Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation


§ 2. Die Nation als Naturgemeinschaft


Dass Kinder den Eltern körperlich und geistig ähnlich sind, dass Geschwister einander ähneln, ist eine uralte Beobachtung. Die moderne Naturwissenschaft sucht diese Tatsache durch Beziehung auf unsere Kenntnis des Zeugungsprozesses verständlich zu machen. Die Befruchtung besteht in der Vereinigung zweier Zellen, die von einem männlichen und einem weiblichen Individuum abstammen. Das Kind gleicht Vater und Mutter, weil es aus der Vereinigung einer väterlichen und mütterlichen Zelle entsteht. Geschwister ähneln einander, weil sie aus der Vereinigung von Zellen derselben Organismen erzeugt wurden.

Seit es Hertwig gelungen ist, den Entwicklungsvorgang im Ei des Seeigels zu beobachten, kennen wir den Vorgang, aus dem das neue Lebewesen entsteht, genauer. Ein Samenfaden dringt in das Ei ein, wirft den Endfaden ab und bildet seinen Kopf im Ei zu einem kleinen Bläschen, dem Samenkern, um. Der neue Samenkern und der Kern des Eies wandern einander entgegen. Sie begegnen einander in der Mitte des Eies, legen sich dicht aneinander, platten sich an der Berührungsfläche gegenseitig ab, verlieren ihre Abgrenzung gegeneinander und bilden schließlich einen gemeinsamen Kern: so verschmelzen Samenkern und Eikern zu einem einfachen Keimkern.

Uralte, auf unzählige Einzelbeobachtungen gestützte Erfahrung lehrt uns, dass das Kind den Eltern gleicht. Die Beobachtung des Befruchtungsprozesses bei verschiedenen Lebewesen hat ergeben, dass das Kind aus der Verschmelzung einer vom väterlichen und einer vom mütterlichen Körper abgespaltenen Zelle entsteht. Die Wissenschaft schliesst daher, dass die Eigenart jedes Lebewesens durch die Qualität der Samen- und Eikerne bestimmt ist, aus deren Verschmelzung es entsteht.

Woher kommt es nun, dass Samenkern und Eikern Träger der Eigenschaften des Individuums sind, von dem sie sich abspalten, dass sie die Fähigkeit haben, die Eigenschaften eines Organismus auf einen anderen aus ihrer Verschmelzung neu entstehenden Organismus zu übertragen.“ Die Wissenschaft ist bisher noch keineswegs dahin gelangt, diese Frage auf Grund exakter Beobachtungen beantworten zu können. Wir sind daher auf Hypothesen angewiesen.

Darwin nahm an, dass alle Gewebe des Körpers kleinste Keimchen abstoßen und diese sich in den Geschlechtszellen anhäufen und verbinden. So ist es mittelbar der ganze Körper des Vaters und der Mutter, der das Kind erzeugt, denn jeder Teil sowohl des väterlichen als des mütterlichen Körpers bildet einen jener kleinen Keime. Diese Keime verbinden sich in den Geschlechtszellen, aus ihnen entsteht einerseits der Samenfaden, andererseits das Ei. Und aus der Verschmelzung von Samenkern und Eikern entsteht dann durch Wachstum und Zellteilung das Kind. So erzeugt der väterliche und mütterliche Körper den Keim und aus den Keimen entsteht das Kind. Das ist Darwins „provisorische Hypothese der Pangenesis“.

Die moderne Naturforschung hält diese Vermutung Darwins nicht mehr fest.

Sie ersetzt Darwins Hypothese der Pangenesis, nach der die Geschlechtszellen aus den von den Geweben des Körpers gebildeten und ausgesandten Keimen gebildet werden durch Weismanns Hypothese von der Dauerhaftigkeit des Keimplasmas.

Das Kind entsteht aus dem Keimkern, zu dem Samenkern und Eikern verschmolzen sind. Das Keimplasma, die Substanz dieses Keimkerns, zerfällt nun in zwei Teile: der eine Teil, das aktive Keimplasma, unterliegt einer Reihe von uns nur teilweise bekannten Veränderungen, bis aus ihm der Körper des Kindes entsteht. Der andere Teil dagegen, das inaktive Keimplasma, bleibt qualitativ unverändert; es bildet die Geschlechtszellen des Kindes. Die Geschlechtszellen des Kindes werden also nach dieser Hypothese nicht von seinem Körper gebildet, sondern entstehen unmittelbar aus den elterlichen Geschlechtszellen. Das aktive Keimplasma baut den Körper des Kindes auf, wird allmählich verbraucht und stirbt. Das inaktive Keimplasma dagegen geht von den Eltern auf die Kinder über, erhält sich im Samen oder im Ei des Kindes, ist unsterblich. Dass in der Aufeinanderfolge der Zeiten ein Geschlecht dem anderen gleicht, beruht also nach dieser Hypothese darauf, dass alle diese Geschlechter Erzeugnisse derselben Substanz sind, Erzeugnisse des von den Eltern auf das Kind übertragenen, in den Geschlechtszellen unverändert und unvergänglich weiter lebenden Keimplasmas.

Was ergibt sich nun aus der Lehre von der Vererbung für die Bestimmung des Wesens der Nation: Nehmen wir zunächst den einfachsten Fall. Eine Nation, die von einem Menschenpaar abstammt, wie es die Abstammungssagen der meisten Völker berichten, oder wenigstens von einer Sippschaft oder einer Horde. Die Charaktergemeinschaft ist hier kein anderes Problem als die Ähnlichkeit der Geschwister: sie beruht auf der Vererbung derselben Eigenschaften von gemeinsamen Ahnen. Die Nation erhält so ein materielles Substrat: das Keimplasma wird zu ihrem Träger. Vom Standpunkt der Hypothese Darwins aus gesehen, verknüpft die Zugehörigen einer Nation mit ihren ältesten gemeinsamen Stammeltern und durch diese auch miteinander jener fortwährende Prozess der Bildung der Keime aus den Geweben des Körpers und der Körpergewebe aus den Keimen. Noch einfacher stellt sich vom Standpunkt Weismanns aus der Körper als Träger des Nationalcharakters dar. Es ist das von Geschlecht auf Geschlecht in den Geschlechtszellen unverändert überlieferte Keimplasma, welches Träger der nationalen Eigentümlichkeiten ist. Könnten wir uns mit dieser Anschauung begnügen, so würden wir dem uns schon bekannten nationalen Spiritualismus einen nationalen Materialismus gegenüberstellen.

Die Tatsache des Nationalcharakters, der Gemeinsamkeit des Charakters der Zugehörigen einer Nation, ist durch die Erfahrung gegeben, die Wissenschaft will sie erklären. Der nationale Spiritualismus macht die Nation zur Verkörperung eines geheimnisvollen „Volksgeistes“; der nationale Materialismus dagegen sieht das Substrat der Nation in einer bestimmt organisierten Materie, in dem von Geschlecht auf Geschlecht übergehenden Keimplasma. Dem nationalen Spiritualismus ist die Geschichte der Nation nichts anderes als eine Erscheinungsform der nach eigenen, ihm innewohnenden Gesetzen fortschreitenden Entwicklung des Volksgeistes. Dem nationalen Materialismus dagegen ist die Geschichte der Nation die Erscheinungsform der Veränderungen des Keimpiasmas. Die ganze Weltgeschichte erscheint nun als bloßes Spiegelbild der Schicksale des Keimplasmas. Die Gebär- und Zeugungskraft der Rasse entscheidet über die Geschichte des Volkes; die Erhaltung der Reinheit des Blutes, die Vermischung der Keime verschiedener Abstammungsgemeinschaften – das sind die wahren großen Ereignisse der Weltgeschichte, die in den Lebensschicksalen der einzelnen Menschen und ganzer Nationen in Erscheinung treten.

Es kann nicht geleugnet werden, dass der nationale Materialismus eine höhere Stufe der Erkenntnis des Wesens der Nation erreicht hat als der nationale Spiritualismus. Denn wie wir bereits gesehen haben, ist der „Volksgeist“ nicht eine Erklärung der nationalen Charaktergemeinschaft, sondern eine metaphysische Umdeutung derselben, der die Ersetzung eines ursächlichen Verhältnisses durch eine Tautologie zugrunde liegt. Der nationale Materialismus knüpft dagegen an eine empirische Tatsache, an die Tatsache der körperlich bedingten Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die Kinder an. Die Überlegenheit des nationalen Materialismus über den nationalen Spiritualismus hat ihren letzten Grund darin, dass die Naturwissenschaft den Begriff der Materie, eines beharrenden Substrates der Naturobjekte als Bedingung ursächlicher Beziehungen des Geschehens, nicht entbehren kann, während die Psychologie seit Kants Vernunftkritik den Begriff der Seelensubstanz vollständig ausscheiden konnte. Der nationale Materialismus fusst auf dem auch unserer Naturwissenschaft noch unentbehrlichen Begriffe der Materie, der nationale Spiritualismus auf dem von der Psychologie aufgegebenen Begriffe der Seelensubstanz. Trotzdem können wir uns auch bei dem nationalen Materialismus nicht beruhigen.

Der nationale Materialismus beruht nämlich auf einem durch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft überwundenen Kausalbegriff. Der Begriff von Ursache und Wirkung hat geschichtlich-psychologisch seine Wurzeln in der unmittelbaren Erfahrung des handelnden Menschen. Wenn ich einen Stein werfe, so ist diese Handlung von mir hervorgebracht. Ich bin Ursache, die Handlung Wirkung. Ich, die Ursache, lebe weiter, die Handlung ist im Augenblicke vollbracht. Nach dem Muster dieser unmittelbaren Erfahrung malt sich ältestes Denken jedes Verhältnis von Ursache und Wirkung aus. Wo immer etwas geschehen, ist ein lebendes Wesen – ein Gott, eine Nymphe, ein Satyr verborgen, der das Geschehene hervorbringt. Allmählich überwindet der Mensch den Kausalbegriif der Mythologie. Aber wenn auch nicht mehr immer ein lebendes Wesen, so ist doch noch immer irgend ein Objekt, ein beharrendes Sein Ursache der einmaligen vergänglichen Handlung. Dies ist der substantielle Kausalbegriff: die äußeren Gegenstände sind Träger von Kräften, welche alles bewirken, was geschieht Die Sonne hat eine Licht- und Wärmekraft, der Stein eine Fallkraft, später die Erde eine Anziehungskraft – Kräfte, die dauernd an ein bestimmtes beharrendes Sein, an eine bestimmte Substanz gebunden sind. [1]

Es leuchtet nun ein, dass auch der nationale Materialismus auf diesem Kausalbegriffe beruht. Er ist zufrieden, hat er nur ein materielles Substrat, eine Ur-Sache für die Nation gefunden in dem von Geschlecht auf Geschlecht übergehenden Keimplasma. Diese merkwürdige Substanz ist das Beharrende in aller Veränderung, das Gemeinsame in aller Verschiedenheit; sie hat in sich die geheimnisvolle Kraft, Individuen mit bestimmter Eigenart aus sich zu erzeugen. Hat der Materialismus nur eine Ur-Sache gefunden und sie mit einer dauernd wirkenden Kraft begabt, als deren Erzeugnis alles Werdende und Seiende erscheint, so ist er zufrieden. Aber die moderne Wissenschaft hat diesen Kausalbegriff längst überwunden. Zuerst gab die Mechanik dem Begriff der Kraft neue Bedeutung. Er ist uns nun nicht mehr ein geheimnisvolles Wesen, dass in einer bestimmten Substanz verborgen ist, wie nach kindlichem Volksglauben die Dryade im Baum und die Najade in der Quelle, sondern Wechselbegriff der Masse. Beide aber verlieren ihren mythologischen Charakter, indem sie als bloße Größen betrachtet werden. Kraft ist die Beschleunigung, die an einer Masse von bestimmter Grösse hervorgebracht wird. Masse ist der Widerstand, den ein Körper einer Kraft von bestimmter Größe entgegensetzt. Die Kraft ist messbar, indem sie mit einer anderen Kraft, die auf dieselbe Masse wirkt, vergHchen wird. Die Masse ist messbar, indem sie mit einer anderen Masse, auf die dieselbe Kraft wirkt, verglichen wird. So werden zunächst Bewegungserscheinungen quantitativ vergleichbar. Die so begründete Mechanik wird nun zur Grundlage der gesamten Naturwissenschaft. Nun suchen wir nicht mehr, wie auf der Stufe des substantiellen Kausalbegriffes besonders geartete Substanzen, die als Träger geheimnisvoller Kräfte die Erscheinungen der Wärme, des Schalles, des Lichtes, der Elektrizität hervorbringen würden, sondern wir suchen Wärme, Schall, Licht. Elektrizität auf Bewegungsvorgänge desselben materiellen Substrats zurückzuführen, die qualitativen Verschiedenheiten durch Beziehung auf quantitative Veränderungen zu begreifen. So fragen wir nicht mehr nach den Substanzen als den Trägern der Kräfte, nicht mehr nach Ur-Sachen, sondern wir begreifen alles Geschehene als Umwandlung der Energie. [2]

Wir haben nicht eine beharrende, starr wirkende Substanz auf der einen, ihre sich wandelnden Wirkungen auf der anderen Seite, sondern die eben erst bewirkte Erscheinung wird sofort selbst zur wirkenden Ursache, die selbst neue Erscheinungen hervorbringt, die erstere sofort wieder als Ursache erscheinen lassen – und so weiter in endloser Kette. Unsere Psychologie kennt keine wirkenden Seelenvermögen mehr, sondern sie studiert die aufeinanderfolgenden psychischen Erscheinungen in ihrer Abhängigkeit voneinander. Die Naturwissenschaft fragt nicht mehr nach Substanzen, die als Träger mystischer Kräfte dauernde Bedingungen veränderlichen Werdens sind, sondern sie forscht, welchen Gesetzen zufolge eine Naturerscheinung auf die andere folgt. Wobei freilich der Unterschied bestehen bleibt, dass die Psychologie den Seelensubstanzbegriff völlig eliminiert hat, während für die Naturwissenschaft doch alle Bewegung schließlich Bewegung einer letzten einheitlichen Materie bleibt, auf die sich der SubstanzbegrifF zurückgezogen hat.)

Die Ersetzung des substantiellen durch den aktuellen Kausalbegriff stellt nun auch uns unsere Aufgabe. Wir werden uns nicht damit begnügen, im Keimplasma den stofflichen Träger nationaler Eigenart, in seiner geheimnisvollen Kraft der Bestimmung der aus ihm werdenden Individuen die Kraft, die die Nation erzeugt, zu entdecken, sondern wir werden auch diese Substanz hineinstellen in das System des Geschehens, in dem alles, was Ursache ist, zugleich selbst als Wirkung verstanden werden will. Das qualitativ bestimmte Keimplasma darf uns nicht bloße Ursache bleiben, wir müssen es selbst als Wirkung begreifen. Ist eine bestimmte Materie das stoffliche Substrat der nationalen Charaktergemeinschaft, so fragen wir nun weiter nach den Ursachen, welche ihrerseits die Qualität dieser die aufeinanderfolgenden Geschlechter verknüpfenden Materie bestimmen. Wie können wir die Eigenart des die Nationsgenossen materiell verknüpfenden Keimplasmas im Zusammenhange alles Naturgeschehens ursächlich begreifen? Hier weist uns zunächst die von Darwin begründete Lehre von der natürlichen Auslese einen Weg.

Die Tatsache, von der die Lehre Darwins ausgeht, ist die individuelle Variation. Kinder desselben Elternpaares sind einander ähnlich, aber niemals einander völlig gleich. Je größer der Kreis stammesverwandter Personen ist, die wir ins Auge fassen, je weiter sich der Stammbaum einer Familie verästelt, desto auffallender werden die individuellen Verschiedenheiten der blutsverwandten Personen. Die körperlichen und geistigen Merkmale, durch die sich blutsverwandte Personen voneinander unterscheiden, sind teilweise erworbene Eigenschaften; die Individuen sind verschieden, weil ihre Umgebung, ihre Erziehung, ihre Lebensweise, ihre Schicksale verschieden waren. Zu diesen Variationen gehören nicht nur jene, die die Menschen nach der Geburt erworben haben; vielmehr sind die Individuen schon darum verschieden, weil die Lebensbedingungen, die Schicksale der Kinder im Mutterleibe niemals völlig gleich sind. Indessen ist es gewiss, dass die individuellen Verschiedenheiten blutsverwandter Personen nicht restlos aus der Verschiedenheit ihres Schicksals im Mutterleibe und nach der Geburt erklärt werden können. Neben den erworbenen gibt es auch ererbte individuelle Verschiedenheiten. Wenn blutsverwandte Menschen einander ähnlich, aber niemals einander gleich sind, so beruht dies auch darauf, dass die Keimzellen, aus denen sie entstanden sind, nicht völlig gleich waren. Die moderne Naturwissenschaft sucht diese Erscheinung durch die Erforschung des Wesens und der Wirkungen der Amphimixis, durch die Beobachtung des Reduktionsprozesses, im letzten Grunde durch die Annahme zu erklären, dass das Keimplasma stets aus zahlreichen wesensverschiedenen Elementen mit verschiedener gestaltbildender Kraft besteht. Es ist unnötig, hier auf diese Hypothesen einzugehen; ist doch die individuelle Variation eine Erfahrungstatsache, die, wie immer sie zu erklären sein mag, doch gewiss nicht geleugnet werden kann. Diese individuelle Variation ist nun die Voraussetzung der Auslese durch natürliche Zuchtwahl.

Betrachten wir beispielsweise ein Nomadenvolk, das von der Jagd und Viehzucht lebt: Solange Weideplätze überreich vorhanden sind, ist sein Nahrungsspielraum unbeschränkt; vermehren aber das Hirtenvolk und ebenso die benachbarten Hirtenvölker ringsum ihre Zahl, so wird jedem dieser Völker der Boden zu eng und zwischen ihnen entsteht ein erbitterter und dauernder Kampf um die Futterplätze und Jagdgründe. In diesen Kämpfen haben nun offenbar diejenigen Individuen, welche zufällig, durch individuelle Variation, für den Kampf besonders geeignet sind, am meisten Aussicht, zu überleben und sich fortzupflanzen. Die Feigen und Trägen, diejenigen, deren Faust zu schwach und deren Auge nicht scharf genug ist, werden am ehesten in den fortwährenden Kämpfen mit den Nachbarvölkern zugrunde gehen, sie werden am wenigsten Aussicht haben, Kinder zu zeugen. Überleben und ihre Art fortpflanzen werden die wehrhaftesten Individuen; die für den Kampf minder geeigneten werden untergehen. Nun vererbt sich aber die Art des Vaters auf den Sohn. Haben an der Fortpflanzung des Volkes die wehrhaften Individuen größeren Anteil als die für ein kampfreiches Leben weniger geeigneten, so wird die kommende Generation zum grösseren Teil aus wehrhaften Individuen bestehen. Bleiben die Lebensbedingungen des Volkes unverändert, so wird schließlich das ganze Volk sich aus wehrhaften Individuen zusammensetzen, die minder wehrhaften werden durch ihre fortwährende Ausscheidung in den Kämpfen fast völlig verschwinden.

Darwin hat die Wirkung des Kampfes ums Dasein, die wir an diesem Beispiel dargestellt haben, mit dem bewussten Vorgehen des Tierzüchters verglichen. Wenn zum Beispiel ein Tierzüchter immer nur Hähne mit langen Schwanzfedern zur Züchtung verwendet, Hähne mit kurzen Schwanzfedern von der Fortpflanzung ausschließt, so werden schließlich ganze Generationen mit fortschreitend länger werdenden Schwanzfedern herangezüchtet. Auf diese Weise ist eine Spielart des japanisch-koreanischen Haushahnes mit sechs Fuß langen Schwanzfedern gezüchtet worden. Was nun bei künstlicher Zuchtwahl durch das bewusste Verfahren des die Fortpflanzung der Haustiere leitenden Züchters geschieht, das geschieht in der Natur ähnlich durch die Wirkungen des Daseinskampfes ohne das Hinzutreten eines bewussten Willens – durch natürliche Zuchtwahl. Bei Jenen Jäger- und Hirtenvölkern haben die Bedingungen, unter denen sie ihren Lebensunterhalt suchen mussten. im Laufe der Zeiten die wehrhafte Spielart herangezüchtet, die für den Kampf minder geeignete ausgeschieden, ganz so, als ob irgend ein Züchter ihre Fortpflanzung überwacht und geleitet und immer nur die kampftauglichen zur Fortpflanzung der Art zugelassen hätte. Die Wirkungen der natürlichen Zuchtwahl werden durch die geschlechtliche Zuchtwahl gesteigert. Unter jenen Nomadenvölkern zum Beispiel werden diejenigen Männer das meiste Ansehen genießen, die sich im Kampfe besonders ausgezeichnet. Es werden nun die Frauen demjenigen am liebsten ihre Gunst schenken, der im Ansehen des ganzen Volkes am höchsten steht, also wieder dem wehrhaften Manne. Auch aus diesem Grunde werden also die Kampftauglichen besonders günstige Aussicht haben, ihre Art fortzupflanzen.

Wissen wir also den fruchtbringenden Gedanken Darwins von der natürlichen Zuchtwahl zu verwerten, so gewinnt für uns die Lehre von der Vererbung ganz neue Bedeutung. Der nationale Materialismus hat sich damit begnügt, festzustellen, dass die oder jene Nation diesen oder jenen Charakterzug zeige, das beruhe auf der Vererbung – letztlich darauf, dass die Zugehörigen der Nation alle aus jenem bildenden Plasma geworden sind, das der Träger dieser oder jener Eigenschaften sei. Wissen wir aber Darwins Gedanken von der natürlichen Auslese zu nutzen, so wird uns nun mehr klar. Dass dieses oder jenes Volk besonders wehrhaft sei. das mag in der Tat auf der physiologisch bedingten Vererbung beruhen. Aber warum vererbt sich hier die Wehrhaftigkeit? Vielleicht darum, weil vor Jahrhunderten die Ahnen dieser Völker ein kriegerisches Nomadenleben führen mussten, weil immer mehr und mehr die minder Wehrhaften von der Fortpflanzung ausgeschieden wurden und daher nur die Kampftauglichen ihre Art fortpflanzen konnten.

Die ererbte Wehrhaftigkeit eines Volkes ist also der Niederschlag seiner Geschichte in vergangenen Jahrhunderten, das Ergebnis der Bedingungen, unter denen es seinen Lebensunterhalt suchte. Die Vererbung der Charaktereigenschaften der Eltern auf die Kinder ist nur ein Mittel, durch das die Lebensbedingungen, die Bedingungen, unter denen ein Volk seinen Lebensunterhalt sucht, erarbeitet, erkämpft, auch noch für spätere Generationen wirksam werden. Die Lehre von der Vererbung solcher Eigenschaften steht mit der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung Karl Marx’ nicht im Widerspruch, sondern gibt ihr neue Bedeutung. Die Bedingungen, unter denen ein Volk seinen Lebensunterhalt produziert, regeln seine Auslese. Die diesen Bedingungen Bestangepassten überleben und pflanzen ihre Art fort, vererben daher ihre Eigenschaften auf die späteren Geschlechter, die Minderangepassten werden bei längerer Dauer gleicher Produktionsbedingungen allmählich ausgeschieden; in den ererbten Charaktermerkmalen späterer Generationen spiegeln sich daher die Produktionsbedingungen früherer Geschlechter wieder.

Diese Produktionsbedingungen sind aber nicht eine bestimmt geartete Materie, sondern der Inbegriff verschiedenartiger sozialer Erscheinungen. Diese Erscheinungen werden von der Geschichte beschrieben, von den Sozialwissenschaften als Einzelfälle von Gesetzen begriffen, in ihrer Abhängigkeit voneinander erklärt. Der nationale Materialismus begnügt sich damit, die Geschichte der Nation zur Wirksamkeit einer qualitativ bestimmten, mit geheimnisvoller Kraft begabten Materie, des Keimplasmas, zu machen; er glaubt, wechselndes Geschehen zu erklären, wenn er in ihm die beharrende Substanz entdeckt. Uns aber ist die natürliche Vererbung nur ein Mittel, durch das die wechselnden Geschicke der Ahnen den Charakter aller ihrer Nachkommen bestimmen und diese Nachkommen dadurch zu einer Charaktergemeinschaft, zu einer Nation, zusammenschließen. Uns ist daher die nationale Charaktergemeinschaft nicht mehr bloße Äußerung der geheimnisvollen Kraft der Substanz, aus der alle Nationsgenossen entstanden sind und die in allen Nationsgenossen lebt, sondern sie ist mitten hineingestellt in das Weltgeschehen, in dem alles, was Ursache ist. selbst als Wirkung verstanden werden will, und alles, was eben erst Wirkung war, selbst zur Ursache wird. [3]

Wir haben bisher angenommen, dass durch natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl die Auslese unter den verschiedenen ererbten individuellen Variationen eines Volkes geübt wird. Dass die natürliche Auslese in der beschriebenen Weise darüber entscheidet, welche Eigenschaften weiter vererbt werden, ist gewiss; strittig ist dagegen noch immer, ob auch die nicht angeborenen, ererbten, sondern durch eine bestimmte Lebensweise erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen übertragen werden.

Zur Zeit, da unser Nomadenvolk infolge der Vermehrung seiner Bevölkerungszahl in fortwährende Kämpfe mit den Nachbarvölkern verwickelt wurde, bestand es aus wehrhaften und minderwehrhaften Individuen. Diese Verschiedenheiten waren angeboren, durch das Spiel des Reduktionsvorganges und der Amphimixis entstanden. Dass nun die so ererbte Wehrhaftigkeit mancher Individuen für diese unter bestimmten Lebensbedingungen zum Vorteil im Daseinskampfe wird und daher durch diesen Daseinskampf selbst infolge der Auslese der den Lebensbedingungen des Volkes Bestangepassten ein wehrhaftes Volk herangezüchtet wird, ist gewiss. Lamarck und Darwin nahmen aber an, dass auch die Steigerung der Wehrhaftigkeit, welche durch die Lebensweise selbst herbeigeführt wird, auf die Nachkommen vererbt werde, dass also die späteren Geschlechter nicht nur darum wehrhafter sein werden als die früheren, weil die minder wehrhaften Individuen allmählich ausgerottet und von der Fortpflanzung ausgeschieden werden, sondern auch darum, weil die Väter die in den zahlreichen Kämpfen geübte, erworbene, verstärkte Kriegslist und Kühnheit, die geschärften Augen und gestärkten Arme – also nicht kraft der individuellen Variation des Keimes ererbte, sondern durch ihre Lebensweise erworbene Eigenschaften – auf ihre Nachkommen übertragen. Wäre das richtig, so würde die Wirkung bestimmter Lebensbedingungen auf die ererbten Eigenschaften der Nachkommen natürlich noch viel bedeutsamer und schneller sein, als wenn nur die ererbten Eigenschaften vererbt werden und die Regelung, welche Eigenschaften vererbt werden, nur der Ausscheidung der bestimmten Lebensbedingungen minder Angepassten von der Fortpflanzung überlassen bleibt.

Dass gewisse erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden, ist gewiss. Die täghche Erfahrung lehrt, dass etwa die Narben, die dem Vater oder der Mutter von irgend einer Verwundung geblieben, sich keineswegs auf das Kind vererben. Ebenso gewiss ist es aber auch, dass gewisse, nicht ererbte, sondern im Leben erworbene Eigenschaften auf die Nachkommen vererbt werden, diejenigen nämlich, durch welche ein unmittelbarer Einfluss auf den Keim ausgeübt wird. So wird zum Beispiel eine durch Alkoholgenuss erworbene Krankheitserscheinung zweifellos auf die Kinder übertragen, da durch den Alkohol die Flüssigkeiten, welche die Keimzellen ernähren, und dadurch auch das Keimplasma selbst vergiftet werden. Dagegen ist der Streit darüber noch unentschieden, ob auch körperliche Veränderungen, die nicht durch ein einmaliges zufälliges Ereignis, sondern durch dauernden Einfluss erworben werden, aber nicht unmittelbar auf die Ernährung des Keimplasmas einwirken können, vererbt werden oder nicht.

Wie immer aber schließlich die Entscheidung über diese Streitfrage fallen mag, prinzipiell ändert sie nichts an unserer Anschauung von der Bedeutung der natürlichen Vererbung für das Wesen der Nation.

Die ererbten Eigenschaften einer Nation sind nichts anderes als der Niederschlag ihrer Vergangenheit, gleichsam ihre erstarrte Geschichte. Die Einwirkung der Lebensbedingungen der Ahnen auf die Charaktere der Kinder geschieht jedenfalls dadurch, dass durch die Lebensbedingungen der Ahnen auf dem Wege der natürlichen Auslese darüber entschieden wird, welche Eigenschaften sich vererben und welche allmählich ausgeschieden werden. Die Wirkung der natürlichen Auslese wird vielleicht dadurch gesteigert, dass auch die durch die bestimmten Lebensbedingungen der Ahnen erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen übertragen werden. Wie immer dies sein mag, ist der ererbte Charakter durch nichts anderes bestimmt als durch die Geschichte, die Vergangenheit der Ahnen. Die Zugehörigen einer Nation sind also körperlich und geistig einander ähnlich, weil sie von denselben Ahnen abstammen und daher alle jene Eigenschaften ererbt haben, die den Ahnen durch den Kampf ums Dasein im Wege der natürlichen und der geschlechtlichen Zuchtwahl angezüchtet, vielleicht auch jene, welche von diesen Ahnen in ihrem Streben nach dem Lebensunterhalt erworben worden sind. So begreifen wir die Nation als ein Erzeugnis der Geschichte. Wer die Nation als Naturgemeinschaft studieren will, der wird sich nicht damit begnügen dürfen, eine bestimmte Materie – etwa ein von den Eltern auf die Kinder übertragenes Keimplasma – zum Substrat der Nation zu machen, sondern er wird die Geschichte der Produktions- und Austauschbestimmungen der Ahnen studieren und aus dem Daseinskampf der Ahnen die ererbten Eigenschaften der Nachkommen zu begreifen suchen.

Wir wissen heute freilich noch sehr wenig darüber, welche Eigenschaften vererbt werden können und wie schnell die Wirkungen veränderter Lebensbedingungen auf die ererbten Eigenschaften sich äußern. Darum werden wir die Handlungen einer Nation immer zuerst aus ihren jetzigen Lebensgewohnheiten zu erklären suchen, deren Wirksamkeit ja zweifellos ist, und erst, so weit uns dies zu keinem Ergebnis führt, nach den Wirkungen der Lebensbedingungen der Ahnen, die auf dem Wege der Vererbung auch für die Nachkommen wirksam werden, fragen. Dass es aber solche Wirkungen gibt. dass die Geschichte der Ahnen in der ererbten Beschaffenheit der Nachkommen lebendig ist, unterliegt keinem Zweifel.

Was nun von den Nationen gilt, die von einem Elternpaare oder einer Sippschaft oder einer Horde abstammen, das gilt auch von den Völkern, in deren Adern das Blut verschiedener Völker vermengt ist. So haben die Franzosen gewisse Eigenschaften der Gallier, der Römer und der Germanen ererbt. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die diesen drei Völkern durch die Art ihres Daseinskampfes angezüchteten Eigenschaften im Charakter der Franzosen wieder erscheinen, dass also die Geschichte dieser drei Völker im Charakter jedes einzelnen Franzosen heute noch wirksam, lebendig ist. Die Bedingungen, unter denen die Ahnen ihren Lebensunterhalt erarbeitet und erkämpft haben, bestimmen die ererbten Eigenschaften der Nachkommen.


Fußnoten

1. Wundt, System der Philosophie, Leipzig 1897, Seite 280 ff.

2. Wundt, a.a.O., S.285ff.

3. Die materialistische Geschichtsauffassung steht nicht im Widerspruche zu der Lehre von der Vererbung, wohl aber im Widerstreit mit dem nationalen Materialismus, der, statt die „Erbsubstanz“, das Keimplasma, selbst in seiner materialen Bestimmtheit durch die Geschichte der Ahnen zu begreifen, mit der Feststellung eines stofflichen Substrates der Nation alle Rätsel gelöst glaubt. Hier zeigt sich wieder, wie wenig materialistisch – im Sinne des Sprachgebrauches der heutigen Wissenschaft – die Geschichtsauffassung Karl Marx’ ist.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008