Otto Bauer

Bücherschau

Aus der tschechischen Parteiliteratur

(Oktober 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 1. Heft, Oktober 1907, S. 42–44.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Oesterreichs politisches Leben ist mit dem anderer Staaten kaum vergleichbar. Wohl sind auch wir alle einem Staate unterworfen und um die Lösung der Probleme, die derselbe Staat, dasselbe Wirtschaftsgebiet uns stellt, mühen sich alle Parteien, alle Nationen. Aber es sind acht Völker, die hier um die Bedingungen ihrer Entwicklung ringen, acht Völker mit verschiedenem sozialen Aufbau, verschiedener geschichtlicher Ueberlieferung, mit verschiedener, gegen die der anderen Nationen scharf abgegrenzter öffentlicher Meinung. Wir müssen die Kräfte aller Nationen, all ihrer Klassen und Parteien in unsere politischen Berechnungen einsetzen und kennen im Grunde doch nur die Kräfte, die unseres eigenen Volkes Wollen und Handeln bestimmen.

Diese Schwierigkeit völlig zu überwinden, ist eine unlösbare Aufgabe. Denn die politischen Entschliessungen jedes einzelnen und jeder Organisation sind durch vielfältige Bande mit der ganzen Entwicklung der nationalen Kultur verknüpft. Selbst Kinder der Kulturgemeinschaft unserer Nation, werden wir die im Erdreich fremder Kultur wurzelnde Politik anderer Nationen niemals so völlig verstehen wie die der Klassen und Parteien unseres eigenen Volkes.

Die Aufgabe, die politischen Kräfte, die das Schicksal Oesterreichs und seiner Völker bestimmen, im Zusammenhänge mit der gesamten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Nationen zu begreifen, wird niemals vollkommen lösbar sein; aber diese Erkenntnis entbindet uns nicht der Pflicht, uns ernsthaft und rastlos zu bemühen, der Lösung dieser Aufgabe so nahe zu kommen, als unser Können und Wissen es gestattet. Eine deutsche Zeitschrift in Oesterreich würde eine ihrer wichtigsten Aufgaben nicht erfüllen, wenn sie es unterliesse, ihre Leser über alles zu unterrichten, was im Bewusstsein der nichtdeutschen Nationen dieses Staates lebt und ihr politisches Wollen gestaltet. Darum halten wir es für unsere Pflicht, unseren Lesern regelmässig über die Entwicklung der sozialen und politischen Gedankenwelt der slawischen und romanischen Nationen Oesterreichs und insbesondere der Arbeiterklasse dieser Völker zu berichten. Wir hoffen, dass uns die Unterstützung unserer nichtdeutschen Genossen diese schwierige Aufgabe erleichtern wird.

Klarer als umfangreiche Bücher, in denen sich doch allzu oft nur das Wissen und die geistige Reife eines einzelnen widerspiegelt, zeigen uns oft kleine, dem politischen Kampfe dienende Schriften die Probleme, die die Massen unserer nichtdeutschen Genossen interessieren, die Kampfesaufgaben, die ihnen gestellt sind. Sie führen uns mitten in den Kampf, in dem sich unsere Genossen so tapfer schlagen; die Wahl des Stoffes und der Argumente zeigt uns das geistige Leben unserer nichtdeutschen Genossen in seiner lebendigen Wirklichkeit.

Darum verdient auch die kleine Broschüre unser Interesse, die Genosse E. Burian vor kurzem im Verlage der Brünner »Rovnost« herausgegeben hat. [1]

Im ersten Abschnitt seines Schriftchens sucht Genosse Burian die landläufigen Argumente gegen den Sozialismus zu widerlegen- Er stellt das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln dem Sondereigentum an Lebens- und Genussmitteln gegenüber. Heute besitzt die Mehrheit des Volkes nicht so viele Konsumtionsgüter, dass sie ihre Bedürfnisse menschenwürdig zu befriedigen vermöchte. Wir müssen das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln aufheben, die Produktionsmittel in das Eigentum der organisierten Gesellschaft überführen, damit wir den Massen ein ihren Bedürfnissen genügendes Sondereigentum an den Konsumtionsgütern geben können. Darum führt der Sozialismus seinen Kampf nicht nur für die Lohnarbeiter, die keine Produktionsmittel besitzen, sondern auch für die Handwerker und Kleinbauern, deren dürftiger Besitz an Arbeitsmitteln nicht zureicht, ihnen Konsumtionsgüter in genügender Menge zuzueignen. Der Sozialismus wird die Kapitalisten und Grossgrundbesitzer zwangsweise enteignen, nicht die Kleingewerbetreibenden und Bauern. Wohl aber werden diese, wenn erst das kapitalistische Sondereigentum aufgehoben ist, gern ihre Arbeitsstelle im Einzelbetriebe freiwillig mit einer Arbeitsstelle in den gesellschaftlichen Werkstätten vertauschen. Sie werden dafür erst ein wirkliches Heim eintauschen, in dem sie alle Bedürfnisse eines Kulturmenschen befriedigen können. Keine Klasse aber hat an der Vergesellschaftlichung der kapitalistischen Betriebe ein so lebhaftes Interesse wie die überwiegende Mehrheit der Landbevölkerung. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft sammeln sich in den Städten alle Macht, aller Reichtum, alle Kultur. Gewaltige Mittel sind nötig, wenn wir das Landvolk aus seinem Elend und seiner Unwissenheit befreien wollen. Ueber diese Mittel wird die Gesellschaft erst verfügen, wenn sie das Eigentum an Fabriken, an Berg- und Hüttenwerken, an den grossen Latifundien den Händen der Kapitalisten entwunden haben wird.

In einem zweiten Abschnitt seiner Schrift beschäftigt sich Genosse Burian mit dem Verhältnis des Sozialismus zur Nation. Er zeigt, wie sich die herrschenden Klassen aller Nationen gegen das arbeitende Volk immer zu einer internationale der Ausbeutung und Unterdrückung verbunden haben. Dagegen vereinigen sich die Arbeiter aller Völker, um allen Nationen die Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung zu erkämpfen und alle Ausbeutung und Unterdrückung niederzuringen. Die tschechischen bürgerlichen Parteien haben viele Jahrzehnte lang die ganze Aufmerksamkeit der Nation auf die Sprachenfrage gerichtet und dennoch nur geringe Erfolge auf diesem Arbeitsfelde erzielt. Um die wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse des arbeitenden Volkes hat sich das tschechische Bürgertum nicht gekümmert. Die Vernachlässigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse des Volkes hat die ganze Nation geschädigt. Nur das Aufblühen des Prager Industriegebietes hat die tschechische Nation in Böhmen vor einem Rückgang ihrer Volkszahl bewahrt. Die tschechische Sozialdemokratie dagegen hat stets ihre Pflichten gegenüber ihrer Nation erfüllt. Sie hat stets für den Ausbau des tschechischen Schulwesens gekämpft und gefordert, dass jedes tschechische Kind eine tschechische Schule besuche. Sie erkennt die Forderungen der tschechischen bürgerlichen Parteien in der Amtssprachenfrage als berechtigt an; aber ihre Erfüllung genügt den Bedürfnissen der Nation noch nicht. Erst wenn an die Stelle der bureaukratischen Verwaltung die demokratische Selbstverwaltung tritt, werden die Völker selbst für die Befriedigung ihrer nationalen Bedürfnisse sorgen können. Das böhmische Staatsrecht lehnt die tschechische Sozialdemokratie ab, weil sie die tschechischen Minderheiten ausserhalb der Sudetenländer nicht preisgeben will. Genosse Burian lehnt aber auch die nationale Autonomie auf Grund des Territorialprinzips ab, da die tschechische Nation noch eine grosse Expansionskraft habe und auf ihre Volksgenossen in den deutschen Siedlungsgebieten nicht verzichten könne. Alle Tschechen, wo immer sie wohnen und arbeiten, sollen ein grosses nationales Ganzes bilden. Genosse Burian will also, wie es scheint, die nationale Autonomie auf das Personalitätsprinzip aufbauen. Aber auch auf die ungarischen Slowaken könne die tschechische Nation nicht verzichten. Erst die Herstellung der nationalen Autonomie werde die ganze tschechisch-slowakische Nation wieder vereinigen. Aber nicht nur durch ihren Kampf für die nationale Selbstbestimmung und nationale Einheit erfüllt die tschechische Sozialdemokratie ihre nationale Aufgabe, sondern auch durch ihre sozialen Kämpfe. Der tschechische Arbeiter, der für einen deutschen Kapitalisten front, werde leicht seiner Nationalität beraubt. Erst wenn die Kraft der sozialdemokratischen Organisationen die Abhängigkeit der Arbeiterschaft von den Kapitalisten verringert, könne der tschechische Arbeiter gegen die Gefahr der Entnationalisierung geschützt werden. Darum sei die Tätigkeit der Sozialdemokratie insbesondere unter der tschechischen Arbeiterschaft im deutschen Sprachgebiete von grösster nationaler Bedeutung.

Im letzten Abschnitt endlich bespricht Genosse Burian das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion. Der Sozialismus fordert volle Freiheit des Glaubens und Bekennens für jedermann, Klerikalismus ist Glaubenszwang. Die besitzenden Klassen haben die Forderung der freien Schule für ihre Schulen verwirklicht; denn die Hochschulen sind von der Herrschaft der Kirche befreit, die Mittelschulen den kirchlichen Machthabern nur in geringerem Masse unterworfen. In den Volksschulen dagegen herrscht die Kirche noch unumschränkt. Den Klerikalismus zu überwinden, die Volksschule von der Zwangsgewalt der Kirche zu befreien, vermag nur die Demokratie. Im halbabsolutistischen Deutschen Reiche hat der »Kulturkampf« mit einem Misserfolg, im demokratischen Frankreich mit einem grossen Erfolg geendet. Dies beweist, dass nur die Demokratisierung des Staates den Weg zum Siege über den Klerikalismus bahnt.

Zeigt uns die Broschüre des Genossen Burian die tschechischen Genossen mitten im politischen Kampfe, so geleitet uns das eben erschienene Protokoll des Pilsner Parteitages [2] in den Kriegsrat der tschechischen Sozialdemokratie. Das Protokoll berichtet ausführlich über die interessanten Beratungen des Parteitages über den Bericht der Parteivertretung, über die parlamentarische Tätigkeit und Taktik, über den Kampf um das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für die Landtage und Gemeindevertretungen, über die neue Organisation der Partei und über das Genossenschaftswesen. In der Debatte über die parlamentarische Taktik und über den Kampf für das Landtagswahlrecht wurden auch die Fragen unseres Nationalitätenprogramms und unserer Nationalitätenpolitik wiederholt gestreift. Alle Redner erkannten die Notwendigkeit des ein trächtigen Zusammenwirkens mit der deutschen Sozialdemokratie an; alle Redner bekannten sich zum Programm der nationalen Autonomie. Im einzelnen aber zeigten sich mannigfache Meinungsverschiedenheiten.

Genosse Josef Steiner will die tschechischen Minderheiten in den deutschen Siedlungsgebieten nicht preisgeben und lehnt darum das Territorialprinzip ab; er will der nationalen Autonomie das Personalitätsprinzip zugrundelegen. Genosse Modráćek dagegen fürchtet, dass bei Anlegung von Nationalkatastern wirtschaftlich abhängige Personen gezwungen würden, sich in den fremden Nationalkataster eintragen zu lassen, wie dies in Mähren geschehen sei. Die Abgrenzung nationaler Territorien, die Konstituierung der Nationen als Gebietskörperschaften sei für politisch und wirtschaftlich schwache Nationen, wie dies die Tschechen seien, vorteilhafter.

Aber nicht nur über die nähere Ausgestaltung der nationalen Autonomie, sondern auch darüber, inwieweit sie eine Lösung der nationalen Probleme bedeutet, bestehen verschiedene Meinungen. Genosse Meissner glaubt, dass die nationale Autonomie keine erschöpfende Lösung des ganzen Komplexes der nationalen Fragen bedeutet. Erstens lasse sie die Amtssprachenfrage ungelöst. Zweitens werde sie den Kämpfen der Nationen um die Verwendung der staatlichen Einkünfte kein Ende bereiten. Denn auch nach Durchführung der nationalen Autonomie sei es nötig, dass die wirtschaftlich schwächeren Nationen aus den Mitteln der Gesamtheit unterstützt werden. Es gehe nicht an, dass die Deutschen, deren Schulwesen aus den von allen Nationen aufgebrachten Steuergeldern ausgebaut worden sei, es nun ablehnen, zum Ausbau des Schulwesens der anderen Völker beizutragen.

Wir müssen es uns heute versagen, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, die auf dem Pilsner Parteitage unserer tschechischen Genossen aufgeworfen wurden. Hierzu wird sich in unserem Blatte noch oft Gelegenheit bieten.

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Fussnoten

1. E. Burian, Socialistické „epistoly.“ Brünn, 1907. Verlag der »Rovnost«. Preis 20 h.

2. Protokol VIII. sjezdu českoslovanské sociálně-demokratické strany dělnické. Prag 1907. Preis: 80 h.

 


Leztztes Update: 6. April 2024