David Balakan

Die Sozialdemokratie
und das jüdische Proletariat


7. Die jüdischen sozialdemokratischen
Parteien in Osteuropa


Man sollte meinen, daß unter den Sozialdemokraten über die praktische Bedeutung der sogenannten Judenfrage volle Klarheit herrscht. Doch dem ist leider nicht so. Wo die jüdischen Proletariermassen zum Bewußtsein ihrer Lebenskraft kommen, und entsprechende Organisationsformen anstreben, stellen sich ihnen erbitterte Gegner im eigenen sozialdemokratischen Lager entgegen, einzig und allein wegen der Organisationsform. Man sollte es kaum glauben, mit welchen uralten, verschimmelten Begründungen dies geschieht. So geht es dem „Bund“ in Rußland seit seiner im September 1897 erfolgten Gründung. Das gleiche Schauspiel wiederholt sich gegenüber der seit 1. Mai 1905 bestehenden jüdischen sozialdemokratischen Partei in Österreich.

Uns soll vornehmlich der häusliche Krieg in Österreich beschäftigen. Aber die Gegner des „Bundes“ sind auch die Gegner in Österreich und so werden die Gründe gegen eine besondere jüdische sozialdemokratische Partei, abgesehen von den besonderen russischen Landesverhältnissen, auf einmal abgetan sein.

Zuvor noch mag die Resolution mitgeteilt werden, die auf dem IV. Parteitage des „Bundes“ (April 1901) angenommen wurde und dessen nationales Programm darstellt:

„Der Parteitag erklärt, daß der Begriff Nation auch auf das jüdische Volk angewendet werden muß, ferner, daß Rußland bewohnt von vielen verschiedenen Nationen, in einen nationalen Bundesstaat wird in Zukunft umgewandelt werden müssen, in dessen Rahmen jede Nation, unabhängig von ihrer territorialen Gruppierung, vollständige Autonomie besitzen soll.“

Der „Bund“ nimmt den modernsten Standpunkt in der Auffassung der Nation ein. Die Nation ist ihm losgelöst von jedem Gebiete ein Personenverband. Die internationale Sozialdemokratie muß diese Auffassung zur Ihrigen machen. Dafür werden schon die Verhältnisse sorgen.

Der „Bund“ erklärt die jüdische Sprache für die nationale Sprache des jüdischen Volkes und verlangt für sie Gleichberechtigung in der Schule, im Amte, vor Gericht und im öffentlichen Leben (z. B. als Versammlungssprache). Der größte Teil des Aufschwunges der jüdischen Sprache ist dem „Bunde“ zu verdanken.

Die jüdische Partei in Galizien ist aus dem Schoße der polnischen hervorgegangen. Über diesen Abfall von der heiligen Sache des Polentums, der aber schlankwegs als gänzlicher Abfall von der Sozialdemokratie hinausposaunt wird, geriet die polnische Parteivertretung außer Rand und Band. Am 8. Mai ließ sie eine Resolution [35], so eine Art Kampfmanifest gegen die „Separatisten“, wie es in ihrem lieblichen Jargon heißt, los. Die Länge dieser Resolution steht in gar keinem Verhältnisse zur Dürftigkeit der Argumente, denn eine Behauptung wird nicht begründeter, wenn man sie zweimal oder auch mehrmals wiederholt. Nur so nebenbei sei bemerkt, daß die überwiegende Mehrheit der Juden in Galizien nicht unter den Polen, sondern in Ostgalizien unter den Ruthenen lebt.

Diese Resolution wurde zwar einstimmig von der Gesamtexekutive der österreichischen Sozialdemokratie „zustimmend zur Kenntnis genommen“, das darf uns aber nicht abhalten, sie auf ihre Stichhältigkeit zu prüfen. Zu diesem Zwecke werden wir sie fortlaufend Satz für Satz in uns entsprechende Abschnitte unter Anführungszeichen wiedergeben und daran die kritischen Bemerkungen in möglichster Kürze anknüpfen:

1. „Die politischen und sozialen Interessen des inmitten der polnischen Bevölkerung Galiziens und Schlesiens zerstreuten jüdischen Proletariats sind mit den Interessen des polnischen Proletariats identisch.“

Daran zweifelt kein Sozialdemokrat.

2. „Die aus der Verschiedenheit in Sprache und Sitte der jüdischen Arbeiterbevölkerung resultierenden teilweisen Unterschiede erfordern bloß Anpassung an gewisse Änderungen der Organisations- und Agitationsformen, die im Rahmen einer gemeinschaftlichen Partei Platz finden können. Es genügen hiezu Jargonblätter und Broschüren, Vereinsfilialen, lokale und Landesagitationskomitees wie auch mündliche Agitation im Jargon.“

Wir fragen nur, weshalb hat sich denn die österreichische Sozialdemokratie nach selbständigen nationalen Gruppen organisiert, wenn nicht wegen der „aus der Verschiedenheit in Sprache und Sitte … resultierenden teilweisen Unterschiede?“ Heißt es doch im Motivenberichte zur neugeschaffenen Organisationsform [36], daß es sich bloß darum gehandelt habe „für die Arbeit der Organisation des vielsprachigen Proletariats in Österreich die besten praktischen Bedingungen zu bieten, die praktischen Schwierigkeiten der Sprachverschiedenheit zu überwinden“. Jedes weitere Wort ist überflüssig.

3. „Vom Standpunkt der Interessen des jüdischen wie auch des polnischen Proletariats kann man sich mit der Tatsache der Absonderung des jüdischen Proletariats auf den Gebieten gesellschaftlichen Lebens nicht einverstanden erklären, die weit hinausläuft über die Grenzen gewöhnlicher nationaler Verschiedenheit, in religiösen und Rassenkämpfen und Voreingenommenheiten ihre Basis findet und eine von der herrschenden Klasse sorgfältig bewahrte und ausgenützte Hinterlassenschaft der feudalen Epoche bildet.“

Selbst ein ehrlicher Gegner, wenn er die Literatur des „Bundes“ und der jungen jüdischen Partei in Galizien kennt, wird zugeben müssen, daß dieser Vorwurf nicht im geringsten auf die jüdischen Sozialdemokraten paßt. Er muß aufs Konto der Verleumdungstaktik gesetzt werden.

4. „Im Gegensatz zu diesen Klassen verlangt das vitale Klasseninteresse des Proletariats das innigste Zusammenwirken und Zusammenleben beider Teile der Arbeiterbevölkerung des Landes unter Beseitigung alles dessen, was diesem Zusammenleben in den Weg treten könnte.“

Für den Sozialdemokraten ein Gemeinplatz. „Das innigsteZusammenwirken und Zusammenleben beider Teile“ darf aber nicht die Vormundschaft des polnischen Proletariates über das jüdische Proletariat zur Voraussetzung haben.

5. „In Bezug auf die Judenfrage hat die sozialdemokratische Partei die Aufgabe, die vollständige Gleichberechtigung der jüdischen Arbeiter durchzuführen, ihnen volle Freiheit kultureller Entwicklung zu sichern, ohne ihnen die polnische Kultur aufzudrängen, aber auch ohne sie im vorhinein im Rahmen des Jargons einzuschließen und ohne die Annäherung an die polnische Bevölkerung und Kultur zu erschweren.“

Das ist vernünftig gesprochen. Nur klingt „die vollständige Gleichberechtigung“ in die polnische Praxis übersetzt ganz anders.

6. „Selbst die Anhänger einer besonderen jüdischen sozialdemokratischen Partei erheben keine positiven jüdischen nationalen Forderungen, und können es auch nicht tun; dadurch aber benehmen sie einer solchen Partei jede reelle Existenzberechtigung und machen aus ihr ein leeres Spiel der Formen. Der gesunde Instinkt würde eben solche Forderungen direkt unmöglich machen“.

Positive nationale Forderungen, nationale Endziele kennt ein bewußter Sozialdemokrat nicht. Bezüglich der „reellen Existenzberechtigung“, des „leeren Spiels der Formen“ gilt das zu Punkt 2 Gesagte. Daß die seit 1897 bestehende Organisationsform von der polnischen Parteivertretung so ganz und gar nicht verstanden wird, muß doch zum Staunen bringen. „Gesunder Instinkt“ ist bei den polnischen Genossen reichlich vorhanden, doch ist er ein echt bürgerliches „Gewächs“. Wir meinen nämlich die „positive Forderung“ der polnischen Sozialisten nach der Wiederherstellung des polnischen unabhängigen Staates. Auf dem Brünner Parteitage (1899) leisteten sie sich sogar eine staatsrechtliche Verwahrung [37] dahingehend, daß das schwere nationale Unrecht, das am polnischen Volke verübt wird, beseitigt werde und daß in Zukunft das polnische Volk national vereinigt und frei in der Völkerfamilie dastehe.“ Genau dasselbe sagen auch die Zionisten.

7. „Die Organisation der Sozialdemokratie in Österreich ist auf dem einstimmigen Beschluß des Brünner Parteitages vom Jahre 1899 basiert. Im Sinne dieses Programms „hat Österreich sich in einen Nationalitätenbundesstaat zu verwandeln“ und die sozialdemokratisch-nationalen Parteien haben als politische Organisationen in den Grenzen dieser nationalen Gebiete die Gesamtheit der Interessen des Proletariats zu vertreten.“

Das ist gänzlich falsch. Die Organisation wurde auf dem Wiener Parteitag 1897 beschlossen und hat mit dem 1899 in Brünn beschlossenen Nationalitätenprogramm an und für sich gar nichts zu schaffen. Demnach fällt das Gerede vom „Nationalitätenbundesstaat“ in sein hohles Nichts zusammen.

8. „Auf Grund dieses Programms wirkt die polnische sozialdemokratische Partei in Österreich, sie sichert auch dem jüdischen Proletariat die volle Kraftentwicklung im Kampfe um die politische Macht in Gemeinde, Land und Staat.“

Hier gilt das zu Punkt 2 und 4 Gesagte.

9. „Die Absonderung der jüdischen Arbeiter als Partei würde sie mit unabwendbarer Notwendigkeit vom Kampfe in den allgemeinen Landesfragen wegdrängen und sie zur politischen Ohnmacht verurteilen.“

Will man konsequent sein, dann weg mit der besonderen polnischen und ruthenischen Partei in Galizien, weg mit der besonderen czechischen und deutschen Partei in Böhmen u. s. w.; denn „mit unabwendbarer Notwendigkeit …“

10. „Die Berufung auf taktische Rücksichten im Kampfe mit den Zionisten und jüdischen Chauvinisten – deren politische Bedeutung und deren Einfluß auf die Arbeiter man übrigens nicht überschätzen darf – kann nicht als ernste Grundlage zur Bildung einer jüdischen Partei dienen, denn nicht gestützt auf positive nationale Forderungen, wäre sie nur eine der Sozialdemokratie unwürdige demagogische Ausflucht.“

Hier gilt das zu Punkt 2, 4 und 6 Gesagte.

11. „Hingegen würde sie den polnischen Antisemiten, Chauvinisten und Klerikalen eine Waffe bieten, die die Möglichkeit des Zusammenwirkens zwischen Polen und Juden bestreiten.“

Was kümmert uns das Bellen unserer Gegner? Seit wann wird das so zuvorkommend in Betracht gezogen? – Mir wills scheinen, nur sobald es in den Kram paßt.

12. „In keinem konstitutionellen Lande der Welt, in dem die jüdischen Arbeitermassen von der sozialistischen Klassenbewegung ergriffen sind (Amerika, England, Holland, Österreich), sondert sich das jüdische Proletariat als besondere politische Partei ab.“

Wie geschickt gesagt „in keinem konstitutionellen Lande der Welt“. So drückt man sich um den „Bund“ in Rußland herum und auch um die Tatsache, daß „in keinem konstitutionellen Lande der Welt“ die Sozialdemokratie nach nationalen Gruppen organisiert ist, außer in Österreich. Ein Kniff ärgster Art ist es aber, auch Österreich namentlich anzuführen, da doch dieselbe Resolution gerade gegen eine solche „Absonderung“ (wie „wissenschaftlich“ sich die polnischen Genossen ausdrücken!) losgelassen wird!

13. „Aus allen diesen Gründen verurteilt die Parteivertretung jeden Versuch der Begründung einer besonderen jüdischen sozialdemokratischen Partei als gleich schädlich für das polnische und jüdische Proletariat; sie beschließt, diese Versuche mit aller Energie zu bekämpfen, und fordert die jüdischen Arbeiter zu weiterer vereinter Arbeit, zu gemeinschaftlichem Klassenkampf im Rahmen der gemeinsamen Partei auf. Die Parteivertretung gibt ihrer festen Überzeugung Ausdruck, daß die momentan gestörte Einheit in ihrer ganzen Kraft wiederkehren wird unter dem Zwange der Lebensnotwendigkeit.“

„Mit aller Energie!“ Die Kampfmethoden der polnischen Genossen sollen hier nicht erörtert werden. Nur soviel sei gesagt, daß einen bewußten Sozialdemokraten gar seltsame Empfindungen überkommen, wenn man statt von glänzenden geistigen Kämpfen von Ohrfeigen, gesprengten Versammlungen und niedrigsten Verleumdungen hört. Wenn man erfahren muß, daß die polnischen Genossen nicht vor der Verantwortlichkeit zurückschrecken, die allgemeinen Gewerkschaften und Bildungsvereine, ja sogar die Zentralverbände, in diese Kämpfe hineinzuzerren. Man möchte dann diesen Genossen einmal gründlich die Wahrheit über ihr Treiben ins Gesicht sagen wollen.

Es fehlt noch viel zur Reife des Proletariates, solange solches geschehen kann, ohne daß die Masse der Parteigänger diesen wild gewordenen nationalen „Genossen“ mit einem energischen „Nicht weiter“ in den Arm fällt.

* * *

Zum Schlusse sei eine persönliche Bemerkung gestattet … Die Bukowina, in deren Parteirahmen Schreiber dieses organisiert ist, gehört zur deutschen Organisation der Sozialdemokratie in Österreich, offenbar nur der Ordnung wegen. Denn das Buchenländchen ist ein Österreich im Kleinen; nicht weniger als fünf Nationen sind hier stark vertreten, und zwar: Deutsche, Juden, Polen, Rumänen und Ruthenen. Das Land ist industriell sehr wenig entwickelt, die Zahl der bewußten Sozialdemokraten daher gering. Und deshalb wird es kein bewußter Parteigenosse je zulassen, daß die wenigen vorhandenen Kräfte verschiedene Wege, mögen sie auch zum gleichen Ziele führen, gehen. Unsere Richtschnur ist einig und einzig der Klassenkampf und in unserem Ländchen dienen wir ihm am besten im Rahmen einer Organisation.

Würde Schreiber dieses aber in Galizien oder Rußland leben, er wäre bei den jetzt dort bestehenden Organisationsformen keinen Moment darüber im Zweifel, daß er in die jüdische Partei hineingehört.


Fußnoten

35. Abgedruckt in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 17. Mai 1905.

36. Protokoll des Parteitages zu Wien (1897), S. 169.

37. Protokoll, S. 108.


Zuletzt aktualisiert am 28. April 2009