Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation


§ 3. Naturgemeinschaft und Kulturgemeinschaft


Gesetzt, eine gewaltige Katastrophe raffe alle Deutschen hinweg, so dass von dem deutschen Volke nur einige Kinder im zartesten Alter übrig bleiben. Mit den Deutschen seien auch alle deutschen Kultur- schätze – alle Werkstätten, Schulen, Bibliotheken und Museen – vernichtet worden. Glückliche Umstände aber machen es den Kindern des unglücklichen Volkes möglich, heranzuwachsen und ein neues Volk zu begründen. Wird dieses Volk ein deutsches Volk sein? Gewiss, diese Kinder haben die ererbten Naturanlagen des deutschen Volkes auf die Welt mitgebracht und sie werden ihnen nicht verloren gehen. Aber die Sprache, die sie langsam werden entwickeln müssen, wird keine deutsche Sprache sein, Sitte und Recht. Religion und Wissenschaft, Kunst und Dichtung wird das neue Volk im langsamen Entwicklungsgang sich neu erarbeiten müssen und die unter so gänzlich veränderten Verhältnissen lebenden Menschen werden ganz andere Charakterzüge tragen als heute die Deutschen.

Dieses Beispiel, das ich einem Vortrage Hatscheks entnehme, zeigt klar, dass wir das Wesen der Nation noch nicht völlig begriffen haben, wenn wir sie bloß als Naturgemeinschaft, als Gemeinschaft der durch die Abstammung verbundenen Menschen erfassen. Denn die Eigenart des einzelnen ist niemals nur durch seine ererbten Anlagen bestimmt, sondern immer auch durch die Verhältnisse, unter denen er selbst lebt: Durch die Art, wie er seinen Lebensunterhalt suchen muss; durch die Gütermenge und Güterart, die ihm seine Arbeit einbringt; durch die Sitten der Menschen, unter denen er lebt; durch das Recht, dem er unterworfen ist; durch die Einflüsse der Weltanschauung, der Dichtung und Kunst, die auf ihn wirken. Menschen mit denselben ererbten Anlagen, von frühester Kindheit an anderen Kulturbedingungen unterworfen, würden ein anderes Volk werden. Die Nation ist niemals nur Naturgemeinschaft, sondern immer auch Kulturgemeinschaft.

Aber noch mehr! Die scharfe Abgrenzung der nationalen Individualitäten könnte aus der Naturgemeinschaft allein niemals begriffen werden. Denn alle Naturgemeinschaft ist von der Tendenz zu fortwährender Differenzierung beherrscht. Moritz Wagner hat darauf hingewiesen, wie die örtliche Absonderung zur Entstehung neuer Arten führt. So stammen beispielsweise die deutschen Stämme gewiss von einem gemeinsamen Stammvolk ab. Die Nachkommen dieses Stammvolkes aber haben sich durch Wanderangen auf weite Gebiete verteilt. Die Lebensbedingungen, unter denen die einzelnen Stämme leben, sind nun ganz verschieden geworden – andere für die Alpenbewohner als für die Bewohner der Tiefebene, andere für die Bewohner der böhmischen Randgebirge als für die an der „Waterkant“. Die verschiedenen Lebensbedingungen züchten nun den Stämmen auch verschiedene Eigenart, verschiedenen Charakter an. Diese Verschiedenheiten werden nicht ausgeglichen, da die örtliche Absonderung Wechselheiraten zwischen den verschiedenen Stämmen verhindert. Auf diese Weise müssten aus den Stämmen verschiedene Völker entstehen, deren ererbte Eigenart schließlich ganz verschieden würde. Wie in uralten Zeiten aus einem gemeinsamen Stammvolk die Kelten, Germanen und Slaven hervorgegangen sind, so müsste schließlich auch das deutsche Volk in eine Anzahl selbständiger Völker zerfallen, und auch diese würden sofort dem Differenzierungsprozess unterworfen werden, sich wiederum im Laufe von Jahrhunderten in voneinander völlig verschiedene Teilvölker scheiden. Die Geschichte lehrt uns nun aber, dass diesem Diflferenzierungsprozess ein entgegengesetzter Prozess der Vereinigung entgegenarbeitet. So sind die Deutschen heute ganz zweifellos in ganz anderem Sinn eine Nation als etwa im Mittelalter: Die Deutschen der Ostseeküste verbindet heute viel mehr mit den Deutschen der Alpenländer, als dies etwa im 14. Jahrhundert der Fall war. Diese Vereinigung der Stämme zum Volke kann nicht aus den natürlichen Tatsachen der Vererbung begriffen werden, die vielmehr immer nur die Absonderung der Teilvölker aus einem Volke, niemals die Entstehung der Nation aus verschiedenen Stämmen erklären, sondern sie kann nur begriffen werden aus den wirkenden Einflüssen gemeinsamer Kultur. Wir werden diese Entstehung der einheitlichen Nation aus Stämmen, die unter verschiedenen Lebensbedingungen leben und durch keine Wechselheiraten verknüpft sind, im folgenden noch ausführlich zu besprechen haben.

Wenn wir so die Nation einerseits als Naturgemeinschaft, andererseits als Kulturgemeinschaft betrachten, so fassen wir damit aber nicht etwa verschiedene Ursachen ins Auge, die den Nationalcharakter bestimmen. Der Charakter der Menschen wird vielmehr niemals durch etwas anderes bestimmt als durch ihr Schicksal; der Nationalcharakter ist niemals etwas anderes als der Niederschlag der Geschichte einer Nation. Die Bedingungen, unter denen die Menschen ihren Lebensunterhalt produzieren und den Ertrag ihrer Arbeit verteilen, bestimmen das Schicksal jedes Volkes; auf der Grundlage einer bestimmten Art der Produktion und Verteilung des Lebensunterhaltes entsteht auch eine bestimmte geistige Kultur. Die so bestimmte Geschichte eines Volkes wird aber für die Nachkommen auf doppelte Weise wirksam: Einerseits durch die Züchtung bestimmter körperlicher Eigenschaften durch den Daseinskampf und die Übertragung dieser Eigenschaften auf die Nachkommen im Wege der natürlichen Vererbung, andererseits durch die Erzeugung bestimmter Kulturgüter und ihre Überlieferung auf die Nachkommen durch Erziehung, durch Sitte und Recht, durch die Wirksamkeit des Verkehres der Menschen untereinander. Die Nation ist nie etwas anderes als Schicksalsgemeinschaft. Aber die Schicksalsgemeinschaft wird wirksam einerseits durch die natürliche Vererbung der durch das gemeinsame Schicksal der Nation angezüchteten Eigenschaften, andererseits durch die Überlieferung der durch das Schicksal der Nation in ihrer Eigenart bestimmten Kulturgüter. Wenn wir also die Nation einmal als Naturgemeinschaft und dann wieder als Kulturgemeinschaft betrachten, so fassen wir nicht etwa verschiedene, den Charakter der Menschen bestimmende Ursachen ins Auge, sondern verschiedene Mittel, durch welche die einheitlich wirkenden Ursachen – die Bedingungen des Daseinskampfes der Ahnen – für den Charakter der Nachkommen wirksam werden. Einerseits durch die natürliche Vererbung bestimmter Eigenschaften, andererseits durch die Überlieferung bestimmter Kulturgüter bestimmen die Geschicke der Ahnen den Charakter der Nachkommen.

Wollen wir nun die Nation als Kulturgemeinschaft betrachten, das heißt zeigen, wie der Nationalcharakter durch die gemeinsame Überlieferung der von den früheren Generationen überkommenen Kulturgüter bestimmt wird, so stehen wir auf einem viel sichereren Boden, als wenn wir die Entstehung der nationalen Charaktergemeinschaft aus der natürlichen Vererbung körperlicher Eigenschaften zu erklären suchten. Denn wenn wir hier nur auf verhältnismäßig wenige sichere Beobachtungen beschränkt, im übrigen auf Hypothesen angewiesen waren, so stehen wir dort auf dem sicheren Boden menschlicher Geschichte. Wir werden das Wesen der Nation als Kulturgemeinschaft so ausführlich, als es der Rahmen unserer Arbeit gestattet, an einem Beispiel zu zeigen suchen, nämlich an der Entstehung der nationalen Kulturgemeinschaft der Deutschen.

Hier handelt es sich aber nicht etwa darum, zu bestimmen, wie der inhaltlich bestimmte deutsche Nationalcharakter entstanden ist, also etwa zu untersuchen, welche Eigenschaften den deutschen Nationalcharakter zusammensetzen und nun zu forschen, wie jede einzelne dieser Eigenschaften in der Geschichte der deutschen Nation entstanden ist; sondern es handelt sich uns nur darum, an dem Beispiel der deutschen Nation zu zeigen, wie überhaupt der Nationalcharakter – wie immer er beschaffen sein mag – durch die Überlieferung der geschichtlich entstandenen Kulturgüter bestimmt werden kann, wie wir ja auch bei Besprechung der Nation als Naturgemeinschaft nicht die Entstehung irgend eines bestimmten Nationalcharakters auf dem Wege der Auslese und Vererbung, sondern nur die Entstehung des Nationalcharakters überhaupt durch die natürliche Vererbung der im Daseinskampf angezüchteten Eigenschaften verständlich zu machen suchten. Nicht die Entstehung eines bestimmten Nationalcharakters, sondern der Nachweis der Mittel, wie überhaupt die Überlieferung der Kulturgüter eine nationale Charaktergemeinschaft erzeugen kann, ist unsere Aufgabe. Mit dem formalen Vorgang der Entstehung des Nationalcharakters aus einer Kulturgemeinschaft, nicht mit der Ableitung irgend eines inhaltlich bestimmten Nationalcharakters haben wir es zu tun.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008