David Balakan

Die Sozialdemokratie
und das jüdische Proletariat


3. Die nationale Frage
und das jüdische Proletariat


Die ganze geschichtliche Entwicklung des jüdischen Volkes hat die Judenfrage zur verwickeltsten unter allen nationalen Fragen gemacht. [8]

Die Juden bilden in keinem Lande der Welt die Mehrheit der Bewohner. Es frägt sich nun, wie konnten die Juden ohne räumliche Grundlage sich als Nation erhalten. Das muß aus den wirtschaftlichen Verhältnissen erklärt werden. Denn dies der besonderen Fürsorge Gottes, oder irgend einer nebelhaften Weltmission zuzuschreiben, wäre kindisch.

* * *

Schon im grauen Altertume hatten sich die Juden zu einem nationalen Einheitsstaate entwickelt. Er wurde zerstört und sie mußten ihre Heimat verlassen. Seither leben sie in der Zerstreuung. In ihrem Nationalstaate, einem Berglande, waren sie ein Bauernvolk mit allen Eigenschaften der Bergbewohner gewesen; mit starkem Heimatsgefühl, in der Fremde abgeschlossen und hartnäckig an den überkommenen Gebräuchen festhaltend. Diese Neigungen wurden durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in welche die Juden hineingedrängt wurden, noch mehr verstärkt.

Im Altertum mußten sie den Ackerbau aufgeben, konnten aber auch kein Gewerbe betreiben, denn gegen die Sklavenarbeit konnte kein freier Arbeiter aufkommen. Im Mittelalter, bis tief in die neueste Zeit hinein, mit seinem an den Feudalherren gebundenen Grund und Boden, beim landwirtschaftlichen Betriebe mit Leibeigenen, war ebensowenig an eine Rückkehr der Juden zum Ackerbau zu denken. Aber auch ein Handwerk konnte der Jude nicht betreiben, da ihn die Handwerkerzünfte grundsätzlich nicht aufnahmen. Der Jude mußte sich dem Handel in Geld und Waren zuwenden und bei ihm bleiben. So kam es, daß er von den Veränderungen der Wirtschaftsformen nicht direkt betroffen wurde und das bewirkte durch Jahrhunderte einen Stillstand in seiner geistigen Entwicklung.

In Westeuropa, besonders gilt dies für das alte deutsche Kaiserreich, lebten die Juden in den Städten, in eigenen Stadtteilen. Da sie im allgemeinen rechtlos waren, gaben ihnen die weltlichen und geistlichen Fürsten, die ihrer in der Zeit der Naturalwirtschaft, da das Geld in sehr geringem Maße vorhanden war, als Geldborger, Handelsleute nicht entraten konnten, besondere Rechte; so die Zivilgerichtsbarkeit in Streitigkeiten unter sich, die Selbstverwaltung in Gemeindeangelegenheiten und, nicht zum mindesten in jener glaubenswütigen Zeit, freie Religionsübung.

Die Städte waren in jener Zeit in unendlich höherem Maße als heute Mittelpunkte des kulturellen Lebens. Darum erhoben sich die Juden als Gesamtheit weit über das sie umgebende „Wirtsvolk“. Sie hatten einen größeren geistigen Horizont schon wegen der den Blick erweiternden Handelstätigkeit, wozu noch hinzukam, daß ihnen ihr Broterwerb Zeit genug zu geistiger Arbeit ließ und der Jude nur auf geistigem Gebiete seine Fähigkeiten voll entwickeln, allgemein anerkannte Leistungen aufweisen konnte. Sicherlich zerrieben sich große, geistige Kräfte an Nichtigkeiten. – Der draußen verachtete, verspottete und gehetzte Jude, im Ghetto war er ein Gleichberechtigter. In einem reinen Familienleben, im Studium der Gotteslehre suchte er Trost für die seelischen Qualen, die er erdulden mußte.

Dafür, daß die Juden in den Städten wohnen durften, mußten sie hohe Schutzgelder zahlen, mochten sie darum das Volk bewuchern, wieviel sie wollten. Umsomehr ließ sich von ihnen erpressen. Die Wucherzinsen kamen schließlich doch in die Taschen der hohen Herren. Die Juden waren nach einem Ausdrucke Lublinskis [9] „die betrogenen Betrüger der Naturalwirtschaft“. Auch schuf der allmähliche Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft eine gleiche Verelendung der Massen, wie der Übergang aus der Großmanufaktur zur modernen Maschinentechnik in England in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Wie hier die Maschinen, so trieben damals die räuberischen unersättlichen Fürsten und Pfaffen das Volk zur Verzweiflung. Die englischen Arbeiter befiel eine wahre Zerstörungswut gegen die Maschinen. Den Pfaffen im Mittelalter dagegen fiel es nicht schwer, den Zorn der rohen, religiös fanatischen Massen, welche ihre wahren Ausbeuter verkannten, auf die Schwächsten, die Juden, abzulenken. Diese leisteten im Bewußtsein ihrer Schwäche gar keinen Widerstand. Sie rafften von ihrer Habe, was mitnehmenswert schien, zusammen und flüchteten dorthin, wo es den Juden momentan besser erging. Oft genug waren sie überglücklich, mit dem nackten Leben davongekommen zu sein. Gestatteten es die Verhältnisse, so kehrten sie, von den weltlichen und geistlichen Fürsten mit mehr oder weniger offenen Armen empfangen, an die Stätte ihres früheren Wirkens zurück.

Nach Überwindung der Kinderkrankheiten der Geldwirtschaft gestaltete sich die Lage der kapitalbesitzenden und geschäftskundigen Juden allmählich immer günstiger und die gesellschaftlichen Revolutionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten ihnen die volle bürgerliche Gleichberechtigung.

Gerade ihre Zerstreuung, die Folge der eigenartigen Stellung der Juden im Wirtschaftsleben jener Zeit, hat sie trotz so vieler, blutiger Verfolgungen als Volk am Leben erhalten.

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Wesentlich anders war die Lage der Juden in Osteuropa. Millionen ihrer hatten sich infolge der Judenverfolgungen in Westeuropa nach Polen geflüchtet und gute Unterkunft gefunden. Der Adel hatte nämlich in Polen alle Macht an sich gerissen und preßte das Volk durch den Juden, dem beim Fehlen eines polnischen Mittelstandes diese Aufgabe zufiel, aus. Sämtliche Abgaben und Steuern, von den Zöllen bis zur Dorfkirche, wurden ihnen in Pacht gegeben. Der polnische Adel brauchte zu seinem üppigen Leben viel Geld. Der Jude mußte leben und wollte doch auch etwas bei Seite legen. Und für alles mußte der polnische und ruthenische Bauer aufkommen. Aus den Wunden, die damals dem unglücklichen Volke geschlagen wurden, blutet es noch heute. Der Bauer haßte den Juden glühend als seinen direkten Peiniger, der Adelige verachtete ihn, das willige Werkzeug seiner Raubgier. Und je brutaler und schonungsloser der Jude gegen den Bauer war, umso hündischer kroch er selbst vor dem schäbigsten Schlachziz.

Wenn auch die Ostjuden bei weitem in besserer Lage sich befanden als die Westjuden, so hat doch der Umstand, daß die polnischen Städte und Städtchen vom Adel um jede kulturelle Bedeutung gebracht worden waren, vornehmlich aber die Art ihres Broterwerbes, in ungünstigster Weise auf ihren Kulturzustand abgefärbt. Sie wurden buchstabengläubig, klammerten sich an leere Formen, religiösen Kleinkram und bekämpften jede Neuerung, sei es selbst in der Kleidung, mit fanatischer Wut. In der Ausbeutung kannte der Ostjude kein Mitleid, nicht nur gegen den Bauer, sondern auch gegen den armen Volksgenossen. Denn schon damals beuteten die kapital- und einflußreichen Juden nicht nur den „Goj“ sondern auch ihre jüdischen Angestellten nach allen Regeln der Kunst aus. Doch der abgrundlose, durch die Pfaffen geschürte Haß der christlichen Bevölkerung gegen den Juden schlechtweg, hielt damals ausbeutende und ausgebeutete Juden fest zusammen.

Der moderne Kapitalismus hat dieser „schönen“ Zeit ein wohlverdientes Ende bereitet und heute kämpfen die jüdischen Proletarier Schulter an Schulter mit ihren polnischen und ruthenischen Klassengenossen gegen das internationale Kapital.

„Die jüdische Abgesondertheit“, „die Ghettopsychologie“, die Unfähigkeit sich gegen Unrecht männlich zu wehren, das Bücken und Kriechen vor kleinen und großen Herren, die Begrenzung des geistigen Horizontes auf religiöse und geschäftliche Angelegenheiten – am bewußten ostjüdischen Proletariat sind keine Spuren mehr davon zu finden – die „unnormale“ Berufsgliederung der Juden, die den bürgerlichen Jüdischnationalen soviel unnötiges Kopfweh bereitet, all dies erklärt sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, aus denen das jüdische Bürgertum in seinen Schichtungen, aus denen das moderne, ostjüdische Proletariat hervorgegangen ist und sich noch heute teilweise befindet.

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Unbegreiflicherweise wird sogar unter Sozialisten darüber gestritten, ob es überhaupt eine jüdische Nation gibt, da doch die Juden eines nationalen Territoriums und wie manche besser zu Unterrichtende wissen wollen, auch einer lebendigen, entwicklungsfähigen, nationalen Sprache ermangelten. Verständnislosigkeit und bürgerliche Beschränktheit in Bezug auf das „nationale Territorium“, Unkenntnis der Tatsachen hinsichtlich der jüdischen Sprache spricht aus dieser „theoretischen“ Begründung. Gewiß, ein nationales Territorium besitzen die Juden längst nicht mehr. Die räumliche Grundlage wurde ihnen jedoch in jener Zeit, als ein nationales Territorium Voraussetzung einer Nation war, durch die eigenartigen Verhältnisse, unter denen die Juden so viele Jahrhunderte leben mußten, ersetzt. Heute hat sich aber das Wesen der Nation ganz geändert. Sollte zu manchen Sozialdemokraten nichts davon gedrungen sein?

Anderseits gibt es eine von acht Millionen Menschen gebrauchte jüdische Sprache. [10] Mag sie nun eine Zusammenmischung von Deutsch, Hebräisch, Slavisch sein, sie wird doch von acht Millionen gesprochen. Und sind denn nicht auch andere Sprachen, so insbesondere das Englische, eine „Zusammenmischung“? Und was die Hauptsache ist, wer mit seinen Ideen in die Masse der Ostjuden dringen will, muß sich ihrer bedienen. Sie ist keineswegs so „unkultiviert“ wie diejenigen glauben, die sie nicht kennen. Es gibt in jüdischer Sprache eine stattliche Reihe von politischen Tages-, Wochen- und Monatsblättern in Rußland, Galizien, London und New-York; eine große, im geheimen stark verbreitete, politische Literatur in Rußland. Es gibt eine moderne, bodenwüchsige, schöne Literatur, vom Küchenroman bis zu den feinsten Seelenschilderungen, die sich sehen lassen können; ebenso gibt es eine populär-wissenschaftliche Literatur, wenn auch meist in Übersetzungen.

Uns Sozialdemokraten ist eine Sprache nichts Heiliges, sie ist nur ein Werkzeug der Kultur, ein Mittel Kultur zu schaffen und zu verbreiten. Wir wissen nicht, wohin die weitere sprachliche Entwicklung überhaupt führt. Ob zufolge des Kulturfortschrittes, der die Menschen immer mehr einander nähert und gleichartig macht, alle Nationen und Sprachen einer Weltnation mit einer Weltsprache Platz machen werden, oder ob die hohe Entwicklung und Durchbildung der einzelnen nationalen Sprachen die klassenlose Gesellschaft nicht auch zu einer nationslosen machen wird. In den letzten zehn Jahren, so lange reicht der Aufschwung des ostjüdischen Proletariates zurück, hat auch die jüdische Sprache und Literatur sich in höchstem Maße entwickelt. Den Höhepunkt hat sie gewiß noch nicht erreicht. Ob die fortschreitende Schulbildung sie untergraben oder ob sie allen feindlichen Propheten zum Trotz sich erhalten und zu einer vollwertigen Kultursprache entwickeln wird, kann man ebensowenig wissen wie, ob anderseits die Juden sprachlich in ein anderes Volk oder in der ganzen Menschheit aufgehen werden. Das ist das Ganze der Judenfrage für den jüdischen Sozialdemokraten.

Ebenso müßig ist für den Sozialdemokraten der Streit darüber, ob es eine erhaltenswerte jüdische Kultur gibt, da sie bloß eine Nachwirkung des Ghetto sei. Was die bürgerlichen Jüdischnationalen dazu sagen, ist uns ganz gleichgiltig. Es gibt unter ihnen Narren, die sich nicht entblöden, von einer modernen „jüdischen Weltanschauung“ zu sprechen. Mögen zwischen der jüdisch-religiösen und christlichen Weltanschauung Berührungs- oder Unterscheidungspunkte vorhanden sein oder nicht, mögen sich auch beide als modern bezeichnen, dem Sozialdemokraten ist die eine genau soviel wert wie die andere, er verwirft und bekämpft beide grundsätzlich. Für ihn gibt es nur eine einzige, moderne, jedes Religiösen entkleidete, all weltliche Kultur. Das „Nationale“ an dieser Kultur ist nur die Schale, in welcher der allgemein-menschliche Kern zu Tage tritt. Die nationale „Schale“ besteht in der Sprache und in der Volkseigenart, die durch die gesellschaftliche Entwicklung der Massen in der Vergangenheit und Gegenwart bedingt wird.

Will man alles, wodurch das innere und äußere Leben des jüdischen Volkes wissenschaftlich und. künstlerisch erforscht wird, da es das jüdische Volk betrifft, jüdische Kultur nennen, so läßt sich dagegen nichts einwenden. Dann könnte selbst die jüdische Sprache verschwinden, dann würde jedes wissenschaftliche Werk über die Juden, jeder Roman aus dem jüdischen Leben, gleichviel in welcher Sprache immer geschrieben, die „jüdische“ Kultur bereichern. Ein Millionenvolk ändert seine Sprache oder seine Eigenart nicht auf Wunsch oder gar auf Befehl, sondern unmerklich in langen Zeiträumen, wie die sozialen Bedingungen sich ändern. Solange die jüdischen Massen an der jüdischen Sprache als Muttersprache festhalten werden, wird die „jüdische“ Kultur in dieser Sprache ihren Hauptstützpunkt suchen müssen. Denn eine „nationale“ Kultur, die nicht in die breiten Volksmassen dringen kann, hat für den Sozialdemokraten keinen Wert.

* * *

Es gibt Sozialdemokraten, die als die einzig mögliche Lösung der „verfluchten Judenfrage“ die Assimilation ansehen, das heißt, die Juden müssen „in Sprache, Lebensführung und äußerer Erscheinung“ [11] den Völkern, in deren Mitte sie leben, sich vollkommen anpassen. Wieweit diese Anschauung Sinn hat, darüber später.

Gegen die Assimilation donnern am meisten gerade die gänzlich assimilierten westeuropäischen Zionisten, die sich selbst als deutsche, französische, czechische u. s. w. „Kulturträger“ bezeichnen. Und die „Poale-Zion“, die „klassenbewußten“ Arbeiterzionisten, stehen ihnen darin nicht nach.

Die „Sozialisten-Zionisten“ erklären eine Assimilation der jüdischen Massen zuerst für unmöglich, dann aber mit körperlicher, geistiger und sittlicher Entartung – jedes Eigenschaftswort ein Rätsel – verbunden. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit stellen sie aber selbst das Verfallen der jüdischen Massen in diese dreifache Entartung fest. Denn die Zerstreuung der Juden in Ländern mit moderner Kultur hat „das Zerreißen aller jüdisch kulturellen Bande“ [12] zur Folge. Eine schöne jüdische „Kultur“, die vor der modernen Kultur nicht bestehen kann. Eine solche „Kultur“ ist es wert, daß sie zugrunde geht.

Aber, und ich hebe das besonders hervor, nicht die Zerstreuung allein trägt nach der Meinung der „klassenbewußten“ „Poale Zion“ an der Assimilation der jüdischen Massen die Schuld, sondern auch „die Revolutionierung der jüdischen Arbeiter“. Man urteile selbst:

„Das praktische Leben gibt uns untrügliche Beweise dafür, daß die Assimilation Hand in Hand mit der Revolutionierung eines Teiles der jüdischen Arbeiter vor sich geht. Wir können das nicht nur in Rußland, sondern sogar im freien England und Amerika, wo ja die Assimilation nicht künstlich gefördert wird, beobachten.“ [13]

Was verstehen diese „Klassenbewußten“ unter dem Ausdrucke Assimilation und welchen Sinn kann er für den bewußten jüdischen Sozialdemokraten haben? Den „Poale Zion“ schreckt das Gespenst der Assimilation, ihm schaudert vor der Berührung der jüdischen Massen mit der modernen Kultur, denn dann zerreißen „alle jüdisch-kulturellen Bande.“ Spottet er nicht über diese jüdische „Kultur“? Und werden diese Zwerge das Rad der Entwicklung aufhalten können? – Nein, es wird sie zermalmen.

Die ostjüdischen Massen werden immer mehr in den Wirbel der ökonomischen Umwälzungen einbezogen, die der moderne Kapitalismus mit sich bringt, und dadurch, da sie zahlreich im Bereiche der Warenerzeugung und Warenvermittlung ihren Unterhalt erwerben, hart betroffen. Sie kommen über ihre Klasseninteressen zum Bewußtsein und ändern gänzlich ihre Weltanschauung. Die westeuropäische proletarische Bildung, die sie sich mit vieler Mühe aneignen, führt sie dazu, alle ihre früheren Götter in den Staub zu werfen, zeigt ihnen neue Strebungen und Ideale, macht sie stolz und stark und zu Kerntruppen der proletarischen Weltarmee. Man vergegenwärtige sich nur, wie grundverschieden Vater und Sohn einer jüdischen Proletarierfamilie sind, und wolle daran denken, wie Enkel und Urenkel aussehen werden.

Die jüdischen Arbeiter nehmen proletarische Bildung leichter als die nichtjüdischen Arbeiter Osteuropas auf, denn als überwiegend städtisches Proletariat und als Proletariat einer entrechteten Nation sind sie als Gesamtheit bei weitem empfänglicher für die sozialdemokratischen Lehren als das Proletariat jeder anderen Nation. Die altjüdische Tracht werfen sie von sich. Die kann ein Arbeiter gar nicht brauchen. Aber freiwillig auf die Kulturhöhe des durchschnittlichen russischen oder polnischen Bauern hinabzusteigen, in seine Gottesgläubigkeit, Schnapsseligkeit u. s. w. bloß, um nicht „verfolgt“ zu werden, kann man dem nüchternen, jüdischen Proletarier im Ernste nicht zumuten. An das „Verfolgtwerden“ ist er gewöhnt. Er weiß auch genau, wer ihn verfolgt und warum man ihn verfolgt.

Bleibt nur über die Sprache ein ernstes Wort zu reden übrig. Und von dem jüdischen Proletariate zu fordern, daß es die Sprache des Volkes annehme, in dessen Mitte es wohnt, widerspricht den sozialdemokratischen Grundsätzen in der Sprachenfrage, ist gegen das Interesse des proletarischen Klassenkampfes aus früher angeführten Ursachen. Eine solche Forderung hat auch in unserer Zeit nirgends Erfolg gehabt. Ein Beispiel für viele:

„Als Bismarck sich der Täuschung hingab, er habe die polnische Kultur zermalmt, als er rief, ‚das polnische Volk sei mit der preußischen Regierung zufrieden‘, da rechnete er nicht mit den arbeitenden Klassen. Für Bismarck und seinesgleichen hieß nur das Polen, was adeligen Stempel trug … Indessen aber erwuchs eine neue Macht; das arbeitende Volk Polens, seit Jahrhunderten unterdrückt und verfolgt, wuchs in die Höhe. Sein Nationalgefühl ist keine hohle Phrase … Darum wird das gewaltsame Verlangen, das arbeitende Volk zu germanisieren, einen langen und schweren Kampf hervorrufen.“ (Gazeta robotnicza, Kattowitz, 11. Jahrg. Nr. 48) [14]

Es gibt eine Anzahl jüdischer Sozialdemokraten, die der sprachlichen Assimilation der Juden nachzuhelfen bereit wären, wenn sie sehen würden, daß die weitere Entwicklung nach dieser Richtung geht. Die Erfahrung in Rußland hat aber gelehrt, daß eine jüdische Massenbewegung ohne Agitation und Literatur in jüdischer Sprache nicht möglich sei. Zu dieser Überzeugung mußten die Führer des „Bundes“ kommen und der jüdischen Sprache zu ihrem Rechte verhelfen. [15] Solange die Bewegung auf kleine Gruppen beschränkt war, wurde viel Zeit und Mühe darauf verwendet, zuerst den jüdischen Arbeitern die Kenntnis der russischen Sprache beizubringen. Das wurde aber ein Ding der Unmöglichkeit, als die Bewegung zu einer Massenbewegung anschwoll.

Der wirtschaftliche Aufschwung Osteuropas hat die sprachliche Assimilation der jüdischen Massen teilweise zum Stillstande gebracht. Das Handwerk wird immer mehr zurückgedrängt und an dessen Stelle tritt die Großindustrie mit ihrer Massenproduktion. Der jüdische Handwerker, der direkt mit den nichtjüdischen Kunden in Berührung kam und deren Sprache kennen mußte, sinkt immer mehr als Fabriksarbeiter ins Proletariat und verliert dadurch den Zusammenhang mit der nichtjüdischen Bevölkerung. Umsomehr als wegen der Sabbatruhe in den Betrieben, in denen Juden arbeiten, in der Regel nichtjüdische Arbeiter keine Stellung finden und umgekehrt. Der jüdische Proletarier beherrscht und versteht die Landessprache selten ganz, im Durchschnitte ist es mehr ein Radebrechen. Auch weicht er in Sitten und Gewohnheiten, wo er in Masse auftritt, von den nichtjüdischen Klassengenossen ab. Und wenn er selbst als Geschäftsmann, Handelsangestellter, als gebildeter Arbeiter die fremde Sprache mit größter Vollkommenheit beherrscht, die jüdische Sprache bleibt in der Familie doch die Umgangssprache, in der kaufmännischen Korrespondenz, im Umgange mit jüdischen Kunden doch die Verkehrssprache. Dazu kommt noch die großartige Entfaltung der jüdischen Sprache. Ich schließe mich dem vollständig an, womit Mathias Acher [16] seine Ausführungen über die jüdische Sprache schließt:

„Die Ostjuden würden einen großen Fehler begehen, wenn sie einen bewußten Widerstand gegen die Landessprache organisierten. Nicht derjenige gibt seine Sprache auf, der eine andere lernt, sondern wer die eigene Sprache überall hintansetzt, auch dort, wo er die fremde nicht braucht, wer nichts mehr übrig hat an Zuneigung zu ihr – an jener Zuneigung, die gerade der Ostjude in so reichem Maße und rührender Weise für sein Jüdisch hat.“

So gibt sowohl die Praxis als auch die Theorie den „revolutionären“ Assimilatoren Unrecht.


Fußnoten

8. Ich verweise auf: Karl Kautsky, Das Massaker von Kischeneff und die Judenfrage, Neue Zeit, 21. Jahrg. Nr. 36; Max Zetterbaum, Klassengegensätze bei den Juden, Neue Zeit, 11. Jahrg. Nr. 28 u. 29; Derselbe, Probleme der jüdisch-proletarischen Bewegung II, Neue Zeit, 19. Jahrg. Nr. 12; Heinrich Großmann, Proletaryat wobec kwestyi zydowskiej, 1905 (in jüdischer Sprache ubersetzt in der Monatsschrift Der jüdische Sozialdemokrat (Lemberg), 1. Jahrg. Nr. 1, 3 und ff. noch nicht Erschienene; S.  Lublinski, Die Entstehung des Judentums, 1903, S. 59–65.

Für die Geschichte der Juden in Deutschland: August Bebel, Antisemitismus und Sozialdemokratie, Referat gehalten auf dem Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Köln (1893). Protokoll, S. 223–237.

Über die Lage der Juden in Rußland: N.N. Die ökonomische und rechtliche Lage der Juden in Rußland, nach dem vertraulichen Berichte des Wilnaer Generalgouverneurs veröffentlicht vom „Bund“ siehe Neue Zeit, 23. Jahrg. Nr. 18.

9. A. a. O.,, S. 64.

10. Mathias Acher, Das Stiefkind der Sozialdemokratie, Anhang: Die jüdische Sprache, 1905; derselbe: Ostjüdische Aufgaben, 1905, S. 16 ff; Ben-Ehud, Zionismus oder Sozialismus, V. Kapitel, in jüdischer Sprache, Der jüdische Arbeiter, Nr. 6, Organ des „Bundes“.

11. Rosa Pomeranz, Die Stimme der Wahrheit, Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, 1905, S. 330.

12. Leitsatz 5 b) über die Stellung der „Poale-Zion“ zur Sozialdemokratie in Österreich, beschlossen auf dem Verbandstag in Krakau (Juni 1905), Der jüdische Arbeiter, Organ der „Poale Zion“ in Österreich, 2. Jahrg. Nr. 10, in jüdischer Sprache.

13. Der jüdische Arbeiter, Organ der „Poale Zion“ in Österreich, in deutscher Sprache, jetzt eingegangen, 1. Jahrg. Nr. 7.

14. zitiert nach Dr. L. Gumplowicz, a. a. O., S. 44.

15. Die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung in Rußland und Polen, Ausgabe des „Bundes“ in jüdischer Sprache, 1900.

16. Das Stiefkind der Sozialdemokratie, S. 31.


Zuletzt aktualisiert am 21 April 2009