David Balakan

Die Sozialdemokratie
und das jüdische Proletariat


5. Der politische Zionismus


Den politischen Zionismus, diese Spät- und Spottgeburt der modernen nationalen Idee, rief Dr. Theodor Herzl (gestorben im Juli 1904) mit seinem Buche Der Judenstaat (1896) ins Leben. [19] Der erste Kongreß der politischen Zionisten (1897) in Basel faßte das Ziel der Bewegung also zusammen: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“

Mit Herzls Judenstaat wollen wir uns nicht kritisch auseinandersetzen. Das müßte zu viel Raum in Anspruch nehmen. Herzl hat durch dieses Buch, die Bibel des politischen Zionismus, wie auch später in seinem Roman Altneuland zur Genüge gezeigt, daß er von den wirtschaftlichen Triebfedern des gesellschaftlichen Zusammenlebens, von den Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik keine Ahnung hatte.

Untersuchen wir vor allem, aus welchen wirtschaftlichen Schichten der politische Zionismus den Grundstock seiner Anhängerschaft zieht und wir werden darin große Ähnlichkeit zwischen der zionistischen und antisemitischen Bewegung finden.

Der V. Parteitag des „Bundes“ erklärt in einer Resolution den Zionismus als

„die Bewegung innerhalb des jüdischen Klein- und Mittelbürgertums, das sich unter dem doppelten Drucke – der Konkurrenz mit dem Großkapital einerseits und der Ausnahmegesetze und Hetzereien seitens der Regierung und der bürgerlichen Elemente der christlichen Bevölkerung anderseits befindet; hervorgehend aus der Vorstellung von der Ewigkeit des Antisemitismus, setzt sich der Zionismus die Begründung eines Klassenstaates in Palästina zum Ziele und bemüht sich daher die Klassengegensätze gleichsam im Namen allgemein nationaler Interessen zu verdecken …“ [20]

Die Stellung des jüdischen Sozialdemokraten zu den zionistischen Bestrebungen ist demnach klar. Der Zionismus ist eben von dem Gesichtspunkte aus zu betrachten, daß er die Klassenbewegung des jüdischen Klein- und Mittelbürgertums ist, und daher gilt von ihm dasselbe, was über den Antisemitismus, die Klassenbewegung der christlichen Kleinbürger, theoretisch ausgeführt wurde. Denn gleiche Voraussetzungen lösen gleiche Wirkungen aus.

An der Nebeneinanderstellung des Zionismus mit dem Antisemitismus werden gewiß meine zionistischen Kritiker lebhaften Anstoß nehmen. Darum, zur Besänftigung, sei gleich bemerkt; daß der Zionismus derzeit sittlich himmelhoch über den Antisemitismus steht, daß er für eine bürgerlich-nationale Bewegung derzeit vielleicht moralisch höchststehend ist, daß aber dies einzig und allein darin seinen Grund hat, weil das antisemitische Kleinbürgertum den ganzen Staatsapparat auf seiner Seite, das jüdische Kleinbürgertum diesen aber gegen sich hat. Doch wenn die Zionistenführer „kühle Rechner“ werden, zeigen sich auf dem zionistischen Ehrenschild dunkle Flecken. Davon später.

Der Antisemit will den Juden aus „seinem“ Lande heraus wissen und der Zionist findet das ganz „natürlich“. Die Regierungen fördern den Antisemitismus und dem Zionisten ist das auch ganz natürlich und noch „ewig“ dazu. Der jüdische bewußte Proletarier weiß aber, wie weit diese „Natürlichkeit“ reicht, weiß auch, diese „Ewigkeit“ zu begrenzen, denn der Antisemitismus wird von den Regierungen aus denselben Gründen gefördert, aus welchen von den Kapitalisten die nationalen und religiösen Streitigkeiten gefördert werden; einzig und allein, um den Blick des arbeitenden Volkes von der wahren Quelle alles Elends, dem ausbeutenden, internationalen und interkonfessionellen Kapitalismus, abzulenken.

„… Die Zionisten des Westens klagten nicht über die zertretenen, vergessenen, Jahrhunderte alten, nationalen jüdischen Ideale, sondern beweinten bloß die ihnen unlängst geschenkten und wieder entzogenen Rechte.“ [21]

Dieses Zitat aus einem preisgekrönten, zionistischen Werke ist der beste Beleg dafür, daß nur die „gesellschaftliche“ Zurücksetzung die ganze Zionsliebe der Westjuden hervorgerufen hat. Die aus den jüdischen Mittelschichten studierende Jugend hat im Westen unter der Zurücksetzung im „gesellschaftlichen“ Leben und, was viel schwerer ins Gewicht fällt, im Staatsdienste zu leiden, wenn sie nicht lumpig genug ist, als sicher wirkendes Mittel gegen solche Leiden, sich taufen zu lassen.

In Osteuropa empfinden die jüdischen Mittelschichten die Ausnahmegesetze viel lebhafter als das jüdische Proletariat, obzwar dieses darunter wirtschaftlich schwerer zu leiden. hat als jene. Die gesetzlich beschränkte Teilnehmerzahl der jüdischen Studenten an den Mittelschulen und Universitäten wird hier umso schwerer empfunden, als die wirtschaftliche Entwicklung die Söhne dieser Schichten, genau wie bei den nicht jüdischen Kleinbürgern, zum Brotstudium zwingt. Das Studententum im Osten und Westen im Vereine mit den jüdischen Pfaffen, die erst nach und nach zur Fahne des politischen Zionismus schwuren, bilden auch das führende Element im Zionismus. Das jüdische „bessere“, kapitalkräftige Bürgertum will weder im Osten noch im Westen vom Zionismus hören, es ist „liberal und fortschrittlich.“

Der Zionismus erklärt sich, wie jede bürgerliche Bewegung, als der Vertreter aller Klassen und Schichten des jüdischen Volkes. Er wirft sich auch als Schutzpatron und Helfer des jüdischen Proletariates auf, das, soweit es bewußt ist, sich dafür schönstens bedankt. Denn die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Jede wirtschaftliche Klasse hat ihre Bestrebungen und sie sollte auch den Mut der Offenheit haben und ihre Ziele klar vor aller Welt nennen, wie es die Sozialdemokratie, die Partei der Lohnarbeiter, tut. Darum vor allem reinliche Scheidung der Klassen. Die Arbeiter haben es satt, Anhängsel bürgerlicher Bewegungen zu sein und sich übers Ohr hauen zu lassen.

Was an der jüdischen Kultur gut und erhaltenswert ist, werden die jüdischen Arbeiter besser hüten als die Bürgerlichen, mit oder ohne Zion. Bürgerliche haben sich um schnöden Vorteils willen taufen lassen, der jüdische Arbeiter hat das nie getan und wird es auch fernerhin nicht tun. Nicht etwa aus Frömmigkeit und Gottgläubigkeit, sondern je mehr er in den proletarischen Ideenkreis eindringt, umsomehr muß seine Weltanschauung eine freireligiöse sein, umsomehr wird er mit Verachtung auf das jüdische und christliche Pfaffen- und Muckertum, die in der Volksverdummung Erkleckliches leisten, schauen. Er wird nicht die Religion wie ein Hemd wechseln, er sagt sich gleich von jeder geoffenbarten Religion, als unwissenschaftlich, los.

* * *

Man blicke nur schärfer auf die einzelnen Zionistengruppen hin und man wird leicht erkennen, daß jede mit dem Judenstaate die Verwirklichung oft schnurstracks entgegengesetzter „Ideale“ anstrebt. Die Einen wollen auch einmal „Herren im eigenen Hause“ spielen, einen eigenen inneren Markt haben und rechnen auf hohe Staatsstellen und gute Profite. Das sind die „liberalen Zionisten“.

Im Dezember 1901 bildete sich im Zionismus eine „demokratische Fraktion.“ [22] Auch Sozialisten (?) soll es in ihr geben. Der Klassenkampf ist das Abscheulichste in den Augen dieser Demokraten. Nicht zu verwundern, das ist ja bei allen nationalen, bürgerlichen Demokraten der Fall, denn der Klassenkampf würde gegen die von ihnen gepredigte Harmonie verstoßen. Aber auch die Sozialisten (?) wollen vom Klassenkampf nicht hören, denn erstens gibt es bei den Juden keine Klassen, also auch keine Ursachen zum Klassenkampfe, der bloß eine Erfindung der bösen „Bundisten“ ist, zweitens dürfe man den Klassenkampf nicht aufkommen lassen. Die bekannte Anekdote vom geliehenen Topfe, der dem Besitzer vom Entleiher beschädigt zurückerstattet wurde, paßt hier vortrefflich. Auf die über den Zustand des Topfes gemachten Vorwürfe rechtfertigt sich der Entleiher also vor dem Besitzer: „Erstens habe ich keinen Topf von Ihnen geliehen, zweitens habe ich ihn schon beschädigt geliehen bekommen und drittens ist er gar nicht beschädigt.“

Anderen ist die zu schaffende jüdische Kultur die Hauptsache. Von wirtschaftlichen und politischen Gegensätzen und Kämpfen wollen sie nichts wissen. Kultur, Kultur … ist ihr hohler Kampfruf.

Eine Reihe jüdischer Intelligenzler, denen die jüdische Kultur über alles am Herzen liegt, die in dieser Hinsicht auch viel geleistet haben, nennt man die Kulturzionisten. Die Kulturzionisten stehen dem politischen Zionismus mit seinem ganzen, großtuerischen Gehaben mehr, weniger kühl gegenüber. Diese Männer fassen das Wesen der Nation vernünftiger auf, wenn sie auch sonst tief in bürgerlichen Anschauungen stecken. Der „Golus“ ist in ihren Augen nicht „ewig“. Die „Golusleiden“ werden mit dem Emporsteigen der Massen zu geistiger Freiheit allmählich ganz verschwinden. Um den Bestand des jüdischen Volkes auch in der Zerstreuung, ist ihnen nicht bange. Das habe seine Widerstandskraft bewiesen. Sie machen die Assimilation, als Nachahmung in Form des Wetteifers unter den Nationen, zu einem starken, kulturellen Antrieb. Die Einen von Ihnen, unter Führung des hebräischen Schriftstellers Achad ha-am, glauben ein jüdisches, geistiges Zentrum in Palästina trotzdem nicht entbehren zu können. [23] Während Andere, so vor allem Mathias Acher (Doktor Nathan Birnbaum), darauf für die Gegenwart gar kein Gewicht legen. Achad ha-am ist gegen den politischen Zionismus auch deshalb, weil durch die im Judenstaate gewiß ausbrechenden wirtschaftlichen und politischen Kämpfe die jüdische Kultur leiden könnte. Dadurch zeigt er seine vollste Unkenntnis in der Gesellschaftswissenschaft, denn geistige Kultur ohne materielle Grundlage ist ebenso undenkbar, wie soziale Kämpfe in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unvermeidbar sind.

Doch kehren wir zur Aufzählung der verschiedenen Zionistengruppen zurück. Den Pfaffen und ihrem zahlreichen Gefolge, welche die „Misrachi“-Fraktion bilden, ist das Aufleben einer kraft- und saftlosen Tradition, eines öden Religionszeremoniells die Hauptsache. Sie streben ein „nationales“ Bildungsideal auf religiöser Grundlage an. Das nennen sie für ein „jüdisches“ Bildungsideal kämpfen. Die Religion müsse der Mittelpunkt des nationalen, geistigen Lebens werden. Denn da die jüdische Lehre die Juden bis heute als Nation erhalten hat, so müsse, wer jüdischnational denke, auch religiös sein. Man sieht, die jüdischen Pfaffen verstehen ihr Geschäft. Sie wissen, womit man die „modernen“ Jüdischnationalen um den Finger wickelt. Und da die jüdische Lehre das jüdische Volk erhalten hat, so ist es nur zu natürlich, daß sie im Judenstaate die erste Rolle spielen wird. Und „moderne“ Menschen, wie z. B. Herr Nossig, sprechen in allem Ernste von einer religiösen Reformation, von der Wiederbelebung der jüdischen Lehre als höchste Aufgabe. Andere Sorgen hat er nicht. Er schwatzt von der „Versöhnung der überlieferten Lehre mit dem Zeitgeiste“ als von einem „unvermeidlichen Werke“. Auf dem Boden der jüdischen Lehre, „der Lebensquelle und zugleich der Krone der jüdischen Kultur“, müsse „das Judentum als idealer Bund … wiedererstehen.“ [24] In dem Tone geht es in unendlichem Geplätscher fort. So spricht ein bedeutender Theoretiker des „wissenschaftlichen“ Zionismus. O, du holde Wissenschaftlichkeit!

Andere, an Zahl viel geringer als die orthodoxen und „modernen“ Misrachim, an Zielbewußtheit und Willensentschiedenheit aber ihnen noch weiter nachstehend, weil sie der jüdischen „Lehre“ gegenüber doch keine ganz ablehnende Haltung einnehmen können, gebärden sich freireligiös. Ihr Bildungsideal ist auf modern naturwissenschaftlichen Grundlagen aufgebaut. Sie empfinden schon jetzt die Überhebungen des Pfaffen- und Muckertums schwer, aber sie mucksen nicht auf, dürfen höchstens die Faust in der Tasche ballen, denn …

Friede und Eintracht in der gesamten Judenschaft predigen die Zionisten als echte Bürgerliche an allen Ecken und Enden. Und die zionistischen Atheisten, Orthodoxen, kapitalistischen Mittelbürger und „klassenbewußten“ Sozialisten halten getreulichen Frieden, da es die „Großen“ der Judenheit befehlen.

Das bewußte jüdische Proletariat spottet des zionistischen „Weltbedürfnisses“, da man aus so wesensverschiedenen und gegensätzlichen Elementen einen „modernen“ Judenstaat errichten will. Denn das mögen sich die Zionisten mit allem Nachdrucke gesagt sein lassen. Es ist etwas himmelweit Verschiedenes, einen neuen Staat aus solchen Elementen aufbauen zu wollen, als wenn diese Elemente in einem festgefügten Staatswesen, in der geschichtlichen Entwicklung entstanden, sich vorfinden.

* * *

Bis 1903 gedachten die Zionisten auf folgendem Wege zum Ziele zu gelangen. Erst sollte den Juden vom türkischen Sultan das Selbstverwaltungsrecht in Palästina erteilt und von den Großmächten garantiert werden, darauf sollte eine rasche Massenkolonisation erfolgen. Herzl war der bislang von den „Chowewe“-Zionisten und philanthropischen Millionären betriebenen Wohltätigkeitskolonisation mit größter Schärfe entgegengetreten, weil sie unzureichend sei und vornehmlich, weil sie keine politischen Rechte anstrebten, die von ihm zur Voraussetzung einer Lösung der Judenfrage, wie er sie verstand, gemacht wurden.

Und was sollte den Sultan dazu bewegen, in Palästina den Zionisten so weitgehende Rechte zu geben?

Es ist zum Kranklachen über den „genialen“ Staatsmann Herzl. Er rechnete auf die stetige Geldnot des Sultans, der für ein hübsches Sümmchen das Verlangte gewähren und auch an der Garantie der Großmächte für den Bestand dieser Rechte sich nicht stoßen werde. Ein richtiges Befreiungsgeschäft. Politische Rechte für Geld kaufen; dieser lächerliche „Königsgedanke“ zeigt die politische Unreife des „Diplomaten“ Herzl, zeigt aber auch, wie sehr der Zionismus mit kleinbürgerlichen Anschauungen durchsetzt ist, da man mit Geld alles fertig zu bringen vermeint, auch einen Judenstaat.

Auch heute noch, man sollte es kaum glauben, erklären bedeutende Zionistenführer die Erwerbung Palästinas als nationalen Staates für eine bloße Geldfrage. Das schrieen freilich von allem Anfange an die Zionisten: in alle Lüfte, zusammengeflossen ist aber trotz alledem sehr wenig. Gar bald verflüchtigt sich die Begeisterung des Bürgers, wo es ans Zahlen geht. Die Finanzinstitute entsprechen darum auch ganz und gar nicht den Erwartungen der Führer, obzwar diese ihre Forderungen um ein tüchtiges Stück nachdem anderen herabsetzten.

Merkwürdig ist auch, daß die Juden, die sonst als Geschäftsleute ihren Mann stellen, als Zionisten hinsichtlich der Erwerbung von Grund und Boden in Palästina ganz und gar aus der Art schlugen. Denn von einer gewaltsamen Enteignung der jetzigen Bodenbesitzer kann, angenommen der Sultan gibt schon die Autonomie, nicht die Rede sein. Das würde die türkische Regierung nie zulassen und die zu Enteignenden würden auch nicht die Hände in den Schoß legen und abwarten, was da komme. Gäbe der Sultan die Autonomie, so würden die Bodenpreise so ungeheuer steigen, wie im Innern der Großstädte Europas. Sind doch schon heute, ohne Autonomie, die Bodenpreise in den besseren Gegenden Palästinas um das 20–40fache gestiegen. – Das jüdische Bürgertum, wenn es idealistisch wird und in hoher Politik macht, taugt eben zum nüchternen Geschäfte nicht.

Aber abgesehen davon, daß die Zionisten nie so viel Geld aufbringen könnten, als nötig wäre, die faustdicken Löcher im Beutel des Sultans auch nur für kurze Zeit zu verstopfen, haben sich selbst die konstitutionellen, „modernen“ Herrscher noch nicht so weit demokratisiert, um für schönes Geld ihre „ewigen“ Rechte sich abkaufen zu lassen. Und der selbstherrschende Sultan sollte gar den Anfang damit machen? Er würde übrigens eine zahlreiche Kundschaft auf seinem inneren Markte haben. Die Armenier, die Makedonier würden sofort, mit strafferen Beuteln als die Zionisten, sich einstellen und mit seiner selbstherrschenden Majestät um die Höhe des Lösegeldes zu feilschen beginnen.

Daß der Sultan solche Geschäfte nicht machen könnte, selbst wenn er das Geld wie am nötigsten hätte und er persönlich ein ganz Verkommener seiner Dynastie wäre, um so weit auf der monarchischen Stufenleiter zu sinken, muß für jeden klar sein, der auch nur einen blassen Schimmer vom Wesen des türkischen Staates hat. Den türkischen Staat hat die islamitische Religion geschaffen, die ihn auch heute noch zusammenhält. Den Mohamedanern befiehlt ihr Prophet, seine Lehre, die natürlich die einzig wahre ist, mit dem Schwerte in der Hand zu verbreiten. Die schöne Zeit, wo es die Türken mit dieser Weisung wörtlich nehmen konnten, ist freilich längst vorüber. Dazu sind die Ungläubigen, die Christenhunde, zu mächtig geworden, also muß man es bleiben lassen. Ein unerhörter, furchtbarer Frevel wäre es aber, wollte der Sultan die Hoheitsrechte in einem Teile seines Staates Ungläubigen für Geld verkaufen. Gar bald wäre es mit seiner Selbstherrschaft zu Ende. Ein kleines Palastrevolutiönchen, wofür in den beteiligten Kreisen stets Neigung herrscht, und Allah hätte seinen Gläubigen einen neuen Khalifen erkoren: Staatliche Rechte gibt der Sultan nicht den eigenen Religionsgenossen, von der Verleihung einer politischen Autonomie an die altangesessenen christlichen Nationen schon gar nicht zu sprechen. Das wäre auch einer Selbstherrschaft widernatürlich. Warum sonst das Blutvergießen unter den Armeniern und Mazedoniern? – Wenn die Zionisten auf die Autonomie der türkischen Insel Samos hinweisen, sie zahlt bloß jährlich 300.000 Piaster, so geht das, von allem anderen abgesehen, schon darum nicht an, weil Samos eine kleine Insel an der Westküste Kleinasiens ist, während Palästina im Herzen der asiatischen Türkei liegt.

Und die Garantie der Großmächte! Könnte nicht der Sultan, wenn er wieder Geld brauchte, und er kann was brauchen, dieses von den Juden erpressen, indem er die politischen Rechte wegzunehmen droht. Die Juden müßten fein blechen, selbst der Weltfriedensgerichtshof in Haag dürfte ihnen nicht viel gegen ihren „rechtmäßigen“ Herrscher nützen. Von dem fraglichen Werte einer Garantie der Großmächte sollten doch, dächte man, die Juden ein klein wenig Kunde haben. Spüren es doch die rumänischen Juden am eigenen Leibe, wie wenig die Garantie der Mächte für die im Berliner Vertrag (1878) ihnen zugesicherte Gleichberechtigung nützt. Nach demselben Berliner Vertrage stehen doch auch die christlichen Armenier in der Türkei unter dem Schutze der christlichen Großmächte und trotzdem werden sie arg drangsaliert. Im Jahre 1896 wurden sie von Staats wegen gleich zu Tausenden gemordet.

Wer daran Schuld trägt? Die heutigen Staatsregierungen, deren Gefühlsergüsse über Menschlichkeit, Fortschritt u. s. w. bei den Dummen, die nicht aussterben wollen, Glauben finden. In Wahrheit sind sie die Geschäftsführer der Kapitalisten und die Ware Menschlichkeit wird an der Börse noch nicht gehandelt. Bei aller möglichen Verschiedenheit der Regierungen ist ihnen allen das Streben nach Erweiterung des Marktes gemeinsam: Die ganze Welt wird nach freien Plätzen, Absatzmärkten für den „nationalen“ Handel abgesucht und die tollsten Diplomatensprünge wegen eines Fetzens Erde irgendwo gemacht, denn die Ländergier ist unersältlich und die gegenseitige Eifersucht ist maßlos. Dem letzteren Umstande verdankt der durch und durch morsche türkische Staat ein künstliches Leben. Keine Macht gönnt der anderen ein Stückchen von der Türkei und eine Einigung auf ihre Aufteilung wird wohl noch lange, lange auf sich warten lassen.

Die zionistischen „Staatsmänner“ rechnen auch gar nicht mehr damit, bei einer etwaigen Aufteilung der Türkei Palästina als Knochen der fetten Beute von den Mächten zugeworfen zu erhalten. Sie gehen den „gesetzlichen“ Weg und die Aufteilung der Türkei wäre doch „ungesetzlich“. Sie sind dem Sultan „treu“ ergeben und fühlen sich schon jetzt als dessen untertänigste Untertanen. Sie ergehen sich vielmehr in träumerischen Betrachtungen, warum der Sultan ein Land mit einer solchen wirtschaftlichen Zukunft, in der Nähe des Suezkanals zwischen drei Erdteilen gelegen, das Vermittlerland zwischen Europa, Asien und Afrika, wie es die Zionisten selbst schildern, gerade den Juden, mit politischen Hoheitsrechten ausgestattet, übergeben sollte. Indessen hob der Sultan, trotz aller seiner „gütigen“ Gesinnungen gegenüber den Juden, nicht einmal das Einwanderungsverbot für jüdische Kolonisten nach Palästina auf. Und auch die „gütigen“ Gesinnungen anderer, zionistischer „Freunde“ auf Thronen haben nicht bessere Erfolge gezeitigt.

Gar sehr buhlten und girrten die zionistischen „Staatsmänner“ um die Gunst der Herrscher und ihrer Regierungen. Der Zionismus sei die einzig mögliche Lösung der Judenfrage. Die Juden wollen in „ihre“ alte Heimat zurückkehren. Also auch hier die bekannten „historischen“ Rechte. Man möge bei der Türkei ein gutes Wort einlegen. Man weise jede Gemeinschaft mit den dreimal vermaledeiten jüdischen Umstürzlern zurück, man stelle sich deren Bekämpfung zur Aufgabe. Der Zionismus sei eine durchaus „gesetzliche“ Bewegung. Man sei überzeugter, begeisterter Monarchist u. s. w.

Besonders schweifwedelte man um Rußland und seinen ersten Bluthund, Plehwe. Die Zionisten beteuerten ihm, daß sie sich weitab vom politischen Leben halten wollen, da den Juden im Golus ohnehin nicht geholfen werden könne. Das sagten sie in Rußland, wo durch das herrschende System die jüdischen Massen zu den Gedrücktesten der Gedrückten gehören. Und das gefiel den russischen Bluthunden gar wohl. Sie hätten gar zu gerne die jüdischen Arbeiter von den revolutionären Bestrebungen abgelenkt. Darum legten sie der zionistischen Agitation unter den Augen der russischen Polizei keine Hindernisse in den Weg. Damit spielten sie noch einen zweiten politischen Schachzug aus; in dem sie den Judenhaß der Unbewußten in den Reihen der unterdrückten Nationen erst recht anfachen wollten; denn während die nationalen Bestrebungen der Nichtrussen mit Kosakenbeweisstücken unterdrückt werden, dürfen die dreimal verfluchten Juden, die ihren Heiland gekreuzigt haben, ungestört nationalen Bestrebungen sich hingeben.

Welch eitle Hoffnungen knüpften nicht die Zionisten an die öfteren Sultansbesuche Herzls, an seine Besuche anderer gekrönter Häupter? Selbst der „judenfreundliche“ Papst blieb von ihm nicht verschont. Wie wurden einige wohlwollende Worte von „Ihm“ trotz ihrer Bedeutungslosigkeit aufgebauscht und wie schauerten darob ehrfurchtsvollst die zionistischen Spießbürger? Geholfen hat es aber nicht. Denn sobald Herzl ungeduldig wurde und Taten zeigen wollte, stürzte das ganze luftige Kartenhaus zusammen und begrub ihn unter seinen Trümmern. [25] Das hindert aber nicht, daß seine Jünger jetzt neue Theorien bauen, die freilich auf ebenso schwankender Grundlage stehen wie die Herzlischen.

Wäre der Zionismus eine gesunde Massenbewegung, nie wäre in seinem Schoße die diplomatische Geschaftelhuberei aufgekommen. Gesunde Massenbewegungen streben nach einer klaren Taktik, deren Kritik nie erlahmen darf. Je mehr die zionistischen Führer einer auf festen Grundlagen stehenden Taktik entbehren, umsomehr arbeiten sie mit geschwollenen Kraftphrasen, geheimnisvollen Andeutungen.

Auf dem VI. Zionistenkongresse (1903) mußte Herzl offen erklären, der Sultan wolle unter keiner Bedingung eine zusammenhängende Massenkolonisation der Juden in Palästina zulassen. Auf eine zusammenhanglose Kolonisation in verschiedenen Teilen des türkischen Reiches, auf die der Sultan einzugehen geneigt schien, habe er sich nicht einlassen können, denn das genüge den „nationalen Bedürfnissen“ nicht. Wir wissen schon, was unter diesen „nationalen Bedürfnissen“ zu verstehen ist.

Zwei Jahre später erklärt Nordau, dieser für andere Sterbliche überkritische Mann, in seiner Eröffnungsrede zum VII. Kongresse (Juli 1905) einem geehrten zionistischen Publikum, weshalb der Sultan und die europäische Diplomatie auf die zionistischen Pläne doch noch eingehen werde. Man höre und staune:

„Eine Bewegung, die einen großen Teil des arabischen Volkes ergriffen hat, kann leicht eine Richtung nehmen, die auch Palästina berühren würde. Dann würde das Land unserer Väter wieder einmal, wie so oft im Laufe der Geschichte, in den Mittelpunkt des politischen Weltinteresses gerückt sein. Die türkische Regierung würde sich vielleicht in die Notwendigkeit versetzt sehen, ihre Herrschaft in Palästina und Syrien gegen ihre eigenen Untertanen mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Die europäischen Mächte würden in die schwere Verlegenheit kommen, die jedesmal eintritt, wenn die bestehende Ordnung in einem Lande bedroht ist, an dessen Grenzen ihre gegenseitige Eifersucht Wache hält. Bei dieser Sachlage könnte es dann der türkischen Regierung einleuchten, daß es für sie von außerordentlichem Werte wäre, in Palästina und in Syrien ein zahlreiches, kräftiges und wohlorganisiertes Bevölkerungselement zu besitzen, das bei voller Achtung der Rechte der vorgefundenen Einwohnerschaft keine Angriffe auf die Autorität des Sultans dulden, sie vielmehr mit dem Aufgebot aller Kräfte verteidigen würde. Auch Europa würde es wohl als einen ihm geleisteten Dienst ansehen, wenn das jüdische Volk durch seine friedliche, doch energische Besetzung Palästinas gewaltsame Änderungen der dortigen Souveränitätsverhältnisse verhüten und eine Intervention der Mächte überflüssig machen würde, deren Gefahren der Diplomatie nur zu bekannt sind.“

Wahrlich, daß die Zionisten und Nordau an ihrer Spitze als Hausknechte gegen das modern-staatliche Verhältnisse anstrebende Jungtürkentum sich dem Sultan in empfehlende Erinnerung bringen, daß ihre jüdische Kultur sich mit Kosaken- und Henkersdiensten für den türkischen Selbstherrscher vertragen könnte, das hätten wir, die Gegner, doch nie zu äußern gewagt. Für so verseucht hätten wir auch den ganzen Zionistenkongreß, die „Vertretung eines geknechneten Volkes“ nicht gehalten, daß sich nicht eine einzige Stimme, auch nicht die eines zionistischen Sozialisten, gegen diesen schändlichen Gedanken erhoben hätte. Echt bürgerlich kommt es ihnen allen gar nicht darauf an, ihre „nationale Befreiung“ mit der Knechtung anderer Völker zu erkaufen, wenns nur hilft. Ihre Kultur und Weltanschauung verträgt eine solche Belastung ganz gut.

* * *

Etwas schien aus dem Zionismus werden zu wollen, als Herzl nach der Abweisung seitens des Sultans sich von der englischen Regierung Uganda als sich selbst verwaltende Kolonie unter englischer Oberhoheit anbieten ließ. Aber die „idealistischen“ Zionisten, die „Zione-Zion“ machten einen argen Höllenspektakel, der dem Dr. Herzl das Leben kostete.

Der Idealste der Idealen ist der russische Zionist Ussischkin. Seine Photographie zeigt einen wohlgepflegten Herrn. Er hat eine Broschüre, betitelt Unser Programm erscheinen lassen und darin seine Einsichtslosigkeit in die wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit glänzend bekundet. So spricht er an einer Stelle davon, daß die arabischen Arbeitskräfte in Palästina sehr billig sind. Dabei setzt er den großen Gedanken auseinander, der den zionistischen Sozialisten gar wenig, den zionistischen Bürgern aber umsomehr das Herz im Leibe lachen machen wird, daß nämlich die jüdischen Arbeiter mit diesen arabischen Hungerleidern in Konkurrenz werden treten müssen, um sie zu verdrängen. Doch lassen wir ihn seinen herrlichen Gedanken selbst entwickeln. Drei Jahre soll jeder junge Mann dem jüdischen Volke in Palästina dienen „nicht mit Schwert und Gewehr, sondern mit dem Pfluge. Für denselben Lohn werden sie arbeiten müssen wie die Araber, ein ebenso schweres Leben führen wie ein Soldat in der Kaserne.“ [26]

Ein göttlicher Gedanke. Ich sehe im Geiste die wohlgepflegten Bürgersöhnchen mit dem Spaten in der Hand im Schweiße ihres Angesichtes arbeiten, drei Jahre auf das „schöne“ Leben im Golus verzichten und sich als Arbeitssoldat einer nützlichen Tätigkeit für die nationale Zukunft des geliebten jüdischen Volkes in Palästina weihen. Und ich beneide um diesen herrschenden Idealismus die zionistische Bewegung, in deren oberster Leitung Herr Ussischkin sitzt und Pläne zur Rettung des jüdischen Volkes schmiedet.

Uganda wurde vom VII. Kongresse prinzipiell verworfen. Die Zionisten haben sich nun die Theorie zurechtgelegt, daß man zuerst Palästina wirtschaftlich und kulturell im Besitz haben müsse, um mit Erfolg politische Autonomie anstreben zu können. Sie rüsten sich zur friedlichen Besetzung des Landes. Die Türkei kann ein Riegelchen vor die Türe schieben oder auch nicht. Nehmen wir an, die Türkei schiebt den Riegel nicht vor. Wenn sie aber dann, im „großen Momente“ die für sie entstandene Judenfrage auf die gleiche Art lösen wird wie die aus den gleichen Voraussetzungen – tatsächlicher Besitz des Landes – entstandene Armenierfrage? Was dann?

Die politische Autonomie, die bislang als unablässige Voraussetzung einer Kolonisation bezeichnet wurde, wird jetzt als ferne Zukunftsmusik den Lauschenden angepriesen, Millionenmassen mit einem Schlage ansiedeln zu wollen, sei ein Unsinn. Aber jahrelang wurde dieser Unsinn mit nationalem Feuer gepredigt. Wer an diesen Unsinn nicht glauben wollte, war ein Verworfener, ein Unmensch. Die Besitzergreifung des Landes werde erst nach und nach vor sich gehen und dementsprechend werde man immer größere politische Rechte zu erwerben suchen. Über das endgiltige Verhältnis zur Türkei könne freilich nichts Bestimmtes gesagt werden. Aber vom „gesetzmäßigen“ Wege werden die zionistischen Staatsmänner auf keinen Fall abweichen, winken sie dem Sultan beruhigend zu.

Die Zionistenführer wollen die Kolonisierung auf den Länderkreis um Palästina herum ausdehnen, denn Palästina werde für die Einlaß begehrenden Judenmassen bald nicht genug Fassungsraum bieten, anderseits verlangt es die Rücksicht auf den zukünftigen „nationalen“ Markt – wieder der bürgerlich kapitalistische Pferdefuß – ein größeres Palästina anzustreben. Die zionistischen „Staatsmänner“ haben noch nicht einen Zipfel von Palästina und haben schon so scharfen Landhunger wie die „echten“ Diplomaten.

Heiß waren die Kämpfe für und gegen Uganda. Sie wurden von den palästinensischen Zionisten mit fanatischer Wut ausgefochten. Der Wahlkampf zum VII. Kongreß, auf dem die Entscheidung fallen sollte, nahm in Rußland die schärfsten Formen an. Die Ugandisten beklagten sich bitter von der Kongreßtribüne herab über unerhörte Wahlbeeinflussungen und Mißbräuche. Die Zione-Zionisten vergaßen sich zum Beispiel im Charkower Kreis so weit, von den Ugandisten, bevor sie ihnen den Scheckel, der wahlberechtigt macht, verkauften, einen Wohlverhaltungsschein von der russischen Polizei zu erbringen. Die Folge dieser erbitterten Kämpfe war, daß die konsequenten Ugandisten, man bezeichnet sie als Territorialisten, meist russische Poale-Zion, jüngere, tatkräftige Männer unter Führung des englischen Zionisten Zangwill, erklärten: Wenn selbst Uganda nicht tauge, müsse man sich um ein anderes, besseres Kolonialland umschauen. Da man Palästina in absehbarer Zeit nicht erreichen könne, müsse man die Juden in irgend einem anderen Emigrationslande zusammenfassen. Das werde die Juden ihrem nationalen Endziele, es sind eben Bürgerliche, näher bringen. Palästina sei für sie ein „totes“ Land, zu sehr mit der religiösen Überlieferung verbunden. Warum solle die türkische Regierung den Juden späterhin politische Autonomie geben, da sie es jetzt nicht tun will. (Indessen hat Nordau ein wenig aus der Schule geplaudert.) Sie stellen die türkische Bakschischverwaltung der englischen Selbstverwaltung gegenüber.

Aber nichts half. Freilich wußten auch die Territorialisten außer Uganda kein anderes freies Kolonialland zu nennen. Sie sind ein wenig zu spät auf die Welt gekommen, nachdem schon die ganze Welt verteilt worden. Die Zione-Zionisten erklärten, zwei Vaterländer könnten sie nicht haben. Als das eine rechneten sie eben Palästina. Und seit dem VII. Kongresse gehören die Territorialisten nicht mehr der politisch-zionistischen Bewegung an.

* * *

Bislang sagten uns die zionistischen Führer, der Zionismus werde in kürzester Zeit verwirklicht werden. Sie forderten deshalb von den jüdischen Proletariern, ihre Klasseninteressen für diese kurze Zeit zurückzustellen. Gar wenig klassenbewußt waren, die es taten. Nun aber, da die Kleinkolonisation zum Leitstern erhoben worden, muß auf die baldige Rettung aus den Golusleiden endgiltig verzichtet werden. Geben doch die zionistischen Prediger jetzt selbst zu, daß die überwiegende Mehrheit der Juden wohl noch durch das ganze nächste Jahrhundert im Golus werde bleiben müssen. Der von Herzl begründete politische Zionismus ist tot, endgiltig begraben. Mögen die Zionisten tausendstimmig schreien, daß er lebe. Er ist doch tot. Ohne Sang und Klang begraben.

Die Gegenwartsarbeit, die praktische Tätigkeit, dieses Stiefkind des politischen Zionismus, muß jetzt von diesem langdauernden Übergangs-Zustande aus betrachtet, zu Ehren kommen. Das Gegenwartsprogramm ist auch die brennendste Frage im Zionismus. Dieses Programm ist aber, da es auf das ganze jüdische Volk zugeschnitten sein muß, von unserem proletarischen Standpunkte unannehmbar. Für das jüdische Proletariat würde dieses Programm nicht Realpolitik, sondern Selbstmordpolitik bedeuten, wenn es seinen Lockungen folgen würde. Es wird ihm aber nicht anhängen, denn der Kampf ums tägliche Brot wird es klassenbewußt im Sinne der internationalen Sozialdemokratie machen.

Der Zionismus brachte Leben in die Reihen des jüdischen Kleinbürgertums, er rüttelte es gegen die elende Wirtschaft in den Kultusgemeinden, gegen das vertrottelte assimilatorische Nachäffen auf. Sie lernten ihr Recht verlangen, männlich Forderungen zu erheben. Da kommen jetzt die Kleinkolonisten mit ihren dünnen Stimmchen und zirpen: Eintracht, Friede im ganzen Judentum, weg mit der bisherigen Verhetzungstaktik und Kampfpropaganda, Versöhnung mit allen Elementen des Judentums, Propaganda der Liebe und des brüderlichen Überzeugens, Eroberung der Protestrabbiner und des jüdischen Großbürgertums durch Versöhnung, nicht durch Kampf. Und so geht der Zionismus durch die Staatsmännerei der Staatsmänner à la Nossig auch seines fortschrittlichen Wesens verlustig.


Fußnoten

19. Ich verweise auf: B. Emanuel (Czernowitz), Über den Zionismus, Neue Zeit, 13. Jahrg. Nr. 45; S.  Häcker-Lemberg, Über den Zionismus, Notiz, Neue Zeit, 13. Jahrg. Nr. 50; Sergej Njewsorow, Der Zionismus, Sozialistische Monatshefte, 1897, Nr. 12; Max Zetterbaum, Probleme der jüdisch-proletarischen Bewegung I, Neue Zeit, 19. Jahrg. Nr. 11; Ben-Ehud, Zionismus oder Sozialismus, Der jüdische Arbeiter, Nr. 6, Organ des „Bundes“ in jüdischer Sprache; Luni, Der Zionismus, Ausg. des „Bundes“ in jüdischer Sprache, 1903; I.B. Sapir, Der Zionismus, preisgekrönt; Die Stimme der Wahrheit, Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, herausgegeben von Lazar Schön, 1. Jahrg. 1905.

20. Mitgeteilt in dem Berichte des „Bundes“ für den internationalen Sozialistischen Kongreß in Amsterdam (1904) in deutscher Sprache, S. 26.

21. I.B. Sapir, a. a. O., S. 108.

22. Einen vortrefflichen Artikel über diese Gründung enthält der Jüdische Arbeiter, Nr. 14, Organ des „Bundes“ in jüdischer Sprache.

23. Mathias Acher, Achad ha-am, Ein Denker und Kämpfer der jüdischen Renaissance, 1903.

24. Nossigs Artikel im Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, S. 44 u. 45.

25. Mein Aufsatz: Zum VII. Zionistenkongreß, Der Jüdische Sozialdemokrat, Nr. 4 u. 5, Lemberg, in jüdischer Sprache.

26. Ussischkin, Unser Programm, S. 22, in jüdischer Sprache.


Zuletzt aktualisiert am 28. April 2009