Max Adler

Unpolitisches

Zum Magdeburger Parteitag

(1. Oktober 1910)


Der Kampf, Jg. 4 1. Heft, 1. Oktober 1910, S. 21–23.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der an inneren Kämpfen und Gärungen reichen Entwicklung unserer Partei, aus denen ihr kraftvolles Leben immer gefestigter und geklärter hervorgeht, wird die Magdeburger Tagung ein stetig nachwirkendes und für die Bewährung ihres revolutionären Charakters entscheidendes geschichtliches Moment bedeuten. Denn wenn es auch an sich kaum zweifelhaft sein konnte, welche Stellung der Parteitag zu seinem Hauptproblem, der Frage der Badenser Budgetbewilligung, nehmen werde, so musste doch die Art, wie der Parteitag seine Entschliessung fasste, alle Unruhe und Besorgnis, mit der nicht wenige Parteigenossen der diesmaligen Beratung entgegensahen, in ein frohes Vertrauen auf die Unentwegtheit proletarischer Sinnes- und Willensrichtung umwandeln. Hat es sich doch nicht bloss gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit des Parteitages in der Frage der Budgetbewilligung keinen Standpunkt des Paktierens mit jener Macht zulassen will, die es ja eigentlich zu bekämpfen gilt, mit der im Staate organisierten kapitalistischen Gesellschaft, sondern dass diese Stellungnahme nicht etwa blosser Doktrinarismus ist, bloss kalt theoretische Prinzipienerklärung, sondern heisse Lebensempfindung der Partei, glutvolle Wallung aller ihrer Willensenergien und leidenschaftlicher Ausdruck ihrer Ueberzeugung. Dies alles spricht aus der so ungewöhnlichen und darum doppelt eindrucksvollen Nachtsitzung des Parteitages, in welcher unter dem Eindruck einer gewiss nicht zu verteidigenden – sagen wir – Respektlosigkeit des Wortführers der Opposition gegen die Autorität des Parteitages nun unwiderstehlich die Einheit und das Selbstgefühl der Partei, ihre Macht nach aussen, aber auch nach innen, endlich einmal zu einem ebenso prachtvollen als höchst nötigen Ausdruck kam. Man mag bedauern, dass eine solche moralische Kraftanstrengung gerade Parteigenossen gegenüber aufgewendet werden musste, aber man kann und soll nicht verkennen, welch wirklich historischer Moment damit für die innere Parteientwicklung erreicht wurde: das Bekenntnis zu dem ungebrochenen revolutionären Willen der Partei, mögen die äusseren Verhältnisse auch noch so schwer für seine Festhaltung sich gestalten, mögen auch noch so grosse Verlockungen vom Wege abzulenken versuchen. Gegenüber diesem elementaren Ausdruck des proletarischen Massenbewusstseins, gegenüber dieser alle Rücksichten durchbrechenden Betonung eines revolutionären Klassenwillens müssten, sollte man meinen, alle Erwägungen verschwinden, die sich an diese grosse Erscheinung des Parteitages mit den kümmerlichen Fragen heranmachen, ob diese Stellungnahme „politisch klug“ war, besonders „mit Rücksicht auf die Neuwahlen“, auf den „Zug nach links“ u. s. w. Wer von solchen Fragen nicht lassen kann, der steht im Grunde doch auf dem Boden der bürgerlichen Politik, für die das Entscheidende ist, dass sie ein Wirken über die Bedingungen dieses Staates der kapitalistischen Gesellschaft hinaus gar nicht kennt und vorzustellen vermag. Es ist daher auch charakteristisch, dass es zumeist bürgerliche Politiker sind, die nun in der Oeffentlichkeit von einer Schwächung des politischen Fortschrittes orakeln und den Argumenten der Revisionisten zu Hilfe kommen. Als ob es der bürgerliche Fortschritt und Freisinn ist oder die bürgerliche Demokratie, und sei sie noch so echt und stramm, welcher die Sozialdemokratie überhaupt ein solches Interesse entgegenbringen könnte, dass sie darüber ihre Ziele zurücksetzen dürfte oder auch nur die Möglichkeit einer Verschleierung derselben bei den Massen ihrer Anhänger riskieren dürfte 1 Immer wird meines Erachtens das zum Schiboleth der bürgerlichen und proletarischen Politik werden, nicht bloss, wie auf dem Parteitag von Frank gesagt wurde, alles zu tun, was den Aufstieg der Arbeiterklasse zur politischen Macht fördert, – denn dies kann schliesslich auch ein bürgerlicher Demokrat wollen, da die politische Macht der Arbeiterklasse eine Ausgleichung mit jener der anderen Klassen im Staate an und für sich noch durchaus nicht ausschliesst. Sondern alles dazuzutun, respektive bei jeder politischen Aktion im Vordergrund des Bewusstseins zu haben, dass es endlich ein Aufhören mit dem schrecklichen Kulturwiderspruch einer Arbeiterklasse habe und zu diesem Ende mit jeder Form des bürgerlichen Staates in einem unüberbrückbaren Gegensätze zu leben, – das ist der Geist der proletarischen Politik. Und wenn Genosse Frank sowie die meisten Revisionisten gewiss sagen werden, dass sie selbstverständlich dieser Auffassung zustimmen, da sie sonst ja nicht Sozialdemokraten wären, so liegt der ganze Unterschied hier wie in anderen prinzipiellen Punkten eben nur darin, dass der Revisionismus zwar dieser Ansicht, aber nicht dieses Geistes ist. Er wünscht die politische Macht der Arbeiterklasse schliesslich nicht anders, wie eben jede politische Partei Macht zu gewinnen strebt. Es fehlt das Distanzgefühl zu dem politischen Kampf des bürgerlichen Staatslebens, in den wir nur notgedrungen, vielleicht allzuviel, hinabsteigen. Die Gegenwart mit ihren staatlichen und wirtschaftlichen Problemen erfüllt allzusehr den Zukunftsblick einer solchen Politik, statt dass die grosse sozialistische Zukunft sie diese Gegenwart zwar sicher nicht übersehen liesse, aber sie doch empfänglicher machte für den Hauch der Vergangenheit, der bereits aus allen ihren überkommenen Elementen aufsteigt, aus ihren überlebten Regierungsformen, ihren traditionellen Kulturidealen, ihren erstarrten religiösen Ideen, ja sogar aus ihrem stets mehr verarmenden täglichen Leben im Familien- und gesellschaftlichen Verkehr.

So glaube ich wird der Sinn der Budgetbewilligungsdebatte in Magdeburg allein in seiner – ich möchte sagen – parteipädagogischen Bedeutung, in seinem evolutionistischen Werte gefasst, wenn man sich losmacht von der Anschauung, dass der eigentliche Kern des Streites die Budgetbewilligung als solche oder gar nur die Disziplin gewesen sei. Das hiesse beim Aeusseren und Oberflächlichen stehen bleiben. Nicht einen blossen Disziplinbruch galt es abzuwehren, sondern einen Akt geistiger und moralischer Selbsterhaltung der Partei zu setzen. Denn es ist schon oft gesagt worden, kann aber nicht stark genug betont werden: die parlamentarische Verweigerung des Budgets ist nur ein Ausdruck, nur ein Symbol für den vom Staate und von der bürgerlichen Gesellschäft wegführenden Charakter der proletarischen Politik. Er ist ein Ausdruck in einer für die Massen besonders sinnfälligen Form, weil gerade dort vorgebracht, wo er der Aufmerksamkeit der vollen Oeffentlichkeit sicher ist, und wo der Wille des Volkes gleichsam verkörpert hart auf den der Herrschenden stösst. Diesem herrschenden Geist gegenüber, dem Willen zum Staate, das heisst aber zur Fortdauer der Klassenherrschaft, der Arbeiterfron, der Subalternisierung des grösseren Teiles der Staatsbürger allem dem entgegen tritt das schroffe Nein des Proletariats, tritt der hinter aller Mitarbeit im Staate immer wache und sprungbereite Wille zur Beseitigung dieses Staates – je eher, je besser. Man unterschätze nicht die Bedeutung dieser Willensenunziation, auch wenn sie nichts anderes ist, als eine „leere Demonstration“. Die Leerheit dieser Demonstration wird reichlich erfüllt durch die Kraft der revolutionären Bereitschaft in den Massen, von der man nicht glauben darf, dass man sie sonst ohneweiters stets hervorrufen könnte. Nur vom Standpunkt des reinen Parlamentariers in der Partei konnte man dazu gelangen, gering von diesen „Demonstrationen“ zu denken. Aber wichtiger als die Widerspruchslosigkeit und – Bequemlichkeit des parlamentarischen Standpunktes ist die Unverwirrtheit und Gradlinigkeit des proletarischen Massengeistes. Und ein Proletariat, das mit dem Staat in klassenbewusster Weise unversöhnlich ist, wird der Bewegung der Partei noch immer nötiger sein als parlamentarische Fraktionen, die mit den Parteien dieses selben Staates versöhnlich geworden sind. Zuletzt – wenn die Verweigerung des Budgets wirklich ein solcher parlamentarischer Widerspruch wäre, wie sie es sicher nicht ist, – denn kann ich nicht zum Beispiel als angestellter Ingenieur an der Vervollkommnung von Waffen arbeiten müssen, obgleich ich den Krieg verwerfe? – wenn selbst die Budgetverweigerung ein parlamentarischer Widerspruch wäre, müsste er dann auch ein proletarischer Widerspruch sein? Wäre er nicht viel mehr geeignet, den Widerspruch unseres staatlichen Lebens überhaupt recht krass hervortreten zu lassen, wenn sich zeigte, dass das Volk – und das ist die Sozialdemokratie – selbst im Vollbesitze politischer Rechte heute noch gar keine verfassungsmässigen Möglichkeiten hat, seinen Willen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, weil dieser im Grunde ja die wirtschaftliche und nicht die politische Verfassung stürzen will.

Und damit rührt die ganze Frage der Budgetbewilligung an ein viel tieferes Problem, von dem sie nur ein Teil ist, an das Problem von der Bedeutung des Parlamentarismus für unsere Bewegung überhaupt, von seinem Wert und seinen Grenzen. Insofern bleibt die Frage noch offen, ob die Budgetverweigerung ein richtiges und zweckdienliches Mittel ist für das, was sie bezeichnen soll: die Intransigenz der Sozialdemokratie gegenüber dem Staate. Nur dass dann diese Intransigenz selbst überhaupt nicht mehr zweifelhaft werden kann. Wird also die Frage aufgeworfen, ob die Sozialdemokratie am Ende nicht einen zu grossen Wert auf die Arbeit in den Parlamenten legt und auf ihre Bemühung um die Arbeitsfähigkeit notleidend gewordener Vertretungskörper, wird zur Debatte gestellt, ob sich der Schwerpunkt des Parteibewusstseins vielleicht nicht allzusehr von den Massen weg zu ihren Fraktionen verschoben habe, eine vielleicht im sozialen Leben ebenso unnatürliche wie in der Physik unmögliche Erscheinung, wird gefragt, ob die Partei durch ihre gewerkschaftliche, genossenschaftliche und bildungvermittelnde Organisation nicht vielleicht eine grössere gesellschaftliche Macht ansammelt, die sie gegebenenfalls in unmittelbare politische Aktion umsetzen kann, wenn sie die revolutionäre Organisierung der Massen nicht vergisst – so ist die Diskussion über die Frage der Budgetbewilligung nunmehr auf einen ganz anderen als den rein politischen, ich möchte sagen klubmässigen, Boden gestellt, von dem aus, wie immer die Antwort ausfallen mag, doch jedenfalls unmöglich sein wird, über der Politik den Sozialismus zu übergehen. Dann erst wird man vielleicht sagen dürfen, dass die Frage der Budgetbewilligung bloss eine Sache der Taktik sei. Dass der Magdeburger Parteitag aber entgegen den Versicherungen der Allesvermittler in dieser Sache heute noch keine „blosse Frage der Taktik“ gesehen hat, sondern mit dem Mute der Selbstgewissheit das Prinzipielle in ihr herausgegriffen und festgestellt hat, das werden alle Genossen ihm mit freudigem Danke gedenken, und nicht zuletzt die Ueberstimmten, geht es erst einmal fest an den Feind.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024