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Kaum glaublich wäre die Annahme, der nationale Kampf drehe sich bloß um den inneren Markt im wirtschaftlich kapitalistischen Sinne allein. So viel inniges Verständnis hätte der Heißhunger der nationalen Kapitalisten nach dem Besitze des ganzen, inneren Marktes wohl nicht gefunden. Doch ist die wahre Ursache, warum der nationale Kampf so weite Kreise zog, nicht gar schwer zu ergründen. Einfach darum, weil er sich auch zu einem Kampfe um den Beamtenmarkt, um die Beamtenstellen auswuchs. Das Bürgertum der unterdrückten Nation strebte für seine Sprößlinge innerhalb des nationalen Bereiches, der sich auf irgend ein vergilbtes „Staatsrecht“ stützte, die ausschließliche Ämterfähigkeit an. Das Bürgertum der herrschenden Nation, aus dessen Sprößlingsschar bislang der Beamtenbedarf ganz oder doch zum großen Teile gedeckt worden war, sah diese in Gefahr; von den Fleischtöpfen des kapitalistischen Staates, als dessen geborene Lakaien sie sich fühlten, verdrängt zu werden. Bis zum Himmel stieg das Wehegeschrei, denn um so stärker schnitt dies ins Fleisch, als die wirtschaftliche Entwicklung das mittlere und kleine Bürgertum hart mitnahm. Doch davon später.
Da wir in einer Zeit mit demokratischen Einrichtungen leben, mühten sich beide Streitteile die große Menge vor ihren nationalen Kriegskarren zu spannen.
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Der moderne Kapitalismus mit den großen gesellschaftlichen Umwälzungen in seinem Gefolge, die auf dem dornenvollen Wege der kulturellen Entwicklung sicherlich einen gewaltigen Schritt nach vorwärts bedeuten, hat dennoch nur halbe Arbeit geleistet. Von der bürgerlichen Gleichberechtigung allein kann man eben nicht leben und die wirtschaftliche „Freiheit“ hat die „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ gemordet. Denn der moderne Kapitalismus in seiner großartigen, weltumfassenden Entwicklung brachte die ungeheuere Mehrheit der Menschen in wirtschaftliche, unentrinnbare Abhängigkeit von einer kleinen Minderheit, die jene bloß als Werkzeug der Bereicherung ansieht. Der moderne Kapitalismus schuf sich aber auch seinen eigenen Totengräber in der Sozialdemokratie, der Partei des modernen Proletariates, die mit ihrer stetig steigenden Anhängerzahl einer ins Rollen gekommenen Lawine gleicht. Und wie der moderne Kapitalismus nach langem, zähem Kampfe den feudalen Willkürstaat in den modernen Rechtsstaat umwandelte, so wird das moderne Proletariat die kapitalistische Wirtschaftsordnung zertrümmern, indem es die Werkzeuge zur Erzeugung von Waren, die Produktionsmittel (Grund und Boden, Fabriken, Maschinen u. s. w.) aus dem Privateigentum (ausschließlicher Besitz einer oder mehrerer Personen) in gesellschaftliches Eigentum (Eigentum aller Staatsbürger) überführen wird. Der moderne Kapitalismus war eine notwendige Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft, jetzt muß er einer höheren Gesellschaftsform Platz machen, einer Gesellschaft, in der Waren nicht erzeugt werden des Profites willen, sondern weil die Staatsgenossen ihrer bedürfen. Nur durch Überwindung des Klassenstaates kann das Proletariat zu seinem Ziele gelangen. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, der Klassenkampf, muß, bis zur endgiltigen Befreiung der Massen vom wirtschaftlichen Joche, mit aller Schärfe geführt werden.
Die von der „verrohenden“ Wirkung des Klassenkampfes sprechen, sind eben unfähig das Wesen der heutigen Wirtschaftsordnung zu begreifen, haben auch wohl nie davon vernommen, wie veredelnd dieser „rohe“ Kampf auf die Arbeitermassen wirkt, indem er den vom Kapitalismus Entnervten und zu Boden Gedrückten ein hohes Ziel setzt, sie zukunftsfroh macht. Die nationalen Katzbalgereien der bürgerlichen Parteien, die jede um ihr Sonderprofitchen wie gereizte Tiger kämpfen, sind ihnen ganz und gar nicht „verrohend“. Aber die Arbeiter – ja Bauer, das ist was ganz anderes. Was haben die sich um Politik, um Zukunftsziele der Menschheit zu kümmern? Die Arbeiter sollen nur fleißig schuften und die Politik ihren Sklavenhaltern überlassen.
Sklavenhaltern? – Es gibt doch auch unter den Kapitalisten ehrenwerte Leute und die Wohlhabenden tun doch auch manches, um menschliches Elend zu lindern, werden manche Schöngeister und Schönfärber in ihrem „Idealismus“ entgegenhalten. Wir antworten ihnen: Diese Kapitalisten bekämpfen das furchtbare Elend, das sie selbst verschulden, mit Schönheitspflästerchen; sie verkleistern und verkleben, so lange es geht, daß nur ja nicht die Masse zum Bewußtsein ihrer entsetzlichen und entwürdigenden Lage komme. Dann aber wehe ihnen! Mit Hohn wird sie die weitaus unzulänglichen Almosen zurückweisen und sich ihr genug lange vorenthaltenes Recht selbst nehmen. Dabei wird sie gerade an diesen Wohltätern und Arbeiterfreunden, mit gar wenigen Ausnahmen, ihre schlimmsten Widersacher finden, denn „das Mitleid mit dem Elend, mag es noch so lauter sein und in noch so schimmernden Gefühlen hervorbrechen, ist eine zarte Pflanze, die im heißen Atem des auflodernden Klassenkampfes schnell verwelkt.“ [2]
Das Proletariat bekämpft den Kapitalismus als System. Da aber der Kapitalismus von seinen Nutznießern und deren Lakaien mit Verbissenheit und mit Mitteln verteidigt wird, die Blutstriemen in das Fleisch des Proletariates ziehen, so wird der Kampf gegen das Kapital zu einem Kampfe gegen die Kapitalisten. Zur Ehre der Menschheit gibt es aber auch Kapitalisten, die auf Seite des Proletariates gegen das Kapital kämpfen. Unsinnig wäre es von diesen zu verlangen, ihre wirtschaftliche Stellung ihrem politischen Bekenntnisse gemäß zu verändern, etwa ihr Vermögen zu verschenken. Dem Proletariate wäre damit nicht für eine Viertelstunde geholfen. Sie werden sicherlich mildere Ausbeuter als die Patentkapitalisten sein und mehr läßt sich von ihnen billigerweise nicht verlangen.
Wir müssen den unausweichlichen, unerbittlichen Klassenkampf durchkämpfen. Steigt doch diese Erkenntnis selbst in bürgerlich denkenden Köpfen auf, wie sollten da nicht die klassenbewußten Proletarier davon durchdrungen sein? Schrieb doch Dr. Max Nordau, das anerkannte, jetzige, geistige Oberhaupt der zionistischen Bewegung, deren Bekämpfung ein Teil dieses Büchleins gewidmet sein wird, in der vorjährigen Osternummer der Neuen Freien Presse also:
„Rücksicht, Gerechtigkeit, Nächstenliebe spielen keine Rolle im Verhältnis der Klassen zu einander. Das sind Tugenden der Individuen, nicht der Klassen. Diese haben keine Organe für das Gefühlsleben, in welchem der Altruismus wurzelt. Sie stehen unter dem unbeugsamen Gesetze des Interesses. Darum hat eine Klasse von der anderen noch nie etwas erlangt, sie hätte es ihr denn im Kampfe auf Leben und Tod entrissen.“
Fürwahr, es ist ein Kampf „auf Leben und Tod“, den das Proletariat führt. Jeder „geläuterte“ Sozialismus, jede Verwässerung des Klassenkampfes muß entschiedenst zurückgewiesen werden. Dr. Alfred Nossig, ein anderer hervorragender zionistischer Führer, hält einen solchen „geläuterten“ Sozialismus für unbedingt erforderlich, „dem sich, vor die historische Notwendigkeit einer radikalen Reform gestellt, die einsichtsvollsten Vertreter aller Parteien anschließen können.“
Treffend war die Zurückweisung, die ihm von Dr. Eduard David zuteil wurde [3]:
„Schroff müssen wir die naive Vorstellung ablehnen, man. könne aus dem Sozialismus etwas herausdestillieren, was den ‚einsichtsvollsten Vertretern aller Parteien‘ schmackhaft sei. Die unverrückbare Grundlage der sozialistischen Sozialpolitik ist die Idee der wirtschaftlichen Emanzipation der Arbeiterklasse. Das bedeutet Kampf, energischen, unversöhnlichen Kampf gegen die ökonomische, politische und soziale Machtstellung der herrschenden Klasse, deren verschiedene Schichten sich in den nichtsozialistischen Parteien ihre Interessenvertretungen geschaffen haben und erhalten. So wenig wie ‚einsichtsvolle Vertreter‘ der Arbeiterklasse die letztere zum gutwilligen Fallenlassen ihrer Forderung auf gleichberechtigte Anteilnahme an den materiellen und ideellen Gütern dieser Welt überreden könnten, so aussichtslos wäre der Versuch ‚einsichtsvoller Vertreter‘ der Herrenklasse, ihre politische Gefolgschaft zur gutwilligen Preisgabe ihrer Herrschaftsstelle um des lieben sozialen Friedens willen zu bestimmen.“
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Immer drängender fordert das Proletariat sein Recht. Immer beredter weist es mit tausend Feuerzungen auf die Knechtung und Entrechtung der arbeitenden Massen hin. Immer bewußter macht es sich von den bürgerlichen Anschauungen frei. Nur Spott hat es für die Soldknechte des Kapitalismus übrig, die ebenso eifrig als vergeblich sich mühen, ihm unter dem Deckmantel der Religion oder Nation die Giftzähne des Klassenkampfes auszureißen.
Dem Kapitalismus, der in seiner hungrigen Jugend so revolutionär wirkte, gefällt die heutige Gesellschaftsordnung, bei der er fett geworden, sehr gut. Etwaige „Auswüchse“ müsse man schon in Kauf nehmen. Und mit allen Mitteln sucht er durch seine gemieteten Lakaien die Herrschaft über die Geister und Leiber der von ihm Ausgebeuteten zu erhalten. Vor allem kommt es ihm darauf an, Uneinigkeit ins Proletariat selbst hineinzutragen, was er durch Verpflanzung seiner eigenen religiösen, nationalen und Rassenvorurteile anstrebt. Im völkerüberreichen Osten, der die Mehrzahl des jüdischen Volkes mehr schlecht als recht beherbergt, kommt die Nation in erster Linie zu dieser sonderbaren Ehre.
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Ist es nach den vorausgeschickten Ausführungen, die gewiß nicht überflüssig waren, nicht sonnenklar, wie sich der bewußte Sozialdemokrat zur nationalen Frage zu stellen hat?
Wir haben die Nation als das Resultat der geschichtlichen Entwicklung kennen gelernt. Darum haben sie auch alle für uns gleiche Daseinsberechtigung; denn ebenso unsinnig wäre es, das Bestehen der Nationen zu leugnen. wie deren Verschwinden sich zur. Aufgabe zu machen. [4] Mögen die nationalen Kapitalisten um den inneren Markt, mögen die nationalen Bürgerlichen um die Beamtenstellen raufen, das klassenbewußte Proletariat hat mit diesen Kämpfen, die im Wesen der kapitalistischen Gesellschaft liegen und erst mit ihr zugleich verschwinden werden, gar nichts zu schaffen. Das bewußte Proletariat kennt die Quelle seiner Leiden. Der Klassenstaat ist der gemeinsame Totfeind aller Proletarier. Nicht gegen ein anderes Proletariat, sondern gegen das eigene nationale Bürgertum muß jedes Proletariat um seinen kulturellen Aufstieg kämpfen, die Proletariate der freien Nationen nicht minder wie die der unfreien.
Die Gleichberechtigung der nationalen Sprachen ist für die Sozialdemokratie etwas ganz Selbstverständliches: Darum besteht für sie die ganze nationale frage nur in der Verhütung einer gewaltsamen Sprachunterdrückung. Sie geht dabei von der Erfahrungstatsache aus, daß geistige Kultur in die Massen nur in der Muttersprache hineingetragen werden könne. Die Gefahr der gewaltsamen Entnationalisierung verbindet anderseits alle Klassen gegen den nationalen Unterdrücker und dadurch wird der Klassenkampf, der innerhalb der Nation tobt, in seiner Reinheit getrübt. Nicht zum Mindesten aber haben die nationalen Kämpfe einen Stillstand der sozialen Gesetzgebung zur Folge, worunter beide Proletariate, sowohl das der unterdrückenden als auch das der unterdrückten Nation gleich schwer leiden. Wenn die Sozialdemokratie in Österreich nach Nationen, das heißt nach sprachlichen Gesichtspunkten organisiert ist, so geschah dies nur, um das Proletariat wirkungsvoller zum sozialistischen Bewußtsein erwecken zu können. [5] Denn jede Nation muß zu Folge ihrer politischwirtschaftlichen Entwicklung, ihrer gegenwärtigen Kulturstufe agitatorisch von anderen Gesichtspunkten aus bearbeitet werden. [6]
Nationale Endziele kennt die Sozialdemokratie nicht. Zwischen einem nationalen Sozialdemokraten und einem nationalen Demokraten liegt eine ganze Weltanschauung. Denn die bürgerlich-demokratische Auffassung des nationalen Gedankens hat die restlose Interessengleichheit aller Nationszugehörigen in allen Fragen des gesellschaftlichen Lebens, unabhängig von der wirtschaftlichen Stellung des Einzelnen, zur Voraussetzung. Während im politischen und wirtschaftlichen Leben von Eintracht innerhalb der Nation geflötet wird, werden die nationalen Kämpfe mit Gluthitze geführt und geschürrt.
Für das Proletariat sind die wirtschaftlichen Gegensätze einzig und allein maßgebend. Die Interessen der Proletariate aller Nationen sind gleiche, die der Bekämpfung des Kapitalismus, die Interessen der Bürgerlichen zweier Nationen einander aufs schärfste entgegengesetzt. Wir wollen dabei nicht länger verweilen, daß selbst innerhalb der verschiedenen Schichten eines nationalen Bürgertums erbitterte wirtschaftliche Kämpfe, so z. B. zwischen dem nationalen Handwerk und der nicht minder nationalen Großindustrie, geführt werden.
Zwischen dem Bürgertum und dem bewußten Proletariat einer Nation besteht das nationale Band kaum mehr als in der gemeinsamen Sprachform. Auch da unterscheidet man die mundartliche Volkssprache, den Dialekt, von der Schriftsprache, der Sprache der Gebildeten. Von einer Kulturgemeinschaft im wahren Sinne des Wortes kann man auf keinen Fall sprechen, weil selbst in rein kulturellen Fragen, die nicht direkte Klasseninteressen berühren, so z. B. Fragen des niederen Schulwesens, bürgerliche, für eine gute Volksschule warm sich einsetzende, Kreise doch nur bis zu einer: gewissen Grenze mitgeben. Die Klasseninteressen sind, wenn auch dem Einzelnen vielleicht unbewußt, doch das einzig Entscheidende.
Hinsichtlich einer Gemeinsamkeit in der Gedankenund Gefühlsrichtung merke man sich, was der englische konservative Staatsmann Lord Brekonsfield darüber sagte:
„Die Besitzenden und Besitzlosen sind gleichsam zwei Nationen, zwischen denen keinerlei Verkehr und kein verwandtes Gefühl besteht, die einander so wenig kennen in ihren Gewohnheiten, Gedanken und Gefühlen, als ob sie die Söhne verschiedener Zonen oder die Bewohner verschiedener Planeten wären.“
Mag dies auf den ersten Blick zu sehr verallgemeinert und übertrieben erscheinen, im Kerne ist es doch wahr.
Die Tatsache also, daß die geschichtliche Entwicklung eine gemeinsame Sprachform für die heute Besitzenden und Besitzlosen aufkommen ließ, ist für das Verhältnis dieser zu einander von gar keiner Bedeutung. Will aber jemand die wirtschaftliche Gebundenheit, die den Ausgebeuteten an seinen Ausbeuter schmiedet, als überaus schätzenswerte nationale Gemeinschaft bezeichnen, so mag er sich lächerlich machen.
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Der nicht proletarisch Klassenbewußte will vom Klassenkampfe nichts wissen. Ihm ist die Erhaltung des „nationalen Geistes“ das „Ausleben in nationalen Formen“ das Um und Auf aller Gesellschaftswissenschaft. Die nationale Frage ist ihm gar eine politisch-wirtschaftliche Frage. In nationalstaatlicher Absonderung will er den nationalen „Geist“ auf ewig sichern und erhalten. Wie es in den national gemischten Gebieten werden soll, deren es mehr gibt und noch weit mehr geben wird, als die patentierten Erhalter des nationalen „Geistes“ glauben, darüber lassen sich diese kein graues Haar wachsen. Das „historische Recht“ ist auf ihrer Seite und mit echt bürgerlicher Verständnislosigkeit für die nationale Frage ist ihnen die Erhaltung des eigenen nationalen „Geistes“ mit der Unterdrückung der anderen nationalen „Geister“ nicht zu teuer erkauft.
Ein nationales Wirtschaftsleben müsse angestrebt werden. Ein köstlicher Unsinn das, denn das Wirtschaftsleben ist längst international. Der Weltmarkt ist Wirklichkeit, kein leeres Spiel mit Worten. Die Kapitalien kennen bei ihrer Anlage nur das Gesetz des Strebens nach möglichst hohen Profiten.
Aus der Forderung nach einem nationalen Wirtschaftsleben klingt hell und scharf das Verlangen des nationalen Bürgertums nach einem ihm allein gehörigen inneren Markte durch. Es will alleiniger „Herr im Hause“ sein. Dem Proletariate predigen diese „Idealisten“, erst müsse die politische und wirtschaftliche Selbständigkeit errungen werden, dann werde man an die Lösung der sozialen Frage schreiten können. Wie dumm dieses Gerede ist, geht daraus hervor, daß dort, wo die Nationen ihre politische und wirtschaftliche Selbständigkeit längst errungen haben, die Lösung der sozialen Frage noch immer ungebührlich lange auf sich warten läßt.
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Die nationale Frage ist aber weder eine wirtschaftliche, noch eine politische im Sinne national-staatlicher Absonderung. Sie ist bloß eine Sprachenfrage. Mag auch in der großen Masse infolge einer durch Jahrhunderte annähernd gleichen Lebensweise eine besondere geistige Eigenart sich entwickelt haben, so ist es doch für das bewußte Proletariat klar, daß, was an unserer ganzen modernen Kultur erhaltenswert, die Frucht des friedlichen Wetteifers der Besten aller Nationen ist und daß es auch ferner so bleiben wird.
Im Zeitalter der Freizügigkeit, der ungeheueren Verkehrsentwicklung, der friedlichen Völkerwanderungen im kleinen ist die Nation längst nicht mehr ein räumlicher Verband, vielmehr ein sprachlicher Personenverband. Dieser hat mit einem Territorium und in weiterer Linie mit dem Wesen des Staates gar nichts gemein. [7] Die wesentlichsten Merkmale des Staates sind: Räumliche Gebietshoheit und die alle Staatsgenossen bindende Gesetzgebung. Im Staate lebt man gezwungen, zu einer Nation bekennt man sich ebenso freiwillig wie zu einer Religion; beiden kann man den Rücken kehren, ohne mit den staatlichen Gesetzen in Konflikt zu geraten. Das nationale Territorium kommt in gemischtsprachigen Staaten höchstens in organisatorischer Hinsicht in Betracht, da der Staat gewisse Wirkungskreise, so insbesonders die Schule, den öffentlich-rechtlich organisierten Nationen in Selbstverwaltung wird übertragen müssen.
2. Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, III, 1. S. 19 (1. Aufl.).
3. Sozialistische Monatshefte, 1901, 7. Heft.
4. Winnizky, Die Sozialdemokratie und die nationale Frage, Der jüdische Arbeiter, Nr. 17. Organ des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Litthauen, Polen und Rußland, kurzweg als „Bund“ bezeichnet (in jüdischer Sprache).
5. Siehe den Motivenbericht zum Organisationsstatut, beschlossen auf dem 6. österr. sozialdemokratischen Parteitag zu Wien (1897). Protokoll, S. 169.
6. Eduard Bernstein, Nationale Besonderheiten und internationale Sprache, Sozialistische Monatshefte, 1904, 11. Heft; James Keir Hardie, Unterschiede zwischen der englischen und der kontinentalen Arbeiterbewegung, Sozialistische Monatshefte, 1905, 6. Heft.
7. Synopticus, Staat und Nation, Wien 1899, S. 13 u.ff.
Zuletzt aktualisiert am 21. April 2009