Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


Vorwort


In allen Staaten des europäischen Kulturkreises steht die Stellung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu den nationalen Fragen im Mittelpunkte der politischen Diskussion. In Österreich und Russland ist die nationale Frage das schwierigste Problem der inneren Politik. Aber auch die Sozialdemokratie der west- und mitteleuropäischen Nationalstaaten kann sich der Erörterung des Verhältnisses der nationalen Gemeinschaft zum Staate nicht entziehen; sind doch die nationalen Fragen mit den Problemen der auswärtigen Politik untrennbar verknüpft, die für die Arbeiterklasse aller Nationen von Jahr zu Jahr wachsende Bedeutung gewinnen.

Wollen wir die Entwicklungsrichtung der sozialdemokratischen Nationalitätenpolitik erforschen, so müssen wir den Kräften nachspüren, die, auf Millionen Arbeiter, auf Tausende Vertrauensmänner wirkend, das Bewußtsein der Arbeitermassen formen, ihre Entschließungen in allen Fragen des nationalen Lebens bestimmen. So lernen wir es, die Nationalitätenpolitik der Sozialdemokratie aus der Stellung der Arbeiterklasse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die nationale Frage als soziales Problem zu begreifen. Es gilt hier, Marx’ Methode der sozialen Forschung auf neuem Arbeitsfelde zu erproben. In diesem Sinne will meine Schrift eine „Marx-Studie“ sein.

Die nationale Gemeinschaft ist eines der kompliziertesten sozialen Phänomene, ein Komplex der verschiedenartigsten sozialen Erscheinungen. Wer erforschen will, wie das Band der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft den Willen der kämpfenden Arbeiterklasse bestimmt, muss daher auch von verschiedenen Seiten aus sein Problem in Angriff nehmen. Wollen wir dieser Aufgabe nicht völlig entsagen, so müssen wir es wagen, die Grenzen unseres engeren Arbeitsfeldes zu überschreiten, bald da, bald dort einen uns minder vertrauten Weg zu betreten. Auch ich hätte lieber auf meinem engeren Arbeitsgebiete meine gewohnte Arbeit fortgesetzt, statt mich hier, auf fremde und nicht selten unvollkommene Forschungen gestützt, um ein Problem zu bemühen, dessen Vielfältigkeit und Verworrenheit der Arbeitskraft und dem Wissen eines einzelnen eine niemals vollkommen lösbare Aufgabe setzt. Aber die kämpfende Arbeiterklasse kann nicht das Argument des Tages entbehren, weil spätere Jahre es als unvollkommen erweisen mögen. Und so manchem, der noch ratlos den Kämpfen der Klassen und Parteien gegenübersteht, wird unsere Sammlung des Materials, unsere Ordnung der Argumente, wie mangelhaft sie auch sein mag, willkommen sein als Grundlage zu weiterer Forschung.

Für meine Folgerungen und Forderungen trage ich allein die Verantwortung. Ich weiß, dass viele meiner Parteigenossen über so manches Problem der sozialdemokratischen Nationalitätenpolitik anders denken als ich. Kein billig denkender Gegner wird die Gesamtpartei für die Ansichten eines einzelnen Parteigenossen verantwortlich machen.

Der größte Teil des Buches, das ich heute der Öffentlichkeit übergebe, war bereits im Jahre 1906 geschrieben und gedruckt. Äußere Umstände haben sein Erscheinen verzögert.

Wien, den 24. Mai 1907

Otto Bauer


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008