauf berufen, dass ihre Bildung höher sei und sie gerade darum ein Recht auf die Herrschaft und Ausbeutung habe. Ebenso stützt heute die Bourgeoisie innerhalb der Nation ihre Macht darauf, dass sie die Trägerin höherer Geisteskultur sei. Und das Argument, das zunächst dem Klassenkampfe innerhalb der Nation dient, wird dann auch im nationalen Kampfe angewendet. Die herrschenden Klassen der reichen Nationen verteidigen ihr Recht, die anderen Nationen auszubeuten und zu unterdrücken, damit, dass ihre Nation kulturell höher stehe, die anderen Nationen „minderwertig“ seien.
Die Arbeiterschaft kann diesen vermeintlichen Rechtstitel der Ausbeutung und Unterdrückung nicht gelten lassen. Im Klassenkampfe innerhalb der Nation ist er ja das Argument ihrer Gegner. Hier begreift der Arbeiter sofort: ihr sagt, ihr hättet das Recht, über uns zu herrschen und uns auszubeuten, weil ihr die Gebildeten seid; in Wirklichkeit aber ist es umgekehrt: weil ihr herrscht und uns ausbeutet, habt ihr an der geistigen Kultur reicheren Teil. Höhere Kultur gibt nicht ein Recht auf Ausbeutung; sondern die Tatsache, dass ihr euch einen Teil unseres Arbeitsertrages aneignet, gibt euch höhere Kultur. Eurer Rechtsordnung aber stellen wir eine andere gegenüber, in der die Kultur, die von der Arbeit getrennt ist, mit der Arbeit, der sie entquillt, wieder vereint werden soll, in der jeder, der arbeitet, auch ein Recht auf die geistigen Werte hat und es für den erwachsenen und gesunden Menschen kein Recht auf die Kulturgüter gibt, außer auf Grund seiner Arbeit.
Wenn der Arbeiter im Klassenkampfe innerhalb der Nation den Satz, höhere Kultur gebe ein Recht auf Ausbeutung, auf fremde Arbeit, bekämpft, so kann er ihn im nationalen Kampfe nicht gelten lassen. Auch hier gibt die Tatsache, dass das deutsche Volk seinen Kant und Hegel, seinen Goethe und Schiller hatte, zu einer Zeit, als die tschechische Nation noch von deutschen Gutsherren und Bourgeois ausgebeutet wurde und gerade darum zu höherer Kulturentwicklung unfähig war, nach des Arbeiters Meinung den besitzenden Klassen der deutschen Nation noch durchaus kein Recht, das tschechische Volk auszubeuten und zu unterdrücken. Wenn die deutsche Bourgeoisie im nationalen wie im sozialen Kampfe den Satz aufstellt: Höhere Kultur gibt ein Recht auf fremde Arbeit, so stellt die Arbeiterschaft aller Nationen, einschließlich der deutschen, ihm ihre Moral gegenüber: Alle gesellschaftliche Arbeit gibt ein Recht auf eigene Kultur. Die Forderung, die dieser proletarischen Ethik entspringt, ist dieselbe, die wir schon aus den Bedürfnissen des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes der Arbeiterklasse abgeleitet haben: eine solche Verfassung, dass jeder Nation die Entwicklung ihrer Kultur, allen Arbeitern Anteil an der Kultur ihrer Nation rechtlich gesichert sei.
Eine Verfassung, die jeder Nation die Macht gibt, ihre Kultur zu entwickeln; eine Verfassung, die keine Nation dazu zwingt, sich diese Macht erst im Kampfe um die staatliche Gewalt immer wieder zu erobern und zu behaupten; eine Verfassung, die die Macht keiner Nation auf die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit stützt – das sind die nationalpolitischen Forderungen des Proletariats. Diesen Forderungen vermag die zentralistisch-atomistische Verfassung in keiner ihrer Formen zu genügen: der Reichszentralismus so wenig wie der Kronländerföderalismus. Diese Verfassung ist in allem das Gegenteil proletarischen Ideals: sie sichert keiner Nation freie Entwicklung ihrer Kultur; sie zwingt die Nationen zum Machtkampfe im Staate; sie zwingt insbesondere die alten historischen Nationen zum Kampfe gegen die Demokratie. So wenden sich die Augen des Proletariats notwendig der anderen, noch denkbaren Regelung der Beziehungen der Nation zum Staat zu, jener, die Rudolf Springer als die organische Auffassung bezeichnet hat. Jede Nation soll aus eigener Kraft ihre nationalen Kulturbedürfnisse selbst frei befriedigen, soll sich selbst regieren; der Staat soll sich auf die Wahrung der national indifferenten, allen Nationen gemeinsamen Interessen beschränken. So wird die nationale Autonomie, die Selbstbestimmung der Nationen, notwendig das Verfassungsprogramm der Arbeiterklasse aller Nationen im Nationalitätenstaat.
Aber wie es kein Zufall war, dass der Liberalismus der zentralistisch-atomistischen Auffassung gemäss die nationalen Verhältnisse zu ordnen versuchte, sondern diese Regelung seiner ganzen Staatsidee entsprang, so steht auch die proletarische Forderung der nationalen Autonomie im Einklang mit den gesamten Vorstellungen der Arbeiterklasse von der Aufgabe des Gemeinwesens.
Man kann den gesamten Kampf der Arbeiterklasse erfassen als einen Kampf um Selbstbestimmung, um Autonomie.
Die Arbeiterklasse steht in der kapitalistischen Gesellschaft unter der Herrschaft der besitzenden Klassen. Das Eigentum an Arbeitsmitteln gibt ihnen die Macht, einen Teil des gesellschaftlichen Wertproduktes sich anzueignen, die Arbeiter zu beherrschen, ihnen zu befehlen und zu verbieten. Die Arbeiterklasse hat keinen Eintluss auf den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung und daher auch keine Macht über die Richtung der kulturellen Entwicklung überhaupt. Der Sozialismus erst bringt den Menschen die Selbstbestimmung: der Arbeiterschaft gibt er die Macht, über ihren Arbeitsertrag zu verfügen; er kennt keine Klasse mehr, die über die Arbeitenden gebietet; er gibt dem ganzen Volke die Macht, seine Arbeit planmäßig zu regeln und dadurch auch die Weiterentwicklung seiner Kultur bewusst zu bestimmen. Darum hat Friedrich Engels die Wandlung der kapitalistischen in die sozialistische Produktionsweise den Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit genannt. In diesem Sinne bedeutet der Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus einen Kampf um Selbstbestimmung, um Autonomie.
Die erste Aufgabe in diesem Kampfe ist die Eroberung der politischen Gewalt. Das Mittel hierzu ist die Volksherrschaft, die Demokratie. Und wiederum bedeutet der Kampf um die Demokratie einen Kampf gegen Fremdherrschaft – gegen die Herrschaft eines absoluten Monarchen, einer Bürokratie, einer bürgerlichen Minderheit. Der Sinn aller Demokratie ist Selbstbestimmung des Volkes, ist Autonomie.
Der Liberalismus hatte zunächst das bürgerliche Rechtssystem zu schaffen. Seine größte Leistung war überall die Kodifikation, niedergelegt in den großen Gesetzbüchern: dem bügerlichen Gesetzbuch, dem Handelsgesetzbuch, dem Strafgesetzbuch u.s.w. Die Verwaltung suchte der alte Liberalismus auf die bloße Ausführung der Gesetze zu beschränken; je weniger sie tat, desto lieber war es ihm. Sein Grundsatz war ja, der Staat solle sich darauf beschränken, die persönliche Freiheit und das Eigentum der Bürger zu sichern, im übrigen das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte nicht stören. Die Arbeiterklasse dagegen hat kein neues Rechtssystem einzuführen, sondern nur den alten bürgerlichen Rechtsinstituten neuen Inhalt zu geben. Sie braucht nicht neue Gesetze zum Schutze der persönlichen Freiheit auszuarbeiten, sondern sie wird die vom Liberalismus verheißene persönliche Freiheit verwirklichen, indem sie die Volkswirtschaft zur Aufgabe der öffentlichen Verwaltung macht und dadurch die Macht beseitigt, die gerade den persönlich freien Arbeiter knechtet und ausbeutet. Die Arbeiterschaft wird nicht ein neues Recht des Eigentums schaffen, sondern sie wird nur an die Stelle des privaten Eigentümers das öffentliche Gemeinwesen setzen, die Güter dem Volke zueignen und zum Gegenstand der öffentlichen Verwaltung machen. Nicht ein neues Rechtssystem wird das Proletariat schaffen, sondern die Rechtssubjekte verändern. Darum ist für die Arbeiterklasse selbst heute schon die Verwaltung vielleicht ebenso wichtig wie die Gesetzgebung und wird in der großen Übergangsepoche, die die neue sozialistische Gesellschaft einleiten wird, immer wichtiger werden. Darum kann sich die Arbeiterklasse nicht damit begnügen, die Gesetzgebung zu beherrschen, sondern sie muss auch diejenigen, für die verwaltet wird, selbst zu Organen der öffentlichen Verwaltung machen. Die Arbeiterschaft verlangt daher die Selbstverwaltung, die Autonomie auch in diesem engeren Sinne.
Aber sie tut das noch aus einem anderen Grunde. Das Bürgertum hat in den meisten Staaten das Heer und die Verwaltung in den Händen des Monarchen und seiner Bürokratie belassen. Eine solche Demokratie hat Springer einmal die hinkende Demokratie genannt. Sie stützt sich im Grunde auf ein Blatt Papier: jeden Moment können die Machthaber auch die demokratische Gesetzgebung vernichten, auch das Parlament auseinanderjagen. Gegen die Wut des Volkes schützt sie ihr Heer. Und dafür, dass das Staatswesen trotz des Unwillens des Volkes weiter bestehe, die Staatsmaschine nicht zum Stocken komme, sorgt ihre bürokratische Verwaltung. Dem Proletariat kann eine solche Demokratie nicht genügen. Es kann seine Zwecke nicht erreichen, ohne die Interessen der Machthaber zu verletzen, ihre Macht zu brechen. Da bedarf seine Macht in der Gesetzgebung einer festeren Stütze als eines Blattes Papier, das man, auf Soldaten und Beamte gestützt, jederzeit zerreißen kann. Darum verlangt die Arbeiterklasse einerseits die Verwandlung des stehenden Heeres in eine Volkswehr. Darum verlangt sie andererseits die Ersetzung der bürokratischen durch die Selbstverwaltung. Die Demokratie ist erst gegen jeden Versuch, sie zu stürzen, gesichert, wenn sie fest auf beiden Beinen steht: die Selbstverwaltung ist nicht minder wichtig als die Selbstgesetzgebung.
So ist Autonomie der Sinn alles proletarischen Kampfes, Autonomie der Sinn der sozialistischen Produktionsweise, der Sinn der Demokratie. Autonomie auch im engeren Sinne, als Selbstverwaltung, ist für das Proletariat Mittel und Stütze der erstrebten Macht.
Diesem Gedankengang ordnet sich nun auch die proletarische Forderung der nationalen Autonomie ein. Unsere sogenannte Kronländer-Autonomie ist keine wahre Selbstverwaltung. Denn ihr fehlt die erste Voraussetzung autonomer Verwaltung, die relative Gleichartigkeit der Interessen: immer wird sie für die Minderheit, dank unserem Privilegienwahlrecht sehr oft für die Mehrheit, zur Fremdherrschaft. Die Autonomie der Nationen ist wirkliche Selbstverwaltung: denn die Entwicklung der nationalen Kultur ist das gemeinsame Interesse aller Volksgenossen.
Freilich werden innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auch innerhalb jeder Nation schroffe Interessengegensätze bestehen. Die Arbeiterklasse wird in anderer Weise die Mittel, deren die Nation bedarf, aufbringen und sie in anderer Weise verwenden wollen, sie wird die nationalen Schulen anders gestalten, die Entwicklung der nationalen Kultur nach anderer Richtung bestimmen wollen als die besitzenden Klassen. Die nationale Autonomie innerhalb unserer Gesellschait ist nur ein Schritt auf dem Wege zu jener vollen Selbstbestimmung der Nationen, die erst auf der festen Grundlage der sozialistischen Produktionsweise möglich ist.
Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist aber die nationale Autonomie die notwendige Forderung einer Arbeiterklasse, die gegezwungen ist, ihren Klassenkampf in einem Nationalitätenstaat zu führen. Die österreichische Arbeiterklasse hat dies klar erkannt. Allmählich überwindet sie den naiven Kosmopolitismus auf der einen, den naiven Nationalismus auf der anderen Seite – wenn auch freilich diese Entwicklung mitten im Getöse des nationalen Kampfes nicht ohne Rückschlag vor sich gehen kann. Im Jahre 1897 führte der „Wimberger Parteitag“ die nationale Autonomie innerhalb der Partei durch. Und wenn auch, wie wir noch sehen werden, die innere Gliederung der Partei anderen Gesetzen folgt als die Verfassung des Staates, so wirkte doch bei jener Neuregelung der Parteiverfassung der Gedanke der nationalen Selbstbestimmung entscheidend mit. Im Jahre 1898 erschienen in der Neuen Zeit Karl Kautskys ausgezeichnete Artikel über die österreichische Nationalitätenfrage, in denen der „Föderalismus der Nationen“ gefordert wurde. 1899 erschien die Broschüre Staat und Nation von Synopticus, die das Personalitätsprinzip in die Diskussion einführte.
In demselben Jahre ringt sich in einer Anzahl von Artikeln in den österreichischen Parteiblättern, vor allem in der Arbeiter-Zeitung, die Forderung der nationalen Autonomie durch. Endlich nimmt in diesem Jahre der Brünner Parteitag sein Nationalitatenprogramm einstimmig an, durch das gefordert wird, Österreich sei in einen Nationalitäten-Bundesstaat umzuwandeln und jeder Nation die volle Selbstbestimmung rechtlich zu sichern.
Die nationale Autonomie ist nicht ein Programm, das kluge Männer ersonnen haben, um den Staat aus seiner Not zu retten, sondern sie ist die Forderung, die das Proletariat im Nationalitätenstaat notwendig erhebt, die Forderung, die dem Bedürfnis seines wirtschaftlichen und politischen Kampfes, die seiner Idee eines öffentlichen Gemeinwesens, die schließlich seiner besonderen Ideologie, seiner Idee vom Verhältnis von Kultur und Arbeit entspringt. Die nationale Autonomie ist ein notwendiges Ziel des proletarischen Klassenkampfes, weil sie ein notwendiges Mittel seiner Klassenpolitik ist, die zugleich seine besondere nationale Politik ist – jene evolutionistisch-nationale Politik, deren letztes Ziel es ist, das gesamte Volk zur Nation zu machen. Darum setzt im Nationalitätenstaat die Arbeiterklasse aller Nationen der nationalen Machtpolitik der besitzenden Klassen die Forderung der nationalen Autonomie entgegen.
Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008