Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


II. Der Nationalstaat


§ 15. Das Nationalitätsprinzip


Die Umwälzung des überlieferten Staatensystems vollzog sich im 19. Jahrhundert im Zeichen des Nationalitätsprinzips. Jede Nation soll einen Staat bilden! Jeder Staat soll nur eine Nation umfassen! Die Kämpfte um Deutschlands Einheit und Italiens Freiheit, die Befreiung Griechenlands, Rumäniens, Serbiens und Bulgariens von der türkischen Herrschaft, der Kampf der Iren um Home-rule, der Polen um Wiederherstellung des polnischen Staates, der Abfall der südamerikanischen Staaten von Spanien sind Erscheinungsformen des großen Kampfes um die Verwirklichung des Nationalitätsprinzips.

Diese Erscheinung ist so auffallend, dass viele Theoretiker den Willen zum Zusammenleben in einem selbständigen politischen Gemeinwesen zum konstitutiven Merkmal der Nation machen. So ist zum Beispiel für Renan [1], für Kirchhoff [2] die Nation eine Gesamtheit von Menschen, die in einem selbständigen Gemeinwesen zusammenleben und dieses Gemeinwesen verteidigen, für dieses Gemeinwesen Opfer bringen wollen. Wir haben es hier mit einer psychologischen Theorie der Nation zu tun. Aber während die uns schon bekannte Theorie, die zum Merkmal der Nation das Nationalbewusstsein, die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit machen will, intellektualistisch ist, ist diejenige Lehre, die das Wesen der Nation in dem Willen zur politischen Einheit und Freiheit findet, voluntaristisch. [3]

Unsere Einwände gegen diese Lehre sind dieselben, die wir schon der psychologisch-intellektualistischen Richtung entgegengesetzt haben. Auch diese Theorie ist nicht befriedigend, da sie der Frage ausweicht, warum wir gerade mit diesen und nicht mit anderen Menschen zu einem Gemeinwesen vereinigt sein wollen. Sie ist aber auch nicht richtig, weil es keineswegs richtig ist. dass alle Menschen, die zu einem Gemeinwesen gehören wollen, darum eine Nation bilden – es gibt Tschechen, die den Bestand Österreichs für eine Notwendigkeit für ihre Nation halten, die mit Palacký meinen, Österreich müsste erfunden werden, wenn es nicht bestünde; darum gehören sie aber noch nicht zu einer österreichischen Nation – und weil es ebenso unrichtig ist, dass alle, die zu einer Nation gehören, den Willen zur politischen Einheit ihrer Nation haben – die Deutschen der Schweiz, viele Deutsche in Österreich haben durchaus nicht den Wunsch nach Verwirklichung des deutschen Einheitstraumes.

Dass der Nationalstaat als Regel, der Nationalitätenstaat als bloße Ausnahme, als ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten betrachtet wird, hat zu einer bedenklichen Verwirrung der staatswissenschaftlichen und politischen Terminologie geführt. So versteht man unter Nation häufig nichts anderes als die Gesamtheit der Staatsbürger oder die Gesamtheit der Bewohner eines Wirtschaftsgebietes. In Deutschland nennt sich jene Politik national, die dem bestehenden Klassenstaate die erforderlichen Machtmittel – Soldaten, Geschütze, Kriegsschiffe bewilligen will, in Frankreich die Politik der „Revanche“ und der kolonialen Expansion. Wenn man von Nationalökonomie spricht, so denkt man nicht an die Ökonomie der Nation – zum Beispiel der Deutschen in allen Ländern – sondern an die Ökonomie des deutschen Wirtschaftsgebietes, das Ja keineswegs alle Deutschen, dafür aber neben Deutschen auch Franzosen, Dänen, Polen, Juden und in geringerer Zahl Angehörige der verschiedensten Nationen umfasst. Ist vom „Schutz der nationalen Arbeit“ die Rede, so denkt man nicht an den Schatz etwa der deutschen Arbeit in Österreich oder in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sondern an den Schutz der im deutschen Wirtschaftsgebiet geleisteten Arbeit u.s.w. Mit der Nation in diesem Sinne haben wir es hier nicht zu tun. Dieser Sprachgebrauch beruht auf einer Verwechslung der Nation mit der Bevölkerung des Staats- und Wirtschaftsgebietes. [4]

Die Theorie begnügt sich, so oft das Verhältnis von Nation und Staat besprochen wird, gewöhnlich mit der Behauptung, es sei „natürlich“, dass jede Nation zum Staat werden will. Indessen ist damit die Aufgabe der Wissenschaft wiederum nicht gelöst, sondern gestellt. Wir haben zu fragen, warum es den Menschen als „natürlich“, als vernünftig erscheint, dass jede Nation und immer nur eine Nation ein politisches Gemeinwesen bildet. Das Nationalitätsprinzip schließt nun offenbar zwei Forderungen ein: erstens den Willen zu nationaler Freiheit, die Abwehr der Fremdherrschaft, die Forderung „Jede Nation ein Staat!“, zweitens den Willen zu nationaler Einheit, die Abwehr des Partikularismus, die Forderung „die ganze Nation ein Staat!“ Es gilt nun, zu erklären, wie diese Forderungen im 19. Jahrhundert entstehen und mächtig genug werden konnten, um das überlieferte Staatensystem umzustürzen.

Den Anstoß zur national-staatlichen Bewegung gab gewiss das Verlangen nach Abwehr der Fremdherrschaft. Wo nationale Fremdherrschaft zugleich Unterdrückung und Ausbeutung der ganzen Nation bedeutet, bedarf das Verlangen, die Fremdherrschaft abzuwehren, keiner Erklärung. So war es beispielsweise bei der Revolution der Serben. Die Serben, von den herrschenden Türken durch Nationalität und Religion scharf geschieden, seufzten, schwer ausgebeutet und unterdrückt, unter der kriegerisch-feudalen türkischen Herrschaft. Die türkischen Herren eigneten sich einen beträchtlichen Teil des Arbeitsertrages der Bauernnation an; sie musste von ihren Herren das Recht auf das Dasein durch eine Kopfsteuer erkaufen; verhasste Einrichtungen, wie das Verbot, Waffen zu tragen oder ein gesatteltes Pferd zu besteigen, ließen die verachtete „Rajah“ (Herde) die Tatsache ihrer Unterdrückung täglich empfinden. So musste sich das unterdrückte Volk gegen die Fremdherrschaft erheben, sobald nur die Möglichkeit eines Erfolges gegeben war. Als durch die innere Zerrüttung des türkischen Reiches und durch die Balkanpolitik Russlands diese Bedingung gegeben schien, erhob sich das geknechtete Volk, um sich seine Freiheit, seinen Nationalstaat zu erkämpfen. Nicht anders war es auch dort, wo – wie in Griechenland – die Masse des Volkes geknechtet war. während daneben eine Beamtenaristokratie und eine reiche Bourgeoisie bestand, die an der Ausbeutung durch den herrschenden Staat reichen Anteil hatte. Hier ist die nationale Revolution eine Revolution der geknechteten Masse; aber auch die Bourgeoisie hatte daran ihren Teil. Gerade eine reiche Bourgeoisie trägt die Verachtung der herrschenden Nation schwer; die Söhne des griechischen Geld- und Beamtenadels studierten an den Universitäten des Westens und brachten von dort die Freiheitssehnsucht von 1789 in die Heimat; hat doch ein Mann wie Schiller die griechischen Studenten unter seinen Hörern aufgefordert, für die Befreiung ihres Volkes zu wirken! So erwachen in der Bourgeoisie der geknechteten Nation Selbstständigkeitsgelüste, sie wird zur Führerin des nationalen Kampfes, weil ihr ja notwendig die Herrschaft in dem zu erkämpfenden Nationalstaate zufallen muss.

Anders ist es dort, wo die Fremdherrschaft für die Massen des Volkes keine Verschlechterung, vielleicht sogar eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage bedeutet. So waren die polnischen Aufstände zunächst Rebellionen des Adels, der Schlachta; sie scheiterten an der Gleichgültigkeit, teilweise sogar an dem Widerstände der Bauern, die von der Wiederherstellung des polnischen Staates die Erneuerung grenzenloser Ausbeutung durch die Gutsherren befürchteten. Hier bedeutet die national-staatliche Revolution zunächst also eine Rebellion der Herrenklasse der unterdrückten Nation, für die der Verlust des Nationalstaates den Verlust ihrer Herrschaft einschließt, nicht aber eine Bewegung der breiten, arbeitenden Massen, deren Lage im Nationalstaate nicht besser, vielleicht sogar schlechter gewesen wäre als unter der Fremdherrschaft. Trotzdem zeigt sich auch hier eine Verbreitung national-staatlicher Gesinnung unter den breiten Massen. Dieselbe Erscheinung sehen wir in Deutschland unter Napoleon I. Als große Teile Deutschlands unter französische Herrschaft kamen, bedeutete das freilich eine Entthronung der schmalen herrschenden Schichten der Nation; den breiten Massen aber brachte diese Fremdherrschaft nicht Nachteil, sondern Vorteile: Anteil an den großen Errungenschaften der französischen Revolution, Beseitigung der feudalen Fesseln, Einführung der neuen bürgerlichen Rechtsordnung. Trotzdem war die Bewegung der Befreiungskriege keineswegs bloß eine Bewegung der durch die französische Herrschaft entthronten Höfe und Bürokratien, sondern eine Bewegung breiter Volksschichten. Woher diese Erscheinung? Woher die merkwürdige Erscheinung, dass die breiten Volksmassen sich gegen die nationale Fremdherrschaft auch dort erheben, wo sie durch die fremde Herrschaft nichts verloren haben, wo sie höchstens den Druck eines Herrn gegen den eines anderen Herrn eingetauscht haben, ja selbst dort, wo die Fremdherrschaft die Lage der unteren Volksschichten verbessert hat?

Kleinbürger, Bauern, Arbeiter stehen in jedem Staate, auch im Nationalstaate unter Fremdherrschaft, werden ausgebeutet und unterdrückt von Gutsherren, Kapitalisten, Bürokraten. Aber diese Fremdherrschaft lässt sich verhüllen, sie ist nicht anschaulich, sondern muss begriffen werden. Die nationale Fremdherrschaft dagegen ist anschaulich, unmittelbar sichtbar. Wenn der Arbeiter in ein Amt kommt, wenn er vor einem Gerichte steht, so begreift er nicht, dass es eine fremde Macht ist, die ihn durch den Beamten, durch den Richter beherrscht: denn der Beamte und Richter gibt sich ja als Organ seiner Nation. Gehört aber der Beamte oder Richter einer anderen Nation an, spricht er eine fremde Sprache, so wird die Tatsache der Unterwerfung der Volksmasse unter fremde Mächte unverhüllt sichtbar und dadurch unerträglich. Der Bauernsohn dient auch im Heere des Nationalstaates als Werkzeug einer fremden Macht. Aber diese fremde Macht, die herrschenden Klassen, deren Zwecken das Heer dient, weiß dies wohl zu verhüllen; sie versteht es, das Volk glauben zu lassen, dass das Heer ein Machtwerkzeug der ganzen Nation ist. Wenn aber die Offiziere einer fremden Nation angehören, das Kommando in einer fremden Sprache ertönt, dann empfindet auch der Bauernsohn sofort, dass er einer fremden Macht Untertan ist, wenn er dem Kommando gehorchen muss. Der Kapitalist, der Feudalherr erscheint in der national einheitlichen Gesellschaft als Organ, als Vertrauensmann der Nation, die ihn mit der Aufgabe betraut hat, die Produktion und Verteilung zu leiten; gehört er einer fremden Nation an, so empfindet der fronpflichtige Bauer, der Lohnarbeiter sofort, dass er im Dienste eines Fremden, zu fremden Mannes Nutzen arbeiten muss. Das ist die große Bedeutung der Fremdherrschaft: dass sie alle Ausbeutung und Unterdrückung, die sonst begriffen werden will, unmittelbar anschaulich, sichtbar und dadurch unerträglich macht.

Dazu kommt aber noch ein anderer Grund, der insbesondere eine neue, nicht von altersher bestehende Fremdherrschaft den Massen verhasst macht. Kindlichem Denken erscheint der Bringer eines Unheils immer als seine Ursache. Wie nach der kindlichen Rechtsanschauung wenig entwickelter Völker, wer einen Schaden tut, des Schadens schuldig ist, und der Richter nicht nach Absicht, nach Anstiftung, nach Beihilfe fragt, so kümmerte sich der deutsche Bauer des Zeitalters der Befreiungskriege nicht darum, dass das Unheil der Franzosenkriege die deutschen Fürsten über ihn gebracht, die aus Hass gegen die politische und wirtschaftliche Freiheit der Bürger und Bauern sich gegen die französische Revolution verschworen; er sieht nur den französischen Soldaten, der den Krieg in das Land bringt, die französischen Heere, die seine Söhne töten und seinen Reichtum vernichten, und so erwacht ihn ihm der Hass gegen den Franzosen. Wie sollte er dann die Herrschaft des Franzosen über sein Land ertragen können? Aller Grimm, alle Rachsucht, die der Krieg entfesselt, richtet sich so nicht gegen die Herrschenden der eigenen Nation, die den Krieg angezettelt, sondern gegen die Fremden, die unmittelbar, anschaulich die Söhne des Volkes töten, an seinen Töchtern sich vergreifen, seine Felder verheeren. So wird der durch den Krieg entfesselte Hass zur Triebfeder des Willens zu nationaler Freiheit.

Das Verlangen nach Abwehr der Fremdherrschaft lässt sich als Triebkraft aller national-staatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts erweisen: die Verschwörung der absoluten Fürsten Europas gegen die französische Revolution bedrohte das französische Volk mit der Gefahr, sich fremdem Willen beugen, die erkämpfte Freiheit fremder Macht opfern zu müssen; so wurde der revolutionäre Kampf der Franzosen zu einer nationalen Sache. Als dann die Heere Napoleons I. Deutschland unterwarfen, entbrannte hier das Verlangen nach nationaler Freiheit: Arndt, der Franzosenhasser, geht Schenkendorf, dem Kaiserherold, voraus. Kampf gegen Fremdherrschaft bedeuten auch die Freiheitskämpfe der Italiener, der Iren, der Polen, der Griechen und Slaven der Balkanhalbinsel. Dem Hasse gegen die Fremdherrschaft erwuchs die nationale Freiheitssehnsucht des „Jungen Europa“.

Auch das Verlangen nach politischer Einheit der Nation ist diesem Hasse entsprungen. Nur ein starkes Gemeinwesen, das die ganze Nation in sich vereinigt, schien ja Fortdauer oder Wiederkehr der Fremdherrschaft verhindern zu können. Weil – nach einem Worte Treitschkes die Vielherrschaft zur Allknechtschaft geworden, verlangten die Deutschen nach einem starken, einheitlichen deutschen Reiche.

Nach derselben Richtung wirkten aber auch Jene Kräfte, die die Entwicklung des modernen Kapitalismus entfesselt hat. Der Kapitalismus bedarf eines großen, volkreichen Wirtschaftsgebietes; die Notwendigkeit kapitalistischer Entwicklung streitet darum gegen die politische Zersplitterung der Nation. Wären die kapitalistischen Staaten durch freien Warenaustausch untereinander verbunden, zu einem Wirtschaftsgebiet verschmolzen, so könnte der Kapitalismus die Zersplitterung der Nation in eine Anzahl selbständiger Staaten wohl vertragen. In Wirklichkeit aber wird der Staat in der kapitalistischen Welt fast immer auch zu einem mehr oder weniger selbständigen Wirtschaftsgebiet: durch Schutzzölle, durch die Steuerpolitik, das Eisenbahntarifwesen, durch die Verschiedenheit des Rechtes wird der zwischenstaatliche Warenaustausch eingeschränkt. Die große Masse der in einem Staate erzeugten Waren dient auch den Bedürfnissen der in dem Staate lebenden Konsumenten. Das Verlangen des Kapitalismus nach einem großen Wirtschaftsgebiete wird darum zum Verlangen nach einem Großstaate. Versuchen wir es, die Gründe zu skizzieren, die die großstaatliche Entwicklung im 19. Jahrhundert nötig gemacht haben.

Je volkreicher ein Wirtschaftsgebiet ist, desto zahlreicher und desto größer können die Betriebe sein, in denen irgend eine Ware hergestellt wird. Die Größe des Betriebes bedeutet nun bekanntlich Verringerung der Produktionskosten, Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit. Aber die größere Zahl gleichartiger Betriebe hat dieselbe Wirkung: einmal darum, weil innerhalb der Betriebe Arbeitsteilung, Spezialisation, Platz greifen kann, die die Produktivität der Arbeit wesentlich erhöht; es unterliegt zum Beispiel keinem Zweifel, dass die außerordentlich schnelle industrielle Entwicklung der Vereinigten Staaten von Nordamerika sehr wesentlich dadurch gefördert wurde, dass die Größe des Wirtschaftsgebietes dort eine viel weitergehende Arbeitsteilung möglich macht als in den europäischen Staaten. Ferner verringert der Bestand einer größeren Zahl gleichartiger Betriebe nebeneinander die Kosten der Erneuerung und Reparatur des Produktionsapparates: in Lancashire, wo eine Spinnerei neben der anderen steht und allen Betrieben gemeinsame Reparaturwerkstätten dienstbar sind, sind die erforderlichen Reparaturkosten viel geringer als dort, wo eine einzelne Spinnerei sich ihre eigenen Reparaturwerkstätten erhalten muss. Ebenso sind die Kosten der Vorbereitungs- und Fertigstellungsarbeiten – Färberei, Appretur und dergleichen – geringer, wenn sie gleichzeitig vielen gleichartigen Betrieben dienen können. Endlich macht die größere Zahl gleichartiger Betriebe Verbesserungen der Verkehrsmittel möglich, wodurch neuerlich die Produktionskosten verringert werden: wo eine große Zahl Fabriken nebeneinander besteht, werden Kanäle und Eisenbahnen gebaut, während diese Verkehrsmittel für nur wenige Fabriken entweder nicht gebaut werden können oder doch wegen der weniger intensiven Benützung die Transportkosten für jedes Frachtstück höher sind. Ebenso sind die Kosten der Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte – vom Fabriksdirektor bis zum letzten qualifizierten Lohnarbeiter – viel geringer dort, wo die gewerblichen Lehranstalten einer großen Industrie dienen, als wo nur die verhältnismäßig wenigen Arbeitsstellen einiger weniger Betriebe zu besetzen sind. Die wirtschaftliche Verwertung der Abfälle der Produktion ist gleichfalls nur dort möglich, wo eine große Industrie diese Abfälle in hinreichender Menge liefert.

Aber noch mehr! Ist Lancashire ein Teil eines großen Wirtschaftsgebietes, so wird es sein Kapital und seine Arbeitskräfte nur denjenigen Arbeitszweigen zuwenden, für die es besonders günstige Bedingungen bietet: der Baumwollspinnerei und -weberei, dem Maschinenbau und Kohlenbergbau. Diese Waren wird es in großer Menge herstellen und durch den Umfang der Produktion die Ergiebigkeit seiner Arbeit steigern; alle anderen Bedürfnisse wird die Grafschaft dadurch decken, dass sie die Güter, deren sie bedarf, gegen die Erzeugnisse ihrer Arbeit eintauscht. Wäre dagegen die Grafschaft ein selbständiges Wirtschaftsgebiet mit nur geringem Handelsverkehr mit den anderen Gebieten des Vereinigten Königreiches. dann könnte sie nicht nur Baumwollwaren, Maschinen und Kohle nur in viel geringerer Menge herstellen, wodurch die Produktivität der Arbeit in diesen Arbeitszweigen verringert würde, sondern sie müsste auch ihre anderen Bedürfnisse durch eigene Erzeugung decken, müsste ihre Arbeit also auch Produktionszweigen zuwenden, wo die natürhchen Bedingungen ungünstig sind. Gleicher Arbeitsaufwand würde ihr dann viel geringeren Güterertrag bringen. Für jedes Wirtschaftsgebiet ist es vorteilhafter, seine Arbeit nur denjenigen Arbeitszweigen zuzuwenden, wo die natürlichen Bedingungen günstiger sind, und die anderen Güter durch Tausch zu gewinnen, als alle Güter, deren es zur Befriedigung der Bedürfnisse seiner Konsumenten bedarf, selbst zu produzieren.

In der unmittelbaren Güterproduktion finden wir also eine doppelte Ursache der Überlegenheit großer Wirtschaftsgebiete: erstens die Tatsache, dass die Ergiebigkeit der Arbeit in der Regel mit dem Umfang der Produktion steigt; zweitens die Tatsache, dass jedes Gebiet seine Bedürfnisse durch freien Warentausch reichlicher zu befriedigen vermag als durch eigene Produktion in allen Arbeitszweigen. [5] Indes beruht die Überlegenheir des großen Wirtschaftsgebietes nicht nur auf Vorteilen der Produktion, sondern auch auf dem regelmäßigen Ablauf der Zirkulation des Kapitals.

Wieviel Briefe an einem Tage in einen einzelnen bestimmten Postkasten geworfen werden, hängt vom Zufall ab: es sind heute mehr, morgen weniger. Zählen wir dagegen die Briefe, die in einer ganzen Großstadt in allen Postkasten aufgefunden werden, so wird die Zahl ziemlich regelmäßig sein, da das zufällige Mehr der einen Sammelstelle durch das zufällige Weniger einer anderen Sammelstelle aufgehoben wird. Die Zahl der Selbstmorde in irgend einem Dorfe oder in einer kleinen Stadt scheint kein Gesetz zu beherrschen; in dem einen Jahre ereignet sich kein Selbstmord, im nächsten Jahre machen zehn Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende. Zählen wir dagegen die Selbstmorde eines ganzen großen Landes, so überrascht uns die Regelmäßigkeit der Zahl: die zufälligen Abweichungen der einzelnen Orte gleichen sich im ganzen Lande schließlich aus. Dieses Gesetz der großen Zahlen ist nun für die Zirkulation des Kapitals von großer Bedeutung. In einem kleinen Lande kann ein Hagelschlag, eine Feuersbrunst den regelmäßigen Ablauf der Kapitalszirkulation stören: in einem großen Wirtschaftsgebiete dagegen wird der zufällige Mangel eines Landesteiles durch den Reichtum der anderen Landesteile leicht ausgeglichen. Tritt in einem kleinen Wirtschaftsgebiete plötzlich irgendwo großer Bedarf ein, so empfindet dies jedes Unternehmen im ganzen Lande sofort: es steigt die Nachfrage nach Geldkapital, es steigen der Zinsfuß und die Preise. In einem großen Wirtschaftsgebiete dagegen sind große Mengen von Geldkapital aufgestapelt, so dass gesteigerter lokaler Bedarf noch lange nicht Steigerung des Zinsfußes bewirken kann. Umgekehrt: tritt ein einzelner Ort in einem großen Wirtschaftsgebiete mit geringerer Nachfrage auf dem Markt auf, so ist das für den Markt des großen Landes noch kaum fühlbar, in einem kleinen Wirtschaftsgebiete stockt dagegen infolge solcher örtlicher Störungen sofort der Kreislauf der Ware im ganzen Lande, In einem kleinen Wirtschaftsgebiete wird jede partielle Krise sofort zu einer allgemeinen: die Wirtschaftslage des großen Wirtschaftsgebietes dagegen ist gegen bloß örtliche Störungen fast unempfindlich und wird nur durch die großen Gesetze beherrscht, die die Konjunktur aller kapitalistischen Wirtschaft beherrschen.

Alle diese Gründe sind so stark, dass kleine Staaten sich nie begnügen können, ganz selbständige Wirtschaftsgebiete zu sein, dass sie selbst bei ausgedehntesten Schutzzollbestrebungen Warenaustausch mit anderen Ländern anstreben müssen. Aber der Warenaustausch des kleinen Wirtschaftsgebietes mit anderen Ländern stößt auf große Schwierigkeiten.

Zunächst sind die Verschiedenheiten der Währung, der Steuergesetzgebung, des bürgerlichen und Prozessrechtes Hindernisse des zwischenstaatlichen Handels. Jeder Staat bildet sein eigenes Nachrichtenwesen aus und es ist daher die Kenntnis des Marktes des fremden Staates selten so genau wie die des eigenen Marktes. Zur staatlichen Regelung des Verkehrswesens, zur Ausübung der Tarifhoheit über die Eisenbahnen ist nur der Großstaat befähigt; der Kleinstaat, der mit einer Reihe anderer Kleinstaaten an einer Eisenbahnlinie Anteil hat, vermag den Verkehr nur zu erschweren, nicht aber durch planmäßige Tarifpolitik die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

Die Staaten suchen durch Verträge aller Art alle diese Schwierigkeiten zu überwinden: Münzunionen, Handelsverträge, Zollvereine, Verträge über Rechtshilfe, über Marken-, Muster- und Patentrecht, zwischenstaatliche Regelung des Eisenbahntarifwesens dienen diesem Zwecke. Aber auch in der Vertragsverhandlung mit den Nachbarstaaten ist das kleine Wirtschaftsgebiet übel daran.

„Der Außenhandel eines wenig umfangreichen Gebietes ist im Verhältnis zu seiner Produktion groß und daher für dieses Land wichtig, für die ausländischen Großstaaten aber, aus denen es Waren importiert und nach denen es exportieren will, ist dieser Handelsverkehr im Vergleich mit ihrer Erzeugung von geringerer Bedeutung. Es gelingt dem kleinen Staate daher weniger, seine Interessen in Verträgen entsprechend zu wahren und die anderen zur Anpassung ihrer Handelspolitik an seine Bedürfnisse zu bewegen“. [6]

Der kleinere Staat ist aber natürlich nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch politisch schwächer. Nun bedarf aber der Kapitalismus stets des starken Armes des Staates, um seine Expansionsbestrebungen verwirklichen zu können. Wie könnte deutsches Kapital in fremden Ländern gewinnbringende Anlage suchen, der deutsche Kaufmann fremde Märkte bereisen, wüsste er sich nicht des Schutzes der Kriegsmacht seines Staates gewiss? Der kleine Staat, der seinen Bürgern im Auslande nicht hinreichenden Schutz zu sichern vermag, erscheint darum den Kapitalisten als ungenügendes, unvollkommenes Werkzeug ihrer Herrschaft. Dies um so mehr, als der kleine Staat in der Regel auch ein sehr teures Werkzeug ist. Denn unter sonst gleichen Bedingungen ist die Verwaltung des Großstaates billiger, der Steuerdruck daher geringer als in kleinen Staaten.

Alle diese Vorteile des Großstaates sahen die Nationen des 19. Jahrhunderts unmittelbar vor sich: wie Frankreich aufgeblüht war, seit die Zwischenzolllinien, die die Provinzen voneinander getrennt hatten, gefallen waren, war allgemein bekannt. Kein Wunder, dass bei Deutschen und Italienern das Verlangen erstarkte, aus Deutschland, aus Italien ein großes, einheitliches Wirtschaftsgebiet zu bilden.

So sehen wir denn die deutsche Bourgeoisie die Führung im Kampfe für die Herstellung eines großen deutschen Wirtschaftsgebietes übernehmen: unter Friedrich List kämpft sie für den Zollverein, für ein deutsches Eisenbahnwesen. 1833 schließen sich Preußen, beide Hessen. Bayern, Württemberg und Sachsen zu einem Zollgebiet zusammen. 1847 entsteht zum ersten Mal wieder nach langer Unterbrechung einheitliches deutsches Recht, und zwar, was auf die Triebkräfte der Einheitsbewegung so helles Licht wirft, die deutsche – Wechselordnung, auf die dann das deutsche Handelsgesetzbuch für alle deutschen Staaten folgte.

Indessen erklärt die Überlegenheit großer Wirtschaftsgebiete doch nur, dass die Deutschen nach einem Großstaat verlangten; warum aber nach einem Nationalstaat: Warum sollten gerade die Grenzen der Nation zur Grenze des Staates werden? Hier verknüpft sich die Wirksamkeit des wirtschaftlichen Bedürfnisses mit den Wirkungen politischer Umwälzungen.

Wir haben bereits wiederholt davon gesprochen, dass das Bürgertum, so lange es im Kampfe mit der überlieferten Staatsverfassung sieht, rationalistisch ist: der Rechtstitel geschichtlicher Überlieferung gilt ihm nichts, was bestehen will, muss seine Zweckmäßigkeit vor dem Gerichtshof der bürgerlichen Klassenvernunft erweisen. Das Bürgertum, das gegen den absolutistischen Staat im Kampfe steht, dessen führende Männer dieser Staat in ihrer Freiheit beschränkt, dessen Söhne er in seine Kerker geworfen, dessen Presse er geknebelt, dessen Schriftwerke er verfolgt, dessen Vereine er aufgelöst hat das Bürgertum missachtet den geschichtlich überkommenen Staat und fragt nach dem natürlichen Staat, nach dem Vernunftstaat. Diese Missachtung alles geschichtlich Gewordenen wird weiter genährt durch die Umwälzungen der Napoleonischen Zeit. Wenn der Friede von Luneville einer Unzahl deutscher Kleinstaaten ein ruhmloses Ende bereitet hatte, warum sollten die übrig gebliebenen Staaten weiter bestehen? Und als nach den Befreiungskriegen der Wiener Kongress daranging, die Landkarte Europas zu revidieren, das Staatensystem neu zu Ordnen, erschien es da nicht widersinnig, sich den Weg zur Aufwärtsentwicklung mit dem alten Gerät und Gerumpel längst vergangener Zeit zu verstellen? So erstarkt der Gedanke des natürlichen, des Vernunftstaates. Welches sind aber die natürlichen Grenzen des Staates?

Hier weist nun das durch die bürgerliche Entwicklung verbreitete, durch die Kriege der Napoleonischen Zeit erstarkte Nationalbewusstsein und Nationalgefühl auf die Nation als die „natürliche“ Grundlage des Staates hin und formuliert diesen Gedanken zum Nationalitätsprinzip: Jede Nation ein Staat! Jeder Staat nur eine Nation! Für den Grundherrn und Bauern ist das Territorium die Grundlage, die natürliche Grenze des Territoriums die natürliche Grenze des Staates; für den Bürger und Arbeiter der kapitalistischen Epoche dagegen ist der Staat vor allem eine Organisation der Menschen für ihre Zwecke: was die Menschen scheidet, muss daher die Staaten abgrenzen. Der Staat gebietet mir von außen, die Nation lebt in mir selbst, ist in meinem durch ihr Schicksal bestimmten Charakter lebendig wirkende Kraft. So erscheint die Nation als ein natürliches Gebilde, der Staat als ein Kunstprodukt. Wenn die überlieferten Staaten den Bedürfnissen der Zeit – der Sicherung gegen die Gefahr der Fremdherrschaft, dem Verlangen nach größeren Wirtschaftsgebieten – nicht mehr entsprechen, was ist selbstverständlicher als das Kunstprodukt, den Staat, dem natürlichen Erzeugnisse menschlicher Geschichte, der Nation, anzupassen, die Nation selbst zum Substrat des Staates zu machen r Zeigt die Schwierigkeit, die die Verschiedenheit der Sprachen im Nationalitätenstaat bereitet, der nationale Hass. der die Nationen eines Staates trennt, nicht unmittelbar, dass der Nationalitätenstaat ein künstliches Gebilde ist? Ist es nicht natürlich, vernünftig, im Staate die nationale Charaktergemeinschaft zu vereinen, sie von anderen Nationen durch die Staatsgrenzen zu trennen?

Sehr klar drückt Herder diesen Gedanken aus. Die Nation ist ein natürliches Gewächs:

„Ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen unter einem Szepter.“ [7]

Versuchen wir es. die einzelnen Gedanken, die in diesem Satz zusammengefasst sind, zu sondern. Seine Grundlage ist offenbar die Forderung, der Staat als Erzeugnis menschlichen Wollens müsse sich der Natur anpassen, der Natur folgen. Es ist die Zeit Rousseaus, die die alte Forderung der Stoiker, das naturam sequi, erneuert. Die Natur ist das Unveränderliche, das Gegebene. der Staat ist das Veränderliche, das Bewegliche; darum muss sich der Staat den Forderungen der Natur anpassen. Die Nation ist aber ein Natürliches, ein Erzeugnis der Natur. [8] Darum muss der Staat der Nation folgen, der Staat die Nation, die ganze Nation, aber nur die eine Nation politisch zusammenfassen.

Ist es richtig, dass die Nation ein Erzeugnis der Natur, der Staat aber ein Kunstprodukt ist? Für uns hat diese Unterscheidung nicht mehr den alten Sinn. Der alte, seit den Tagen Platos und Aristoteles’ lebendige Gegensatz zwischen dem politischen Rationalismus, der den Staat als ein Kunstprodukt betrachtet, das nach den Forderungen der Vernunft vom menschlichen Willen aufzubauen ist, und dem politischen Naturalismus, der den Staat als ein Erzeugnis der Natur, von „ewigen ehernen, großen Gesetzen“ beherrscht, begreifen will, ist durch die moderne Erkenntnistheorie überwunden worden. Wir wissen heute, dass es sich hier nur um eine Verschiedenheit des Gesichtspunktes, nicht um eine ausschließliche Alternative handelt. Wenn wir Wissenschaft treiben, so ist uns der Staat so gut wie jede andere Erscheinung ein Naturprodukt, von Gesetzen beherrscht; unsere Aufgabe ist es, die Gesetze zu erforschen, die das Werden, die Wandlungen, das Vergehen der Staaten beherrschen. Treiben wir dagegen Politik, wollen wir den Staat umschaffen, so ist er uns freilich ein Erzeugnis menschlichen Willens, das Objekt unserer Tätigkeit. Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Wissenschaft dieses Wollen selbst, das den Staat schafft, nachträglich in seiner ursächlichen Bestimmtheit zu verstehen oder auch, in die Zukunft schauend, den Prozess der Willensbildung ursächlich zu erfassen und dadurch die Richtung des künftigen politischen Wollens zu erkennen vermag. Die Nation aber ist ebenso wie der Staat Naturprodukt für die Wissenschaft; wir können verstehen, wie die Gemeinschaft des Schicksals die Nation durch die Mittel der Vererbung der angezüchteten Eigenschaften wie durch die Überlieferung der gemeinsamen Kulturgüter erzeugt. Für den Politiker ist aber auch die Nation ein Erzeugnis seines Willens, ein Kunstprodukt: denn es kann Ziel seines Handelns sein, den Nationalcharakter zu erhalten oder zu verändern, den Kreis der Nationsgenossen zu erweitern oder zu verengern. Wenn also der Staat so gut wie die Nation einmal als Naturprodukt betrachtet, das heißt als Gegenstand der Wissenschaft unter Gesetzen begriffen, dann wieder als Kunstprodukt betrachtet, das heißt Gegenstand unseres Willens werden kann, hat dann der Herdersche Gedanke, dass der Staat als das Kunstprodukt der Nation als dem natürlichen Gewächse folgen, sich anpassen müsse, noch einen Sinn?

Wir müssen diesen Gedanken, der jeder Begründung des Nationalitätsprinzips zugrunde liegt, historisch verstehen. Das Bürgertum des. Zeitalters der Revolution lag im Kampfe mit dem Staate, mit dem ganzen überlieferten Rechtssystem: der absolutistische Staat hatte die feudalen und zünftlerischen Rechtsformen erhalten oder doch nicht völlig beseitigt und hemmte dadurch die Entwicklung des Kapitalismus; die Kleinheit der Wirtschaftsgebiete war zum Hemmnis der Entwicklung der Produktivkräfte geworden; die wirtschaftliche und politische Bevormundung durch den absolutistischen Staat war der reif gewordenen Bourgeoisie, die sich selbst regieren wollte, unerträglich geworden; der überlieferte Kleinstaat konnte sie nicht gegen die Fremdherrschaft schützen. So will denn überall die Bourgeoisie die geltende Rechtsordnung umstürzen, den bestehenden Staat vernichten. Aber damit will sie doch nicht den Staat überhaupt vernichten, sondern durch einen anderen ersetzen, bedarf sie doch des Staates zur Sicherung des Eigentums: der Staat soll nun zu ihrem Herrschaftsmittel werden, nachdem er sie lange genug beherrscht. Wie sollen aber die Grenzen des neuen Staates bestimmt werden? Da stellt denn die Bourgeoisie die Frage: Wenn wir alles geltende positive Recht vernichten, alle bestehende Staatsverfassung zerstören, sind damit wirklich alle sozialen Erscheinungen vernichtet? Und sie entdeckt so, dass es soziale Erscheinungen gibt, die, mögen sie auch nur unter irgend einer bestimmten Rechtsordnung entstanden sein und nur unter einer Rechtsordnung sich erhalten können, doch unabhängig von dem ihr feindlichen geltenden Recht, von der ihr feindlichen Macht bestehen, diese Macht überdauern können, weil sie nicht in irgend einer äußeren Macht, sondern in den einzelnen Individuen selbst lebendig sind. So entdeckt sie die Nation als Gemeinschaft. Wenn Palacký in einem Augenblick des Grimmes gegen den österreichischen Staat sagt, die Tschechen seien dagewesen, ehe der österreichische Staat bestand, und sie würden da sein, wenn der österreichische Staat zerfalle, so drückt er den Gedanken aus, der dem Nationalitätsprinzip zugrunde liegt: die Gemeinschaft, die in jedem einzelnen Individuum unzerstörlich wirkende Kraft ist, ist, einmal entstanden, unabhängig von allem geltenden positiven Recht, unabhängig von aller bestehenden Macht. Die nationale Gemeinschaft besteht, mag der Staat auch fallen, weil sie in jedem einzelnen Individuum selbst lebendig ist. Dessen erinnert sich nun der revolutionäre Rationalismus des Bürgertums. Wenn es den bestehenden Staat zerstört, so zerstört es doch nicht die in den Individuen selbst lebendigen Gemeinschaften und hat so das Substrat für die Bildung des neuen Staates die unzerstörliche Gemeinschaft soll zur Grundlage der neuen Gesellschaft, des neuen Staates werden. Das Bürgertum behandelt den Staat als Kunstprodukt, weil es ihn umschaffen will, die Nation als Naturgewächs, weil sie gegeben bleibt, auch wenn der bestehende Staat zerfällt. Es ist also gar nicht, wie es zuerst schien, der Gegensatz kausaler und teleologischer, ursächlicher und zweckstrebiger Betrachtungsweise, der aus der Gegenüberstellung des Staates als Kunstprodukt und der Nation als Naturgewächs spricht, sondern der Gegensatz äußerer Macht und innerer Gemeinschaft. Indem das revolutionäre Bürgertum den ihm feindlichen, seinen Bedürfnissen nicht entsprechenden überlieferten Staat vernichten und durch einen neuen ersetzen will, stellt es der feindlichen äußeren Macht die dauernde innere Gemeinschaft der Nation gegenüber: dass die innere Gemeinschaft selbst zur Trägerin äußerer Macht werde, die äußere Macht die innere Gemeinschaft beschütze, wird so zu seiner Forderung. Das ist die Wurzel des Nationalitätsprinzips.

So gewaltig die Wirkungen dieser Forderung in der Geschichte des 19. Jahrhunderts aber auch waren, es ist ihr nicht gelungen, sich restlos durchzusetzen. Wir werden also die Kräfte zu untersuchen haben, die diesem Prinzip entgegenwirken, die die bestehenden Nationalitätenstaaten erhalten haben. Und wir werden weiter fragen müssen, ob diese Kräfte dauernd stark genug sein werden, den völligen Sieg des Nationalitätsprinzips zu verhindern, oder ob die bestehenden Nationalitätenstaaten bloße Reste vergangener Zeit sind, die die künftige Entwicklung beseitigen und durch reine Nationalstaaten wird ersetzen können. Dazu bedarf es aber einer Analyse des Nationalitätenstaates. So wenden wir uns denn jetzt der Betrachtung Österreichs, des höchstentwickelten unter den großen Nationalitätenstaaten Europas, zu. Der Kenner ausländischer Verhältnisse wird leicht unterscheiden, welche von den hier zu untersuchenden sozialen Erscheinungen Österreich eigentümlich, welche allen Nationalitätenstaaten gemein sind.

Fußnoten

1. Renan, Qu’est ce qu’une nation? Paris 1882.

2. Kirchhoff, Zur Verständigung über die Begriffe „Nation“ und „Nationalität“, Halle a.S. 1905.

3. Wir können jetzt die Theorien der Nation, die wir besprochen haben, folgendermaßen gruppieren:

  1. Metaphysische Theorien der Nation; nationaler Spiritualismus und nationaler Materialismus; 
  2. psychologische Theorien der Nation: psychologisch-intelleklualistische und psychologisch-voluntaristische;
  3. die empirische Theorie der Nation, die sich mit der Aufzählung der „Elemente“ begnügt, welche der Nation wesentlich sind.

Diesen Theorien setzen wir unsere, auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung entstandene Lehre von der Nation als der aus Schicksalsgemeinschaft erwachsenen Charaktergemeinschaft gegenüber.

4. Über den Unterschied von Volk und Nation siehe die oben angeführte Schrift Fr.J. Neumanns.

5. Wohlgemerkt: Wir finden nicht, ob die Ergiebigkeit der Arbeit dadurch wächst, dass auf demselben Boden mehr produziert wird, sondern darnach, ob durch Vereinigung mehrerer Landesteile zu einem Wirtschaftsgebiet die Produktivität der Arbeit gesteigert wird. Daher kommt zum Beispiel das Gesetz des sinkenden Bodenertrages, die Untersuchung der Wirkungen steigender Grundrente, für uns nicht in Frage.

6. Schüller, Schutzzoll und Freihandel, Wien 1905, S.247.

7. Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, 9. Buch, IV.

8. Nach Herders Auffassung offenbar der Natur in engerem Sinne: Die Nation ist ihm Abstammungsgemeinschaft. Aber prinzipiell ändert sich doch nichts an diesem Gedankengang, wenn wir auch die Nation aus dem Daseinskampfe der Menschen nicht nur durch die natürliche Vererbung, sondern auch durch die Überlieferung der Kulturgüter ursächlich hervorgehen lassen.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008